Liebes-Balladen, Romanzen u. ä.

 

Frederic Leighton Der Fischer und die Sirene um 1856-58


 

Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)


Inhaltsverzeichnis der Balladen:
 





Pygmalion
Eine Romanze

Es war einmal ein Hagenstolz,
Der hieß Pygmalion;
Er machte manches Bild von Holz,
Von Marmor und von Ton.

Und dieses war sein Zeitvertreib
Und alle seine Lust.
Kein junges, schönes, sanftes Weib
Erwärmte seine Brust.

Denn er war klug und furchte sehr
Der Hörner schwer Gewicht;
Denn schon seit vielen Jahren her
Traut man den Weibern nicht.

Doch es sei einer noch so wild,
Gern wird er Mädchen sehn.
Drum macht´ er sich gar manches Bild
Von Mädchen jung und schön.

Einst hatt er sich ein Bild gemacht,
Es staunte, wer es sah;
Es stand in aller Schönheit Pracht
Ein junges Mädchen da.

Sie schien belebt, und weich, und warm,
War nur von kaltem Stein;
Die hohe Brust, der weiße Arm
Lud zur Umarmung ein.

Das Auge war emporgewandt,
Halb auf zum Kuß der Mund.
Er sah das Werk von seiner Hand,
Und Amor schoß ihn wund.

Er war von Liebe ganz erfüllt,
Und was die Liebe tut!
Er geht, umarmt das kalte Bild,
Umarmet es mit Glut.

Da trat ein guter Freund herein,
Und sah dem Narren zu,
Sprach: Du umarmest harten Stein,
O welch ein Tor bist du!

Ich kauft ein schönes Mädchen mir
Willst du, ich geb dir sie?
Und sie gefällt gewißlich dir
Weit besser, als wie die.

Sag, ob du es zufrieden bist -
Er sah es nun wohl ein,
Ein Mädchen, das lebendig ist,
Sei besser als von Stein.

Er spricht zu seinem Freunde: Ja.
Der geht und holt sie her.
Er glühte schon, eh er sie sah,
Jetzt glüht er zweimal mehr.

Er atmet tief, sein Herze schlug
Er eilt, und ohne Trau
Nimmt er - man ist nicht immer klug-
Nimmt er sie sich zur Frau.

Flieht, Freunde, ja die Liebe nicht,
Denn niemand flieht ihr Reich:
Und wenn euch Amor einmal kriegt,
Dann ist es aus mit euch.

Wer wild ist, alle Mädchen flieht,
Sich unempfindlich glaubt,
Dem ist, wenn er ein Mädchen sieht,
Das Herze gleich geraubt.

Drum seht oft Mädchen, küsset sie,
Und liebt sie auch wohl gar;
Gewöhnt euch dran, und werdet nie
Ein Tor, wie jener war.

Nun, lieben Freunde, merkt euch dies,
Und folget mir genau;
Sonst straft euch Amor ganz gewiß,
Und gibt euch eine Frau.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 39-41)
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Der Fischer

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht
Teilt sich die Flut empor;
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund!

Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ewgen Tau?

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da wars um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
Und ward nicht mehr gesehn.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 223-224)
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Alexis und Dora

