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Julie Braasch
(19. Jh.)
Die Rache der Nixe
Am Flussesufer sitzet
Ein Mädchen, erwartungsreich;
Auf rauschender Welle blitzet
Das Mondlicht so silbergleich.
Ihr Liebster kehrte wieder
Zur Heimath heute zurück.
Sie singt die alten Lieder,
Sie hofft auf das alte Glück.
Im Schatten grünender Linden
Dort ist ein Plätzchen so traut,
Dort soll er wiederfinden
Die treue, harrende Braut.
Sein Nachen naht, Entzücken!
Wie schlägt ihr Puls so warm.
Doch weh! was muß sie erblicken?
Ein Mädchen hält er im Arm!
Es will das Herz ihr brechen,
O, rief sie, wie war ich bethört!
Du, Nixe, wirst mich rächen,
die seine Schwüre gehört.
Da tönt durch's Wogenrauschen
Ein leiser lieblicher Klang,
Sie beugt sich hinab zu lauschen,
Ihr wird so wohl, so bang.
Es ist ihr, als ob es riefe:
Hier unten findest du Ruh!
Sie sinkt hinab in die Tiefe,
Die Wogen decken sie zu.
Es führte zu heimischen Räumen
Sein Liebchen der treulose Mann,
Jetzt steuert er nach den Bäumen
Und hält den Nachen an.
Er gleitet vom Ufer nieder,
Der Kahn treibt auf der Fluth,
Gelähmt sind seine Glieder,
Entschwunden Kraft und Muth.
Er kann das Land nicht erreichen.
Man fand im Weidengeflecht
Am Morgen die beiden Leichen.
Die Nixe hat sie gerächt.
Aus: Deutschlands
Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o. J. [1895] (S. 49)
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