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Mathilde Raven
(1817-1902)
Die Waldfrau
Im grünen Wald, wo die Quelle springt,
Wo blühet die wilde Rose,
Wo die Drossel schlägt und die Nachtigall singt,
Wo das Reh durch Schlehdorn und Epheu dringt,
Da ruht ein Knab' auf dem Moose.
Aus der Bäume dunkelm Schatten kommt
Die Waldfrau singend gegangen.
Ihr Aug' ist blau wie der Himmel und klar,
Braun wie das Moos ist ihr lockiges Haar,
Das spielt um Schläfen und Wangen.
Ihr Athem ist würzig wie Veilchenduft,
Wie die Ros' ihre Lippe blühet,
Wie Schlehdornblüthe ist weiß ihre Hand,
Maigrün und golden ist ihr Gewand,
Wie das Laub, das im Sonnenlicht glühet.
Sie sieht den träumenden Knaben. Sie neigt
Süß schmeichelnd zu ihm sich nieder.
Seine Wange berührt ihr duftendes Haar,
Es spiegelt ihr Auge, tiefblau und klar,
Sein trotziges Angesicht wider.
Sie flüstert: "Bleib' bei mir, bleib' bei mir im Wald!
Sieh! Alles sei dein, was ich habe:
Waldkräuter und Bäume und Vögel und Wild,
Der Bach, der rieselnd zu Füßen mir quillt,
Und die Blumen, nimm Alles zur Gabe!
Meine Liebe, sie soll, herzliebster Knab',
Dich glücklich und selig machen.
Ich schläfre mit lieblichen Märchen dich ein,
Mein Lied soll beim dämmernden Mondenschein
Dir tönen zum frohen Erwachen."
""Ich mag deine Blumen und Märchen nicht,
Dein Lied, es weckt nicht zur Freude.
Zu bleich und zu trüb ist dein Angesicht,
Dein grünes Gewand, es ist mir zu schlicht,
Dich schmückt ja nicht Perl' noch Geschmeide!""
So sprechend enteilt er. - Der Wald ertönt
Von der Waldfrau Weinen und Klagen,
Die Bäume schütteln die Häupter stumm,
Es singen die Vögel: "Kehr' um, kehr' um!"
Sein Herz fühlt der Knabe schlagen.
Die Blumen sehen mit Thränen ihn an,
Seine Seele wird trüber und trüber.
Es weitet und lichtet sich vor ihm der Wald,
Und ferne das Klagen und Singen verhallt.
Seine Augen sie fließen ihm über.
Grell scheint ihm die Sonne in's Angesicht.
Da kann er es nicht mehr ertragen.
Er stürzet zurück in die Waldesnacht
Wo die Quelle springt, wo die Blume lacht,
Wo die Drossel und Nachtigall schlagen.
Wo die Waldfrau wohnt mit dem blauen Aug',
Mit dem rosenrothen Munde,
Mit den süßen Märchen, mit ihrem Lied,
Mit ihrer Liebe, die lieblich blüht,
Wie die Lilie im kühlen Grunde.
Er ruft ihren Namen in's grüne Gezweig:
Es tönt keine Antwort ihm wider. -
Sein Auge sieht nicht mehr ihr grünes Gewand,
Ihm winket nicht mehr die schneeweiße Hand,
Nicht wallt mehr ihr Haar auf ihn nieder.
Sie ist verschwunden. Die Zweige durchläuft
Ein Murmeln, unwillig und traurig,
Die Vögel seufzen, die Blumen steh'n
Gesenkten Hauptes, die Baumwipfel weh'n
Im Wirbelwind wild und schaurig.
Aus: Deutschlands
Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o. J. [1895] (S. 47-48)
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