Ach! unaufhaltsam strebet das Schiff mit jedem Momente
Durch die schäumende Flut weiter und weiter hinaus!
Langhin furcht sich die Gleise des Kiels, worin die Delphine
Springend folgen, als flöh ihnen die Beute davon.
Alles deutet auf glückliche Fahrt: der ruhige Bootsmann
Ruckt am Segel gelind, das sich für alle bemüht;
Vorwärts dringt der Schiffenden Geist,wie Flaggen und Wimpel;
Einer nur steht rückwärts traurig gewendet am Mast,
Sieht die Berge schon blau, die scheidenden, sieht in das Meer sie
Niedersinken, es sinkt jegliche Freude vor ihm.
Auch dir ist es verschwunden, das Schiff, das deinen Alexis,
Die, o Dora, den Freund, ach! dir den Bräutigam raubt.
Auch du blickest vergebens nach mir. Noch schlagen die Herzen
Füreinander, doch ach! nun aneinander nicht mehr.
Einziger Augenblick, in welchem ich lebte! du wiegest
Alle Tage, die sonst kalt mir verschwindenden, auf.
Ach! nur im Augenblick, im letzten, stieg mir ein Leben
Unvermutet in dir, wie von den Göttern, herab.
Nur umsonst verklärst du mit deinem Lichte den Äther;
Dein all-leuchtender Tag, Phöbus, mir ist er verhaßt.
In mich selber kehr ich zurück; da will ich im stillen
Wiederholen die Zeit, als sie mir täglich erschien.
War es möglich, die Schönheit zu sehn und nicht zu empfinden?
Wirkte der himmlische Reiz nicht auf dein stumpfes Gemüt?
Klage dich, Armer, nicht an! - So legt der Dichter ein Rätsel,
Künstlich mit Worten verschränkt, oft der Versammlung ins Ohr:
Jeden freuet die seltne, der zierlichen Bilder Verknüpfung,
Aber noch fehlet das Wort, das die Bedeutung verwahrt;
Ist es endlich entdeckt, dann heitert sich jedes Gemüt auf
Und erblickt im Gedicht doppelt erfreulichen Sinn.
Ach, warum so spät, o Amor, nahmst du die Binde,
Die du ums Aug mir geknüpft, nahmst sie zu spät mir hinweg!
Lange schon harrte befrachtet das Schiff auf günstige Lüfte;
Endlich strebte der Wind glücklich vom Ufer ins Meer.
Leere Zeiten der Jugend! und leere Träume der Zukunft!
Ihr verschwindet, es bleibt einzig die Stunde mir nur.
Ja, sie bleibt, es bleibt mir das Glück! ich halte dich, Dora!
Und die Hoffnung zeigt, Dora, dein Bild mir allein.
Öfter sah ich zum Tempel dich gehn, geschmückt und gesittet,
Und das Mütterchen ging feierlich neben dir her.
Eilig warst du und frisch, zu Markte die Früchte zu tragen,
Und vom Brunnen, wie kühn! wiegte dein Haupt das Gefäß.
Da erschien dein Hals, erschien dein Nacken vor allen,
Und vor allen erschien deiner Bewegungen Maß.
Oftmals hab ich gesorgt, es möchte der Krug dir entstürzen,
Doch er hielt sich stet auf dem geringelten Tuch.
Schöne Nachbarin, ja, so war ich gewohnt, dich zu sehen,
Wie man die Sterne sieht, wie man den Mond sich beschaut,
Sich an ihnen erfreut, und innen im ruhigen Busen
Nicht der entfernteste Wunsch, sie zu besitzen, sich regt.
Jahre, so gingt ihr dahin! Nur zwanzig Schritte getrennet
Waren die Häuser, und nie hab ich die Schwelle berührt.
Und nun trennt uns die gräßliche Flut! Du lügst nur den Himmel,
Welle! dein herrliches Blau ist mir die Farbe der Nacht.
Alles rührte sich schon; da kam ein Knabe gelaufen
An mein väterlich Haus, rief mich zum Strande hinab:
Schon erhebt sich das Segel, es flattert im Winde, so sprach er,
Und gelichtet, mit Kraft, trennt sich der Anker vom Sand;
Komm, Alexis, o komm! Da drückte der wackere Vater,
Würdig die segnende Hand mir auf das lockige Haupt.
Sorglich reichte die Mutter ein nachbereitetes Bündel:
Glücklich kehre zurück! riefen sie, glücklich und reich!
Und so sprang ich hinweg, das Bündelchen unter dem Arme,
An der Mauer hinab, fand an der Türe dich stehn
Deines Gartens. Du lächeltest mir und sagtest : Alexis!
Sind die Lärmenden dort deine Gesellen der Fahrt?
Fremde Küsten besuchest du nun, und köstliche Waren
Handelst du ein, und Schmuck reichen Matronen der Stadt.
Aber bringe mir auch ein leichtes Kettchen; ich will es
Dankbar zahlen: so oft hab ich die Zierde gewünscht!
Stehen war ich geblieben und fragte, nachWeise des Kaufmanns,
Erst nach Form und Gewicht deiner Bestellung genau.
Gar bescheiden erwogst du den Preis! da blickt ich indessen
Nach dem Halse, des Schmucks unserer Königin wert.
Heftiger tönte vom Schiff das Geschrei; da sagtest du freundlich:
Nimm aus dem Garten noch einige Früchte mit dir!
Nimm die reifsten Orangen, die weißen Feigen; das Meer bringt
Keine Früchte, sie bringt jegliches Land nicht hervor.
Und so trat ich herein. Du brachst nun die Früchte geschäftig,
Und die goldene Last zog das geschürzte Gewand.
Öfters bat ich: es sei nun genug! und immer noch eine
Schönere Frucht fiel dir, leise berührt, in die Hand.
Endlich kamst du zur Laube hinan; da fand sich ein Körbchen,
Und die Myrte bog blühend sich über uns hin.
Schweigend begannest du nun geschickt die Früchte zu ordnen:
Erst die Orange, die schwer ruht, als ein goldener Ball,
Dann die weichliche Feige, die jeder Druck schon entstellet;
Und mit Myrte bedeckt ward und geziert das Geschenk.
Aber ich hob es nicht auf; ich stand. Wir sahen einander
In die Augen, und mir ward vor dem Auge so trüb.
Deinen Busen fühlt ich an meinem! Den herrlichen Nacken,
Ihn umschlang nun mein Arm, tausendmal küßt ich den Hals;
Mir sank über die Schulter dein Haupt, nun knüpften auch deine
Lieblichen Arme das Band um den Beglückten herum.
Amors Hände fühlt ich: er drückt' uns gewaltig zusammen,
Und aus heiterer Luft donnert' es dreimal; da floß
Häufig die Träne vom Aug mir herab, du weintest, ich weinte,
Und vor Jammer und Glück schien uns die Welt zu vergehn.
Immer heftiger rief es am Strand; da wollten die Füße
Mich nicht tragen, ich rief: Dora! und bist du nicht mein?
Ewig ! sagtest du leise. Da schienen unsere Tränen,
Wie durch göttliche Luft, leise vom Auge gehaucht.
Näher rief es: Alexis! Da blickte der suchende Knabe
Durch die Türe herein. Wie er das Körbchen empfing!
Wie er mich trieb! Wie ich dir die Hand noch drückte! - Zu Schiffe
Wie ich gekommen? Ich weiß, daß ich ein Trunkener schien.
Und so hielten mich auch die Gesellen, schonten den Kranken;
Und schon deckte der Hauch trüber Entfernung die Stadt.
Ewig! Dora, lispeltest du; mir schallt es im Ohre
Mit dem Donner des Zeus! Stand sie doch neben dem Thron,
Seine Tochter, die Göttin der Liebe; die Grazien standen
Ihr zur Seiten! Er ist götterbekräftigt, der Bund!
O so eile denn, Schiff, mit allen günstigen Winden!
Strebe, mächtiger Kiel, trenne die schäumende Flut!
Bringe dem fremden Hafen mich zu, damit mir der Goldschmied
In der Werkstatt gleich ordne das himmlische Pfand.
Wahrlich! zur Kette soll das Kettchen werden, o Dora!
Neunmal umgebe sie dir, locker gewunden, den Hals!
Ferner schaff ich noch Schmuck, den mannigfaltigsten; goldne
Spangen sollen dir auch reichlich verzieren die Hand:
Da wetteifre Rubin und Smaragd, der liebliche Saphir
Stelle dem Hyazinth sich gegenüber, und Gold
Halte das Edelgestein in schöner Verbindung zusammen.
O wie den Bräutigam freut, einzig zu schmücken die Braut!
Seh ich Perlen, so denk ich an dich ; bei jeglichem Ringe
Kommt mir der länglichen Hand schönes Gebild in den Sinn.
Tauschen will ich und kaufen; du sollst das Schönste von allem
Wählen; ich widmete gern alle die Ladung nur dir.
Doch nicht Schmuck und Juwelen allein verschafft dein Geliebter:
Was ein häusliches Weib freuet, das bringt er dir auch.
Feine wollene Decken mit Purpursäumen, ein Lager
Zu bereiten, das uns traulich und weichlich empfängt;
Köstlicher Leinwand Stücke. Du sitzest und nähest und kleidest
Mich und dich und auch wohl noch ein Drittes darein.
Bilder der Hoffnung, täuschet mein Herz! O mäßiget, Götter,
Diesen gewaltigen Brand, der mir den Busen durchtobt!
Aber auch sie verlang ich zurück, die schmerzliche Freude,
Wenn die Sorge sich kalt, gräßlich gelassen, mir naht.
Nicht der Erinnyen Fackel, das Bellen der höllischen Hunde
Schreckt den Verbrecher so in der Verzweiflung Gefild,
Als das gelaßne Gespenst mich schreckt, das die Schöne von fern mir
Zeiget: die Türe steht wirklich des Gartens noch auf!
Und ein anderer kommt! Für ihn auch Fallen die Früchte!
Und die Feige gewährt stärkenden Honig auch ihm!
Lockt sie auch ihn nach der Laube? und folgt er? O macht mich, ihr Götter,
Blind, verwischet das Bild jeder Erinnrung in mir!
Ja, ein Mädchen ist sie! und die sich geschwinde dem einen
Gibt, sie kehret sich auch schnell zu dem andern herum.
Lache nicht diesmal, Zeus, der frech gebrochenen Schwüre!
Donnere schrecklicher! Triff! - Halte die Blitze zurück!
Sende die schwankenden Wolken mir nach! Im nächtlichen Dunkel
Treffe dein leuchtender Blitz diesen unglücklichen Mast!
Streue die Planken umher und gib der tobenden Welle
Diese Waren, und mich gib den Delphinen zum Raub!
Nun, ihr Musen, genug! Vergebens strebt ihr zu schildern,
Wie sich Jammer und Glück wechseln in liebender Brust.
Heilen könnet die Wunden ihr nicht, die Amor geschlagen;
Aber Linderung kommt einzig, ihr Guten, von euch.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 424-428)
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Der neue Pausias und sein Blumenmädchen


