Liebes-Balladen, Romanzen u. ä.

Frederic Leighton Der Fischer und die Sirene um 1856-58



Karl Gottfried Theodor Winkler
(1775-1856)


Der Wassermann

Schön Röschen im Wald nach Erdbeeren ging
Es war ein gar feines und schmuckes Ding,
Sie schritt weit hinein bis zu Stromes Rand,
Wo sie die schönsten und duftenden fand.
Gern blieb' ich ein Weilchen hier, wo's so frisch,
Umgeben von blühendem Schattengebüsch,
Wo man ruhen vom emsigen Tagewerk kann,
Doch fürcht' ich mich vor dem Wassermann.

Sie setzt sich, das Körbchen dicht neben ihr steht;
Ein Lüftchen so mild durch die Blätter weht;
Die Aeuglein sie sinken zum Schlafen ihr zu,
Sie streckt sich bequem in behaglicher Ruh:
Da naht sich's ganz leis, und beugt sich ganz sacht,
Daß ja nicht die Schläferin früher erwacht,
Umschlingt sie, und drückt an das Herz sie sich an -
'Um Gott! das ist ja der Wassermann!'

So schreckt sie empor mit gewaltigem Schrei,
Und fühlt sich umschlungen und fühlt sich nicht frei,
Und sieht einen jugendlichschlanken Gesell,
Mit blondem Haar und Augen so hell,
Der hat's ihr gethan, durch Zaubergewalt,
Daß bald ihr wird heiß, und bald wieder kalt;
Bis er ruft mit lockender Stimme alsdann:
"Ja, Liebchen, ich bin der Wassermann!

Drum folge mir willig nur hin in mein Haus,
Zu dem Tosen der Fluthen und wildem Gebraus;
Sollst die Herrin nun seyn immerfort,
Denn gar lieblich und innig lebt es sich dort.
Schon längst ich von Weitem dich hab' mir erseh'n,
Jetzt bist du mein, sollst nun mit mir geh'n,
Denn was er durch List und Gewalt gewann,
Das gibt nicht heraus der Wassermann."

Und sie sträubt sich nicht gegen Geistergebot,
Und sie folgt ihm, der freundlich nur bittet, nicht droht;
Immer weiter und weiter gehet der Weg,
Bis zum freundlichen Thal, dem gewölbten Steg, -
Da hörte sie's rauschen mit Ungestüm,
Und die Angst und die Furcht trieb sie näher zu ihm,
Und der Todesschweiß von der Stirn ihr rann:
'Ach, dort haust gewiß der Wassermann!'

Da klappert die Mühle, da steht sie davor,
Da führt sie der Wassermann ein durch das Thor,
In das Stübchen so blank und so traulich und rein,
Und ruft: "Darin sollst du die Hausfrau mir seyn;
Will dich halten und pflegen mit treuer Lieb',
Drum vergib mir die List, die hieher dich trieb,
Und den Schwank für mein ehrliches Werben ersann:
Denn der Müller, das ist der Wassermann!"

Aus: Deutschland's Balladen- und Romanzen-Dichter
Von G. A. Bürger bis auf die neueste Zeit
Eine Auswahl des Schönsten und charakteristisch Werthvollsten
aus dem Schatze der lyrischen Epik
in Balladen und Romanzen, Mären, Legenden und Erzählungen
nebst Biographieen und Charakteristiken der Dichter
unter Berücksichtigung der namhaftesten kritischen Stimmen
von Ignaz Hub Zweite, gänzlich umgearbeitete und stark vermehrte Auflage
Karlsruhe Verlag von Wilhelm Creuzbauer 1849
(S. 238)
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