|
Karl Egon Ebert
(1801-1882)
Die Lilie und der Mondstrahl
Der Mond hängt in die düstre Nacht
Recht silberklar herein,
Und sendet seiner Strahlen Pracht
Dem Strome und dem Hain.
Da richtet sich aus süßem Traum
Die Lilie still empor,
Und öffnet ihres Kelches Raum
Und läßt den Duft hervor.
Und flugs in die erschloss'ne Brust
Schwingt sich der leichte Strahl,
Und schmiegt sich an in sel'ger Lust,
Und küßt sie tausendmal.
Sie aber schließt erfreut sich schnell,
Und hält den Buhlen fest,
Der, in der hellen zwiefach hell,
Von ihr sich wiegen läßt.
Und Morgens, wenn die Schäferin
Die thau'ge Lilie pflückt,
Und sie mit frommem Kindersinn
An ihren Busen drückt:
Da wird, wenn sich der Kelch erschließt,
Ihr wundersam zu Muth,
Und unbekannte Sehnsucht fließt
Durch ihr erglühtes Blut.
Und seufzend wallt sie durch das Thal
In jeder lauen Nacht -
Sagt, hat das wohl der Mondenstrahl
Im Lilienkelch gemacht?
Aus: Gedichte von
Karl Egon Ebert
Vollständige Ausgabe in drei Büchern
in dritter stark vermehrter Auflage
Stuttgart und Tübingen
J. G. Cotta'scher Verlag 1845 (S. 28-29)
_______
|