Pausias von Sicyon, der Maler, war als Jüngling in Glyceren, seine Mitbürgerin, verliebt, welche Blumenkränze zu winden einen sehr erfinderischen Geist hatte. Sie wetteiferten miteinander, und er brachte die Nachahmung der Blumen zur größten Mannigfaltigkeit. Endlich malte er seine Geliebte, sitzend, mit einem Kranze beschäftigt. Dieses Bild wurde für eins seiner besten gehalten und die Kranzwinderin oder Kranzhändlerin genannt, weil Glycere sich auf diese Weise als ein armes Mädchen ernährt hatte. Lucius Lucullus kaufte eine Kopie in Athen für zwei Talente. (Plinius, Historia naturalis xxxv, II.)



Sie
Schütte die Blumen nur her, zu meinen Füßen und deinen!
Welch ein chaotisches Bild holder Verwirrung du streust!

Er
Du erscheinest als Liebe, die Elemente zu knüpfen;
Wie du sie bindest, so wird nun erst ein Leben daraus.

Sie
Sanft berühre die Rose, sie bleib im Körbchen verborgen;
Wo ich dich finde, mein Freund, öffentlich reich ich sie dir.

Er
Und ich tu, als kennt ich dich nicht, und danke dir freundlich;
Aber dem Gegengeschenk weichet die Geberin aus.

Sie
Reiche die Hyazinthe mir nun, und reiche die Nelke,
Daß die frühe zugleich neben der späteren sei.

Er
Laß im blumigen Kreise zu deinen Füßen mich sitzen,
Und ich fülle den Schoß dir mit der lieblichen Schar.

Sie
Reiche den Faden mir erst; dann sollen die Gartenverwandten,
Die sich von ferne nur sahn, nebeneinander sich freun.

Er
Was bewundr ich zuerst? was zuletzt? die herrlichen Blumen?
Oder der Finger Geschick? oder der Wählerin Geist?

Sie
Gib auch Blätter, den Glanz der blendenden Blumen zu mildern:
Auch das Leben verlangt ruhige Blätter im Kranz.

Er
Sage, was wählst du so lange bei diesem Strauße? Gewiß ist
Dieser jemand geweiht, den du besonders bedenkst.

Sie
Hundert Sträuße verteil ich des Tags und Kränze die Menge;
Aber den schönsten doch bring ich am Abende dir.

Er
Ach! wie wäre der Maler beglückt, der diese Gewinde
Malte, das blumige Feld, ach! und die Göttin zuerst!

Sie
Aber doch mäßig beglückt ist der, mich dünkt, der am Boden
Hier sitzt, dem ich den Kuß reichend noch glücklicher bin.

Er
Ach, Geliebte, noch Einen! Die neidischen Lüfte des Morgens
Nahmen den ersten sogleich mir von den Lippen hinweg.

Sie
Wie der Frühling die Blumen mir gibt, so geb ich die Küsse
Gern dem Geliebten; und hier sei mit dem Kusse der Kranz!

Er
Hätt ich das hohe Talent des Pausias glücklich empfangen:
Nachzubilden den Kranz, wär ein Geschäfte des Tages!

Sie
Schön ist er wirklich. Sieh ihn nur an! Es wechseln die schönsten
Kinder Florens um ihn, bunt und gefällig, den Tanz.

Er
In die Kelche versenkt ich mich dann und erschöpfte den süßen
Zauber, den die Natur über die Kronen ergoß.

Sie
Und so fänd ich am Abend noch frisch den gebundenen Kranz hier;
Unverwelklich spräch uns von der Tafel er an.

Er
Ach, wie fühl ich mich arm und unvermögend! wie wünscht ich
Festzuhalten das Glück, das mir die Augen versengt!

Sie
Unzufriedener Mann! Du bist ein Dichter und neidest
Jenes Alten Talent? Brauche das deinige doch!

Er
Und erreicht wohl der Dichter den Schmelz der farbigen Blumen?
Neben deiner Gestalt bleibt nur ein Schatten sein Wort!

Sie
Aber vermag der Maler wohl auszudrücken: Ich liebe?
Nur dich lieb ich, mein Freund! lebe für dich nur allein!

Er
Ach! und der Dichter selbst vermag nicht zu sagen: Ich liebe!
Wie du, himmlisches Kind, süß mir es schmeichelst ins Ohr.

Sie
Viel vermögen sie beide; doch bleibt die Sprache des Kusses,
Mit der Sprache des Blicks, nur den Verliebten geschenkt.

Er
Du vereinigest alles; du dichtest und malest mit Blumen:
Florens Kinder sind dir Farben und Worte zugleich.

Sie
Nur ein vergängliches Werk entwindet der Hand sich des Mädchens
Jeden Morgen: die Pracht welkt vor dem Abende schon.

Er
Auch so geben die Götter vergängliche Gaben und locken
Mit erneutem Geschenk immer die Sterblichen an.

Sie
Hat dir doch kein Strauß, kein Kranz des Tages gefehlet,
Seit dem ersten, der dich mir so von Herzen verband.

Er
Ja, noch hängt er zu Hause, der erste Kranz, in der Kammer,
Welchen du mir, den Schmaus lieblich umwandelnd, gereicht.

Sie
Da ich den Becher dir kränzte, die Rosenknospe hineinfiel,
Und du trankest, und riefst: Mädchen, die Blumen sind Gift!

Er
Und dagegen du sagtest: Sie sind voll Honig, die Blumen;
Aber die Biene nur findet die Süßigkeit aus.

Sie
Und der rohe Timanth ergriff mich und sagte: Die Hummeln
Forschen des herrlichen Kelchs süße Geheimnisse wohl?

Er
Und du wandtest dich weg, und wolltest fliehen; es stürzten
Vor dem täppischen Mann Körbchen und Blumen hinab.

Sie
Und du riefst ihm gebietend: Das Mädchen laß nur! die Sträuße,
So wie das Mädchen selbst, sind für den feineren Sinn.

