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Anna Hirschler (Ps. Anna Forstenheim)
(1846-1899)
Vogelstimmen
Des Meeres schaumgekrönte Wogen
Durchzieht ein Schiff mit scharfem Kiel;
Es kommt von Indien gezogen,
Die deutsche Heimat ist sein Ziel.
Ein Storchenpaar mit müden Schwingen
Läßt nieder sich auf schwankem Mast,
Um neue Flugkraft zu erringen,
Hält es im Tauwerk kurze Rast.
Ein storchsprachkundiger Matrose
Hat so ihr Zwiegespräch belauscht,
Als von der Menschen dunklem Lose
Erzählend, sie das Wort getauscht.
Ja wohl, ja wohl! - so sprach der Eine
Und klapperte wie zornentbrannt -
So wahr ich steh' auf einem Beine,
Du hast die Menschen recht erkannt.
Ich blickt' in ihrer Seelen Tiefe,
Es ist ein wunderlich Geschlecht,
Und hat gar seltsame Begriffe
Von Tugend, Ehre, Pflicht und Recht.
Auf eines Pfarrhof's Giebelspitze
Hatt' ich mein Nest in Deutschland steh'n;
Von meinem luft'gen Höhensitze
Hab' viel Verborg'nes ich geseh'n.
O Freund, ich muß mein Herz erst stählen,
Das schaudernd in Erinn'rung bebt;
Soll ich ein Beispiel Dir erzählen
Des Jammers, den ich miterlebt.
Wie flog ich einst nach Norden gerne
Beim ersten Frühlingssonnenschein,
Denn froh begrüßte mich von ferne
Schon Pastors blondes Töchterlein.
Und mit ihr stets ihr Spielgenosse,
Ein braungelockter, wilder Knab',
Des alten Fürsten letzter Sprosse
Mir jubelndes "Willkommen" gab.
Bald spielte um mein alt Gemäuer
Des Dorfes ganze Kinderschaar,
Doch mir blieb stets vor Allem theuer
Das allerliebste, kleine Paar.
Viel Jahre sah ich wechselnd scheiden,
Sie wuchs zur Jungfrau, er zum Mann,
Doch immer fester hielt die Beiden
Ein zaubervoller Herzensbann.
Bei Blüthenduft und Blätterrauschen
Hört' ich sie einst im Mondenschein
Viel heiße Liebesworte tauschen,
Den Schwur, sich "ewig" treu zu sein.
"Wie könnte ich Dich je verlassen,
Ich stürbe wohl zur selben Stund'",
Sprach er in seligem Umfassen
Und küßte ihren rothen Mund.
""Doch wie - haucht sie mit bangem Zagen -
Wenn es Dein Vater nicht erlaubt?""
"Ei, Kind, wir wollen gar nicht fragen,
Bald schmückt der Myrthenkranz Dein Haupt."
Einst kehrte ich vom Süden wieder
Mit erstem lauen Frühlingswind,
Da fand ich unter blüh'ndem Flieder
Bleich und allein des Pastors Kind.
Im Schlosse Festesjubel schallet,
Es dränget sich der Gäste Schaar,
Mit einer fremden Fürstin wallet
Der junge Prinz zum Traualtar.
Nachts schwebt ein Schatten längs dem Weiher
Und - stürzt hinein - mit dumpfem Schall -
Das war das Tauchen nicht der Reiher,
So schwer fällt nicht der Wasserfall. -
An's Ufer spült darauf die Welle -
Ein Mächen - das den Tod sich gab. -
Auf der - einst glückgeweihten - Stelle
Erhebt sich nun ein dunkles Grab. -
O süßer Engel, ruh' in Frieden! -
Mein Nest hab' grollend ich zerwühlt,
Die Stätte sei fortan gemieden,
Wo straflos man mit Herzen spielt'. -
Der Vogel schwieg, in stillem Grimme
Das Haupt im Flügel tief versteckt,
Bis ihn des Kameraden Stimme
Aus seinem düstern Brüten weckt.
Hör' das nicht minder Grauenvolle,
In Indiens Tropengluth erschaut -
Doch sieh, das Unglück hat die Scholle
Mir doppelt lieb gemacht und traut.
Des heil'gen Todtenhaines Schatten
Bleib' gerne ich durch's Leben nah,
Weil ich auf seinen Friedensmatten
Zuerst die schöne Jeda sah.
Ein reicher Hindu ward begraben,
Ein edler Mann von hohem Stand,
Den Hügel überdeckt mit Gaben
Nach frommen Brauch der Tochter Hand.
Denn also lehren ind'sche Weise:
"Zum Paradies ist weit der Pfad.
Versorgt den Todten reich mit Speise,
Daß er dahin nicht Mangel hat".
Schön Jeda, schlank wie die Gazellen,
Kam treulich Nacht um Nacht herab,
Schöpft Wasser aus des Ganges Wellen,
Stellt Speisen auf des Vaters Grab.
Doch sonderbar - mit einem Male
Fand sie bei ihrer Wiederkehr
Die sonst zum Rand gefüllte Schale
Am Boden umgestürzt und - leer. -
Wer wagte Timurti's Gesetzen
Zu spotten auf der Sünderbahn,
Die Manen frevelnd zu verletzen,
Den Gräbern räuberisch zu nah'n?
Hielt denn der Schakal, die Hyäne
Auf Leichenjagden hier die Rast?
Ha, schimmern dort nicht ihre Zähne?
Ein Schauer Jeda's Seele faßt. -
Verborgen hinter Rosenhecken
Sie zitternd nach dem Räuber späht.
Doch bald sind Rachedurst und Schrecken
Von tiefem Mitleid weggeweht. -
Ein schöner Jüngling, bleich vom Fasten,
Gehüllt in ärmliches Gewand,
Naht sich dem Grab mit scheuem Hasten,
Faßt das Gefäß mit gier'ger Hand.
Soll sie den Priestern ihn verrathen,
Ist das nicht größeres Vergeh'n,
Zu opfern wesenlosen Schatten
Und die lebend'gen hungern sehn?
Sie schwieg und trug durch viele Wochen
Zum Hügel täglich Speis' und Trank,
Nie hatte sie mit ihm gesprochen,
Doch leuchtend spricht sein Auge: Dank!
Drei Tage war er fern geblieben,
Warum schien öde ihr das Sein?
Warum eilt elend, angstgetrieben,
Sie ruhlos nach dem Todtenhain?
Dort fand am Grabe hingekauert
Sie endlich - fieberglühend - ihn.
Das Mädchen, glück- und schmerzdurchschauert,
Reicht milde selbst die Schale hin.
Er sank zu ihren Füßen nieder,
Erfaßte flehend ihre Hand:
"O holde Jungfrau flieh nicht wieder -
O Sonne, bleib' mir zugewandt!"
Sie blieb - sie hatten sich gefunden -
Vergessen war die ganze Welt -
Wer fragt in glückberauschten Stunden,
Ob künftig gleiches Los ihm fällt? -
Ein Hindu mit entsetzten Mienen
Den unerhörten Frevel sah,
Ein Weib vom Stamme der Brahminen
Im Arme eines - Paria! -
Berauscht von süßem Liebesglücke,
Gefährdet ihrer Seele Heil -
Doch rettend in dem Augenblicke
Durchbohrt sie des Brahminen Pfeil'.
Am Rheine, an des Ganges Borden,
Ob anerkannt - ob unbewußt -
Beherrscht im Süden, wie im Norden
Das Vorurtheil die Menschenbrust.
Aus: Deutschlands
Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o. J. [1895] (S. 52-54)
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