Er
Aber fester hielt er dich nur, es grinste der Lacher,
Und dein Kleid zerriß oben vom Nacken herab.

Sie
Und du warfst in begeisterter Wut den Becher hinüber,
Daß er am Schädel ihm, häßlich vergossen, erklang,

Er
Wein und Zorn verblendeten mich; doch sah ich den weißen
Nacken, die herrliche Brust, die du bedecktest, im Blick.

Sie
Welch ein Getümmel ward und ein Aufstand! Purpurn das Blut lief,
Mit dem Weine vermischt, greulich dem Gegner vom Haupt.

Er
Dich nur sah ich, nur dich am Boden knieend, verdrießlich;
Mit der einen Hand hieltst das Gewand du hinauf.

Sie
Ach, da flogen die Teller nach dir! Ich sorgte, den edeln
Fremdling träfe der Wurf kreisend geschwungnen Metalls.

Er
Und doch sah ich nur dich, wie rasch mit der anderen Hand du
Körbchen, Blumen und Kranz sammeltest unter dem Stuhl.

Sie
Schützend tratest du vor, daß nicht mich verletzte der Zufall,
Oder der zornige Wirt, weil ich das Mahl ihm gestört.

Er
Ja, ich erinnre mich noch; ich nahm den Teppich wie einer,
Der auf dem linken Arm gegen den Stier ihn bewegt.

Sie
Ruhe gebot der Wirt und sinnige Freunde. Da schlüpft ich
Sachte hinaus; nach dir wendet ich immer den Blick.

Er
Ach, du warst mir verschwunden! Vergebens sucht ich in allen
Winkeln des Hauses herum, sowie auf Straßen und Markt.

Sie
Schamhaft blieb ich verborgen. Das unbescholtene Mädchen,
Sonst von den Bürgern geliebt, war nun das Märchen des Tags.

Er
Blumen sah ich genug und Sträuße, Kränze die Menge;
Aber du fehltest mir, aber du fehltest der Stadt.

Sie
Stille saß ich zu Hause. Da blätterte los sich vom Zweige
Manche Rose, so auch dorrte die Nelke dahin.

Er
Mancher Jüngling sprach auf dem Platz: Da liegen die Blumen!
Aber die Liebliche fehlt, die sie verbände zum Kranz.

Sie
Kränze band ich indessen zu Haus, und ließ sie verwelken.
Siehst du? da hangen sie noch, neben dem Herde, für dich.

Er
Auch so welkte der Kranz, dein erstes Geschenk! Ich vergaß nicht
Ihn im Getümmel, ich hing neben dem Bett mir ihn auf.

Sie
Abends betrachtet ich mir die welkenden, saß noch und weinte
Bis in der dunkelen Nacht Farbe nach Farbe verlosch.

Er
Irrend ging ich umher und fragte nach deiner Behausung;
Keiner der Eitelsten selbst konnte mir geben Bescheid.

Sie
Keiner hat je mich besucht, und keiner weiß die entlegne
Wohnung; die Größe der Stadt birget die Ärmere leicht.

Er
Irrend lief ich umher und flehte zur spähenden Sonne:
Zeige mir, mächtiger Gott, wo du im Winkel ihr scheinst!

Sie
Große Götter hörten dich nicht; doch Penia hört' es.
Endlich trieb die Not nach dem Gewerbe mich aus.

Er
Trieb nicht noch dich ein anderer Gott, den Beschützer zu suchen?
Hatte nicht Amor für uns wechselnde Pfeile getauscht?

Sie
Spähend sucht ich dich auf bei vollem Markt, und ich sah dich!

Er
Und es hielt das Gedräng keines der Liebenden auf.

Sie
Schnell wir teilten das Volk, wir kamen zusammen, du standest,

Er
Und du standest vor mir, ja! und wir waren allein.

Sie
Mitten unter den Menschen! sie schienen nur Sträucher und Bäume,

Er
Und mir schien ihr Getös nur ein Geriesel des Quells.

Sie
Immer allein sind Liebende sich in der größten Versammlung;
Aber sind sie zu zwein, stellt auch der Dritte sich ein.

Er
Amor, ja! er schmückt sich mit diesen herrlichen Kränzen.
Schütte die Blumen nun doch fort, aus dem Schoße den Rest!

Sie
Nun, ich schüttle sie weg, die schönen. In deiner Umarmung,
Lieber, geht mir auch heut wieder die Sonne nur auf.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 435-443)
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Die Braut von Korinth

Nach Korinthus von Athen gezogen
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.
Einen Bürger hofft' er sich gewogen;
Beide Väter waren gastverwandt,
Hatte frühe schon
Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam voraus genannt.

Aber wird er auch willkommen scheinen,
Wenn er teuer nicht die Gunst erkauft?
Er ist noch ein Heide mit den Seinen,
Und sie sind schon Christen und getauft.
Keimt ein Glaube neu,
Wird oft Lieb und Treu
Wie ein böses Unkraut ausgerauft.

Und schon lag das ganze Haus im stillen,
Vater, Töchter, nur die Mutter wacht;
Sie empfängt den Gast mit bestem Willen,
Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht.
Wein und Essen prangt,
Eh er es verlangt:
So versorgend wünscht sie gute Nacht.

Aber bei dem wohlbestellten Essen
Wird die Lust der Speise nicht erregt;
Müdigkeit läßt Speis und Trank vergessen,
Daß er angekleidet sich aufs Bette legt;
Und er schlummert fast,
Als ein seltner Gast
Sich zur offnen Tür herein bewegt.

Denn er sieht, bei seiner Lampe Schimmer
Tritt, mit weißem Schleier und Gewand,
Sittsam still ein Mädchen in das Zimmer,
Um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band.
Wie sie ihn erblickt,
Hebt sie, die erschrickt,
Mit Erstaunen eine weiße Hand.

Bin ich, rief sie aus, so fremd im Hause,
Daß ich von dem Gaste nichts vernahm?
Ach, so hält man mich in meiner Klause!
Und nun überfällt mich hier die Scham.
Ruhe nur so fort
Auf dem Lager dort,
Und ich gehe schnell, so wie ich kam.

Bleibe, schönes Mädchen! ruft der Knabe,
Rafft von seinem Lager sich geschwind:
Hier ist Ceres', hier ist Bacchus' Gabe,
Und du bringst den Amor, liebes Kind!
Bist vor Schrecken blaß!
Liebe, komm und laß,
Laß uns sehn, wie froh die Götter sind.

Ferne bleib, o Jüngling! bleibe stehen;
Ich gehöre nicht den Freuden an.
Schon der letzte Schritt ist, ach? geschehen
Durch der guten Mutter kranken Wahn,
Die genesend schwur:
Jugend und Natur
Sei dem Himmel künftig untertan.

Und der alten Götter bunt Gewimmel
Hat sogleich das stille Haus geleert.
Unsichtbar wird Einer nur im Himmel,
Und ein Heiland wird am Kreuz verehrt;
Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört.

Und er fragt und wäget alle Worte,
Deren keines seinem Geist entgeht.
Ist es möglich, daß am stillen Orte
Die geliebte Braut hier vor mir steht?
Sei die Meine nur!
Unsrer Väter Schwur
Hat vom Himmel Segen uns erfleht.

Mich erhälst du nicht, du gute Seele!
Meiner zweiten Schwester gönnt man dich.
Wenn ich mich in stiller Klause quäle,
Ach! in ihren Armen denk an mich,
Die an dich nur denkt,
Die sich liebend kränkt;
In die Erde bald verbirgt sie sich.

Nein! bei dieser Flamme seis geschworen,
Gütig zeigt sie Hymen uns voraus;
Bist der Freude nicht und mir verloren,
Kommst mit mir in meines Vaters Haus.
Liebchen, bleibe hier!
Feire gleich mit mir
Unerwartet unsern Hochzeitschmaus.

Und schon wechseln sie der Treue Zeichen;
Golden reicht sie ihm die Kette dar,
Und er will ihr eine Schale reichen,
Silbern, künstlich, wie nicht eine war.
Die ist nicht für mich;
Doch, ich bitte dich,
Eine Locke gib von deinem Haar.

Eben schlug die dumpfe Geisterstunde,
Und nun schien es ihr erst wohl zu sein.
Gierig schlürfte sie mit blassem Munde
Nun den dunkel blutgefärbten Wein;
Doch vom Weizenbrot,
Das er freundlich bot,
Nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein.

Und dem Jüngling reichte sie die Schale,
Der, wie sie, nun hastig lüstern trank.
Liebe fordert er beim stillen Mahle;
Ach, sein armes Herz war liebekrank.
Doch sie widersteht,
Wie er immer fleht,
Bis er weinend auf das Bette sank.

Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder:
Ach, wie ungern seh ich dich gequält!
Aber, ach! berührst du meine Glieder,
Fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt.
Wie der Schnee so weiß,
Aber kalt wie Eis
Ist das Liebchen, das du dir erwählt.

Heftig faßt er sie mit starken Armen,
Von der Liebe Jugendkraft durchmannt:
Hoffe doch, bei mir noch zu erwarmen,
Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt!
Wechselhauch und Kuß!
Liebesüberfluß!
Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?

Liebe schließet fester sie zusammen,
Tränen mischen sich in ihre Lust;
Gierig saugt sie seines Mundes Flammen,
Eins ist nur im andern sich bewußt.
Seine Liebeswut
Wärmt ihr starres Blut,
Doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust.

Unterdessen schleichet auf dem Gange
Häuslich spät die Mutter noch vorbei,
Horchet an der Tür und horchet lange,
Welch ein sonderbarer Ton es sei:
Klag- und Wonnelaut
Bräutigams und Braut,
Und des Liebestammelns Raserei.

Unbeweglich bleibt sie an der Türe,
Weil sie erst sich überzeugen muß,
Und sie hört die höchsten Liebesschwüre,
Lieb und Schmeichelworte, mit Verdruß -
Still! der Hahn erwacht! -
Aber morgen Nacht
Bist du wieder da? - und Kuß auf Kuß.

Länger hält die Mutter nicht das Zürnen,
Öffnet das bekannte Schloß geschwind: -
Gibt es hier im Hause solche Dirnen,
Die dem Fremden gleich zu Willen sind? -
So zur Tür hinein.
Bei der Lampe Schein
Sieht sie - Gott! sie sieht ihr eigen Kind.

Und der Jüngling will im ersten Schrecken
Mit des Mädchens eignem Schleierflor,
Mit dem Teppich die Geliebte decken;
Doch sie windet gleich sich selbst hervor.
Wie mit Geists Gewalt
Hebet die Gestalt
Lang und langsam sich im Bett empor.

Mutter! Mutter! spricht sie hohle Worte,
So mißgönnt Ihr mir die schöne Nacht!
Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte.
Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht?
Ists Euch nicht genug,
Daß ins Leichentuch,
Daß Ihr früh mich in das Grab gebracht?

Aber aus der schwerbedeckten Enge
Treibet mich ein eigenes Gericht.
Eurer Priester summende Gesänge
Und ihr Segen haben kein Gewicht;
Salz und Wasser kühlt
Nicht, wo Jugend fühlt;
Ach! die Erde kühlt die Liebe nicht.

Dieser Jüngling war mir erst versprochen,
Als noch Venus' heitrer Tempel stand.
Mutter, habt Ihr doch das Wort gebrochen,
Weil ein fremd, ein falsch Gelübd Euch band!
Doch kein Gott erhört,
Wenn die Mutter schwört,
Zu versagen ihrer Tochter Hand.

Aus dem Grabe werd ich ausgetrieben,
Noch zu suchen das vermißte Gut,
Noch den schon verlornen Mann zu lieben
Und zu saugen seines Herzens Blut.
Ists um den geschehn,
Muß nach andern gehn,
Und das junge Volk erliegt der Wut.

Schöner Jüngling! kannst nicht länger leben;
Du versiechest nun an diesem Ort.
Meine Kette hab ich dir gegeben;
Deine Locke nehm ich mit mir fort.
Sieh sie an genau!
Morgen bist du grau,
Und nur braun erscheinst du wie der dort.

Höre, Mutter, nun die letzte Bitte:
Einen Scheiterhaufen schichte du;
Öffne meine bange kleine Hütte,
Bring in Flammen Liebende zur Ruh!
Wenn der Funke sprüht,
Wenn die Asche glüht,
Eilen wir den alten Göttern zu.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 447-453)
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Der Gott und die Bajadere
Indische Legende

Mahadöh, der Herr der Erde,
Kommt herab zum sechsten Mal,
Daß er unsersgleichen werde,
Mit zu fühlen Freud und Qual.
Er bequemt sich, hier zu wohnen,
Läßt sich alles selbst geschehn.

Soll er strafen oder schonen,
Muß er Menschen menschlich sehn.
Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
Die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
Verläßt er sie abends, um weiter zu gehn.
Als er nun hinausgegangen,
Wo die letzten Häuser sind,
Sieht er, mit gemalten Wangen,
Ein verlornes schönes Kind.
Grüß dich, Jungfrau! - Dank der Ehre!
Wart, ich komme gleich hinaus -
Und wer bist du? - Bajadere,
Und dies ist der Liebe Haus.
Sie rührt sich, die Zimbeln zum Tanze zu schlagen,
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.

Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
Lebhaft ihn ins Haus hinein.
Schöner Fremdling, lampenhelle
Soll sogleich die Hütte sein.
Bist du müd, ich will dich laben,
Lindern deiner Füße Schmerz.
Was du willst, das sollst du haben,
Ruhe, Freuden oder Scherz.
Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden
Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

Und er fordert Sklavendienste;
Immer heitrer wird sie nur,
Und des Mädchens frühe Künste
Werden nach und nach Natur.
Und so stellet auf die Blüte
Bald und bald die Frucht sich ein;
Ist Gehorsam im Gemüte,
Wird nicht fern die Liebe sein.

Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,
Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

Und er küßt die bunten Wangen
Und sie fühlt der Liebe Qual,
Und das Mädchen steht gefangen,
Und sie weint zum erstenmal;
Sinkt zu seinen Füßen nieder,
Nicht um Wollust noch Gewinst,
Ach? und die gelenken Glieder,
Sie versagen allen Dienst.
Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
Bereiten den dunklen behaglichen Schleier
Die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.

Spät entschlummert unter Scherzen,
Früh erwacht nach kurzer Rast,
Findet sie an ihrem Herzen
Tot den vielgeliebten Gast.
Schreiend stürzt sie auf ihn nieder,
Aber nicht erweckt sie ihn;
Und man trägt die starren Glieder
Bald zur Flammengrube hin.
Sie höret die Priester, die Totengesänge,
Sie raset und rennet und teilet die Menge.
Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?

Bei der Bahre stürzt sie nieder,
Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
Meinen Gatten will ich wieder!
Und ich such ihn in der Gruft.
Soll zu Asche mir zerfallen
Dieser Glieder Götterpracht?
Mein! er war es, mein vor allen!
Ach, nur Eine süße Nacht!
Es singen die Priester: Wir tragen die Alten,
Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
Wir tragen die Jugend, noch eh sies gedacht.

Höre deiner Priester Lehre:
Dieser war dein Gatte nicht.
Lebst du doch als Bajadere,
Und so hast du keine Pflicht.
Nur dem Körper folgt der Schatten
In das stille Totenreich;
Nur die Gattin folgt dem Gatten:
Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.
Ertöne, Drommete, zu heiliger Klage!
O nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,
O nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!

So das Chor, das ohn Erbarmen
Mehret ihres Herzens Not;
Und mit ausgestreckten Armen
Springt sie in den heißen Tod.
Doch der Götter Jüngling hebet
Aus der Flamme sich empor,
Und in seinen Armen schwebet
Die Geliebte mit hervor.
Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünde
Unsterbliche heben verlorene Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 453-456)
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Der Müllerin Verrat
Nachdichtung einer französischen Romanze

Woher der Freund so früh und schnelle,
Da kaum der Tag im Osten graut?
Hat er sich in der Waldkapelle,
So kalt und frisch es ist, erbaut?
Es starret ihm der Bach entgegen;
Mag er mit Willen barfuß gehn?
Was flucht er seinen Morgensegen
Durch die beschneiten wilden Höhn?

Ach, wohl! Er kommt vom warmen Bette
Wo er sich andern Spaß versprach;
Und wenn er nicht den Mantel hätte,
Wie schrecklich wäre seine Schmach!
Es hat ihn jener Schalk betrogen
Und ihm den Bündel abgepackt;
Der arme Freund ist ausgezogen
Und fast, wie Adam, bloß und nackt.

Warum auch schlich er diese Wege
Nach einem solchen Äpfelpaar,
Das freilich schön im Mühlgehege,
So wie im Paradiese, war.
Er wird den Scherz nicht leicht erneuen;
Er drückte schnell sich aus dem Haus
Und bricht auf einmal nun, im Freien,
In bittre laute Klagen aus:

»Ich las in ihren Feuerblicken
Nicht eine Silbe von Verrat;
Sie schien mit mir sich zu entzücken
Und sann auf solche schwarze Tat!
Konnt ich in ihren Armen träumen,
Wie meuchlerisch der Busen schlug?
Sie hieß den holden Amor säumen,
Und günstig war es uns genug.

»Sich meiner Liebe zu erfreuen!
Der Nacht, die nie ein Ende nahm!
Und erst die Mutter anzuschreien,
Nun eben als der Morgen kam!
Da drang ein Dutzend Anverwandten
Herein, ein wahrer Menschenstrom;
Da kamen Vettern, guckten Tanten,
Es kam ein Bruder und ein Ohm.

»Das war ein Toben, war ein Wüten!
Ein jeder schien ein andres Tier.
Sie forderten des Mädchens Blüten
Mit schrecklichem Geschrei von mir.-
Was dringt ihr alle wie von Sinnen
Auf den unschuldgen Jüngling ein?
Denn solche Schätze zu gewinnen,
Da muß man viel behender sein.

»Weiß Amor seinem schönen Spiele
Doch immer zeitig nachzugehn.
Er läßt fürwahr nicht in der Mühle
Die Blumen sechzehn Jahre stehn.-
Sie raubten nun das Kleiderbündel,
Und wollten auch den Mantel noch.
Wie nur so viel verflucht Gesindel
Im engen Hause sich verkroch!

»Nun sprang ich auf und tobt und fluchte,
Gewiß, durch alle durchzugehn.
Ich sah noch einmal die Verruchte,
Und ach! sie war noch immer schön.
Sie alle wichen meinem Grimme;
Es flog noch manches wilde Wort;
Da macht ich mich, mit Donnerstimme,
Noch endlich aus der Höhle fort.

»Man soll euch Mädchen auf dem Lande
Wie Mädchen aus den Städten fliehn.
So lasset doch den Fraun von Stande
Die Lust, die Diener auszuziehn!
Doch seid ihr auch von den Geübten
Und kennt ihr keine zarte Pflicht,
So ändert immer die Geliebten,
Doch sie verraten müßt ihr nicht.«

So singt er in der Winterstunde,
Wo nicht ein armes Hälmchen grünt.
Ich lache seiner tiefen Wunde;
Denn wirklich ist sie wohlverdient.
So geh es jedem, der am Tage
Sein edles Liebchen frisch betriegt
Und nachts, mit allzu kühner Wage,
Zu Amors falscher Mühle kriecht.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 500-502)
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Das Tagebuch
- aliam tenui, sed iam quum gaudia adirem,
Admonuit dominae deseruitque Venus.
[Tibull I, 5. v. 39. 40]

Wir hörens oft und glaubens wohl am Ende:
Das Menschenherz sei ewig unergründlich,
Und wie man auch sich hin und wider wende,
So sei der Christe wie der Heide sündlich.
Das Beste bleibt, wir geben uns die Hände
Und nehmens mit der Lehre nicht empfindlich;
Denn zeigt sich auch ein Dämon, uns versuchend,
So waltet was, gerettet ist die Tugend.

Von meiner Trauten lange Zeit entfernet,
Wie's öfters geht, nach irdischem Gewinne,
Und was ich auch gewonnen und gelernet,
So hatt ich doch nur immer Sie im Sinne;
Und wie zu Nacht der Himmel erst sich sternet,
Erinnrung uns umleuchtet ferner Minne:
So ward im Federzug des Tags Ereignis
Mit süßen Worten ihr ein freundlich Gleichnis.

Ich eilte nun zurück. Zerbrochen sollte
Mein Wagen mich noch eine Nacht verspäten;
Schon dacht ich mich, wie ich zu Hause rollte,
Allein da war Geduld und Werk vonnöten.
Und wie ich auch mit Schmied und Wagner tollte,
Sie hämmerten, verschmähten, viel zu reden.
Ein jedes Handwerk hat nun seine Schnurren,
Was blieb mir nun? Zu weilen und zu murren.

So stand ich nun. Der Stern des nächsten Schildes
Berief mich hin, die Wohnung schien erträglich.
Ein Mädchen kam, des seltensten Gebildes,
Das Licht erleuchtend. Mir ward gleich behäglich.
Hausflur und Treppe sah ich als ein Mildes,
Die Zimmerchen erfreuten mich unsäglich.
Den sündigen Menschen, der im Freien schwebet -
Die Schönheit spinnt, sie ists, die ihn umwebet.

Nun setzt ich mich zu meiner Tasch und Briefen
Und meines Tagebuchs Genauigkeiten,
Um so wie sonst, wenn alle Menschen schliefen,
Mir und der Trauten Freude zu bereiten;
Doch weiß ich nicht, die Tintenworte liefen
Nicht so wie sonst in alle Kleinigkeiten:
Das Mädchen kam, des Abendessens Bürde
Verteilte sie gewandt mit Gruß und Würde.

Sie geht und kommt; ich spreche, sie erwidert;
Mit jedem Wort erscheint sie mir geschmückter.
Und wie sie leicht mir nun das Huhn zergliedert,
Bewegend Hand und Arm, geschickt, geschickter -
Was auch das tolle Zeug in uns befiedert -
Genug, ich bin verworrner, bin verrückter,
Den Stuhl umwerfend, spring ich auf und fasse
Das schöne Kind; sie lispelt: »Lasse, lasse!

Die Muhme drunten lauscht, ein alter Drache,
Sie zählt bedächtig des Geschäfts Minute;
Sie denkt sich unten, was ich oben mache,
Bei jedem Zögern schwenkt sie frisch die Rute.
Doch schließe drine Türe nicht und wache,
So kommt die Mitternacht uns wohl zugute.«
Rasch meinem Arm entwindet sie die Glieder,
Und eilet fort und kommt nur dienend wieder;

Doch blickend auch! So daß aus jedem Blicke
Sich himmlisches Versprechen mir entfaltet.
Den stillen Seufzer drängt sie nicht zurücke,
Der ihren Busen herrlicher gestaltet.
Ich sehe, daß am Ohr, um Hals und Gnicke
Der flüchtigen Röte Liebesblüte waltet,
Und da sie nichts zu leisten weiter findet,
Geht sie und zögert, sieht sich um, verschwindet.

Der Mitternacht gehören Haus und Straßen,
Mir ist ein weites Lager aufgebreitet,
Wovon den kleinsten Teil mir anzumaßen
Die Liebe rät, die alles wohl bereitet;
Ich zaudre noch, die Kerzen auszublasen,
Nun hör ich sie, wie leise sie auch gleitet,
Mit gierigem Blick die Hochgestalt umschweif ich,
Sie senkt sich her, die Wohlgestalt ergreif ich.

Sie macht sich los: » Vergönne, daß ich rede,
Damit ich dir nicht völlig fremd gehöre.
Der Schein ist wider mich; sonst war ich blöde,
Stets gegen Männer setzt ich mich zur Wehre.
Mich nennt die Stadt, mich nennt die Gegend spröde;
Nun aber weiß ich, wie das Herz sich kehre:
Du bist mein Sieger, laß dichs nicht verdrießen,
Ich sah, ich liebte, schwur dich zu genießen.

Du hast mich rein, und wenn ichs besser wüßte,
So gäb ichs dir; ich tue, was ich sage.«
So schließt sie mich an ihre süßen Brüste,
Als ob ihr nur an meiner Brust behage.
Und wie ich Mund und Aug und Stirne küßte,
So war ich doch in wunderbarer Lage:
Denn der so hitzig sonst den Meister spielet,
Weicht schülerhaft zurück und abgekühlet.

Ihr scheint ein süßes Wort, ein Kuß zu gnügen,
Als wär es alles, was ihr Herz begehrte.
Wie keusch sie mir, mit liebevollem Fügen,
Des süßen Körpers Fülleform gewährte!
Entzückt und froh in allen ihren Zügen
Und ruhig dann, als wenn sie nichts entbehrte.
So ruht ich auch, gefällig sie beschauend,
Noch auf den Meister hoffend und vertrauend.

Doch als ich länger mein Geschick bedachte,
Von tausend Flüchen mir die Seele kochte,
Mich selbst verwünschend, grinsend mich belachte,
Nichts besser ward, wie ich auch zaudern mochte,
Da lag sie schlafend, schöner als sie wachte
Die Lichter dämmerten mit langem Dochte.
Der Tages-Arbeit jugendlicher Mühe
Gesellt sich gern der Schlaf und nie zu frühe.

So lag sie himmlisch an bequemer Stelle,
Als wenn das Lager ihr allein gehörte,
Und an die Wand gedrückt, gequetscht zur Hölle,
Ohnmächtig jener, dem sie nichts verwehrte.
Vom Schlangenbisse fällt zunächst der Quelle
Ein Wandrer so, den schon der Durst verzehrte.
Sie atmet lieblich holdem Traum entgegen;
Er hält den Atem, sie nicht aufzuregen.

Gefaßt bei dem, was ihm noch nie begegnet,
Spricht er zu sich: So mußt du doch erfahren,
Warum der Bräutigam sich kreuzt und segnet,
Vor Nestelknüpfen scheu sich zu bewahren.
Weit lieber da, wo's Hellebarden regnet,
Als hier im Schimpf! So war es nicht vor Jahren,
Als deine Herrin dir zum ersten Male
Vors Auge trat im prachterhellten Saale.

Da quoll dein Herz, da quollen deine Sinnen,
So daß der ganze Mensch entzückt sich regte.
Zum raschen Tanze trugst du sie von hinnen,
Die kaum der Arm und schon der Busen hegte,
Als wolltest du dir selbst sie abgewinnen;
Vervielfacht war, was sich für sie bewegte:
Verstand und Witz und alle Lebensgeister
Und rascher als die andern jener Meister.

So immerfort wuchs Neigung und Begierde,
Brautleute wurden wir im frühen Jahre,
Sie selbst des Maien schönste Blum und Zierde;
Wie wuchs die Kraft zur Lust im jungen Paare!
Und als ich endlich sie zur Kirche führte,
Gesteh ichs nur, vor Priester und Altare,
Vor deinem Jammerkreuz, blutrünstger Christe,
Verzeih mirs Gott, es regte sich der Iste.

Und ihr, der Brautnacht reiche Bettgehänge,
Ihr Pfühle, die ihr euch so breit erstrecktet,
Ihr Teppiche, die Lieb und Lustgedränge
Mit euren seidnen Fittichen bedecktet!
Ihr Käfigvögel, die durch Zwitscher-Sänge
Zu neuer Lust und nie zu früh uns wecktet!
Ihr kanntet uns, von eurem Schutz umfriedet,
Teilnehmend sie, mich immer unermüdet.

Und wie wir oft sodann im Raub genossen
Nach Buhlenart des Ehstands heilge Rechte,
Von reifer Saat umwogt, vom Rohr umschlossen,
An manchem Unort, wo ichs mich erfrechte,
Wir waren augenblicklich, unverdrossen
Und wiederholt bedient vom braven Knechte!
Verfluchter Knecht, wie unerwecklich liegst du!
Und deinen Herrn ums schönste Glück betriegst du.

Doch Meister Iste hat nun seine Grillen
Und läßt sich nicht befehlen, noch verachten,
Auf einmal ist er da, und ganz im stillen
Erhebt er sich zu allen seinen Prachten;
So steht es nun dem Wandrer ganz zu Willen,
Nicht lechzend mehr am Quell zu übernachten.
Er neigt sich hin, er will die Schläferin küssen,
Allein er stockt, er fühlt sich weggerissen.

Wer hat zur Kraft ihn wieder aufgestählet,
Als jenes Bild, das ihm auf ewig teuer,
Mit dem er sich in Jugendlust vermählet?
Dort leuchtet her ein frisch erquicklich Feuer,
Und wie er erst in Ohnmacht sich gequälet,
So wird nun hier dem Starken nicht geheuer;
Er schaudert weg, vorsichtig, leise, leise
Entzieht er sich dem holden Zauberkreise,

Sitzt, schreibt: »Ich nahte mich der heimischen Pforte,
Entfernen wollten mich die letzten Stunden,
Da hab ich nun, am sonderbarsten Orte,
Mein treues Herz aufs neue dir verbunden.
Zum Schlusse findest du geheime Worte:
Die Krankbeit erst bewähret den Gesunden,
Dies Büchlein soll dir manches Gute zeigen
Das Beste nur muß ich zuletzt verschweigen.«

Da kräht der Hahn. Das Mädchen schnell entwindet
Der Decke sich und wirft sich rasch ins Mieder.
Und da sie sich so seltsam wiederfindet,
So stutzt sie, blickt und schlägt die Augen nieder;
Und da sie ihm zum letztenmal verschwindet,
Im Auge bleiben ihm die schönen Glieder.
Das Posthorn tönt, er wirft sich in den Wagen
Und läßt getrost sich zu der Liebsten tragen.

Und weil zuletzt bei jeder Dichtungsweise
Moralien uns ernstlich fördern sollen,
So will auch ich in so beliebtem Gleise
Euch gern bekennen, was die Verse wollen:
Wir stolpern wohl auf unsrer Lebensreise,
Und doch vermögen in der Welt, der tollen,
Zwei Hebel viel aufs irdische Getriebe:
Sehr viel die Pflicht, unendlich mehr die Liebe!

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 592-598)
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Der Edelknabe und die Müllerin

Edelknabe
Wohin? Wohin?
Schöne Müllerin!
Wie heißt du?

Müllerin
Liese.

Edelknabe
Wohin denn? Wohin,
Mit dem Rechen in der Hand?

Müllerin
Auf des Vaters Land,
Auf des Vaters Wiese.

Edelknabe
Und gehst so allein?

Müllerin
Das Heu soll herein,
Das bedeutet der Rechen.
Und im Garten daran
Fangen die Birnen zu reifen an,
Die will ich brechen.

Edelknabe
Ist nicht eine stille Laube dabei?

Müllerin
Sogar ihrer zwei,
An beiden Ecken.

Edelknabe
Ich komme dir nach,
Und am heißen Mittag
Wollen wir uns drein verstecken.
Nicht wahr, im grünen vertraulichen Haus -

Müllerin
Das gäbe Geschichten.

Edelknabe
Ruhst du in meinen Armen aus?

Müllerin
Mitnichten!
Denn wer die artige Müllerin küßt,
Auf der Stelle verraten ist.
Euer schönes dunkles Kleid
Tät mir leid
So weiß zu färben.
Gleich und gleich! so allein ists recht!
Darauf will ich leben und sterben.
Ich liebe mir den Müllerknecht;
An dem ist nichts zu verderben.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 463-464)
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Äolsharfen
Gespräch

Er
Ich dacht, ich habe keinen Schmerz;
Und doch war mir so bang ums Herz,
Mir wars gebunden vor der Stirn
Und hohl im innersten Gehirn -
Bis endlich Trän auf Träne fließt,
Verhaltnes Lebewohl ergießt. -
Ihr Lebewohl war heitre Ruh,
Sie weint wohl jetzund auch wie du.

Sie
Ja, er ist fort, das muß nun sein!
Ihr Lieben, laßt mich nur allein;
Sollt ich euch seltsam scheinen,
Es wird nicht ewig währen!
Jetzt kann ich ihn nicht entbehren,
Und da muß ich weinen.

*

Er
Zur Trauer bin ich nicht gestimmt,
Und Freude kann ich auch nicht haben:
Was sollen mir die reifen Gaben,
Die man von jedem Baume nimmt!

Der Tag ist mir zum Überdruß,
Langweilig ists, wenn Nächte sich befeuern;
Mir bleibt der einzige Genuß,
Dein holdes Bild mir ewig zu erneuern.
Und fühltest du den Wunsch nach diesem Segen,
Du kämest mir auf halbem Weg entgegen.

Sie
Du trauerst, daß ich nicht erscheine,
Vielleicht entfernt so treu nicht meine,
Sonst wär mein Geist im Bilde da.
Schmückt Iris wohl des Himmels Bläue?
Laß regnen, gleich erscheint die neue;
Du weinst! Schon bin ich wieder da.

Er
Ja, du bist wohl an Iris zu vergleichen!
Ein liebenswürdig Wunderzeichen;
So schmiegsam herrlich, bunt in Harmonie
Und immer neu und immer gleich wie sie.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe
Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag.
Herausgegeben von Heinz Nicolai. 7. Auflage 1990 (S. 1008-1010)
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