Du Fu (Tu Fu)
(712-770)
Buch III, 9.
Mondnacht
(Der Dichter, den Rebellen in Ch'angan in die Hände gefallen,
gedenkt seiner in Fu-chou zurückgebliebenen Familie)
Heute Nacht, wenn in Fu-chou der Mond scheint,
sieht nur die Gattin ihn im Frauengemache allein (ohne mich).
In der Ferne sehne ich mich nach dem
kleinen Sohn und dem Töchterchen.
Die es noch nicht verstehen,
an ihren in Ch'angan zurückgebliebenen Vater zu denken.
Duft entsteigt den von Tau benetzten Flechten,
die wie Wolken auf den Schläfen
meines Weibes liegen, und kaltes Mondlicht
scheint auf ihren alabaster-weissen Arm.
Wann werde ich wieder mit ihr
ausserhalb des leichten Türvorhanges lehnen
und der Mond uns beide bescheinen,
auf deren Wangen die Tränen getrocknet sein werden?
(S. 86)
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Buch III, 10.
Meiner Inspiration Folge gebend
Mein kleiner Renner (mein Sohn Tsung-wu)
ist ein braver Junge,
als er im Vorjahre sprechen lernte,
War er gleich imstande, die Gäste um ihre Namen zu fragen,
und diese zu behalten;
auch vermochte er die Gedichte
seines alten Vaters zu recitieren.
Zur Zeit der Unruhen bedauerte ich seine Kleinheit
(weil ich ihn nicht mit mir nehmen konnte);
bei der Armut der Familie war er
auf die liebende Mutter angewiesen.
Wie einst P'ang Te-kung
wollte ich Frau und Kinder in die Einsamkeit
der Berge führen, aber es kam nicht dazu;
und dass ein Brief, an den Fuss einer Wildgans gebunden,
die Heimat erreicht hätte, war schwer zu erhoffen. -
Die ganze Welt ist mit Kriegsvolk erfüllt,
in Berg und Tal erschallen traurige Kampfsignale.
Wenn ich überhaupt nur einmal zurückkehren
und mit meiner Familie wieder beisammen sein kann,
so macht es mir nichts aus,
wenn das Wiedersehen erst spät erfolgen sollte.
(S. 87)
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Buch III, 11.
Gedicht über den Mäandersee
Der Mäandersee sieht unwirtlich aus,
weil der Herbst seinem Ende naht.
Die Lotusse sind welk und gebrochen
und treiben auf den windgepeitschten Wogen.
Ich Wanderer kann nur über das Ergrauen meiner Haare
(den Herbst meines Lebens) seufzen.
Die weissen Steine und der graue Sand des Ufers
sind (ebenso wie ich) in steter Bewegung.
Die einsame Wildgans schreit kläglich
und sucht ihre Gefährten.
(S. 87)
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Buch III, 18.
Ein Blick auf die Frühlingslandschaft
Obwohl die Hauptstadt in die Hände des Feindes gefallen ist,
sind Berge und Flüsse noch ebenso herrlich wie früher;
jetzt im Frühling entwickelt sich üppig
die Vegetation in der Hauptstadt.
Ergriffen vom Elend der Zeit weine ich
und meine Tränen benetzen die Blumen;
ich beklage die Trennung
von meiner Familie und die Stimmen
der Vögel (die ihre Gefährten rufen)
erschüttern mein Herz.
Schon drei Monate lang erglänzen die Wachtfeuer
(dauern die Kämpfe);
ich würde einen Brief meiner Familie
mit zehntausend Unzen Gold einschätzen.
Wenn ich meinen weissen Kopf kratze, fühle ich,
dass mein Haar schütterer geworden ist;
es ist beinahe nichts übriggeblieben,
um darin die Haarnadel
für meine Amtsmütze zu befestigen.
(S. 89-90)
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Buch III, 19.
Ich erinnere mich meines kleinen Sohnes
(Tsungwu, der sich bei der Mutter in Fu-chou aufhält)
Jetzt im Frühling ist mein Sohn (der kleine Renner)
noch immer von mir getrennt;
gerade um diese Zeit, da es warm wird,
Singen die Oriolen besonders lebhaft.
Bei unserer langen Trennung erschreckt mich
schon der häufige Wechsel der Jahreszeiten;
er dürfte unterdessen bereits klug geworden sein,
kann aber mir seine Klugheit nicht zeigen.
Bergbäche begleiten den Weg
durch das öde Gebirge zum Dorf
mit den alten Bäumen,
wo sich die Hütte meiner Familie befindet.
Ich sehne mich so sehr nach ihm,
dass ich schon ungehalten bin,
Weil ich fortwährend (Tag und Nacht) von ihm träume;
meinen Rücken sonnend schaue ich
zum offenen Fenster hinaus,
durch das die Sonne scheint.
(S. 90)
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Buch III, 20.
In der Nacht des Han-shih Festes
blicke ich nach dem Mond
Ohne meine Familie verbringe ich heute das Han-shih Fest;
daher fliessen meine Tränen wie die Silberwellen des Mondlichtes.
Wenn der Cassia-Baum im Monde endlich gefällt würde,
dürfte der Mondenschein noch heller werden.
Seit unserer Trennung hat er schon
viele rote Blüten entfaltet
(d. h. viele Monate sind schon vergangen);
ich nehme an, dass die Augenbrauen
meiner Gattin vor Kummer darüber zusammengezogen sind.
Die beiden Sterne Rinderhirt und Weberin
sehnen sich auch nacheinander;
doch im Herbst setzen sie alljährlich
über die Milchstrasse
(warum haben wir nicht das Glück, einander wiederzusehen?)
(S. 90)
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Buch III, 21.
Ich klage (über die Stille) am Ufer des Mäandersees
Ich alter Bauer aus Shao-ling
weine mit unterdrückter Stimme,
Während ich heute (an diesem Frühlingstag)
heimlich an einer Bucht des Mäandersee stehe.
Die Tausend Tore des Uferpaläste sind alle geschlossen;
Die graziösen Weiden und der junge Schilf,
für wen grünen sie wohl?
Ich erinnere mich an die Zeit,
da die Regenbogenfahnen
der kaiserlichen Procession den südlichen Park
(am Ufer des Mäandersees) besuchten
Und die ganze Natur im Parke
ihre herrlichsten Farben zeigte.
Das schöne Weib (Yang Kuei-fei),
eine zweite Fei-Yen des Chao-yang Palastes der Han-Dynastie,
Begleitete den Kaiser in seinem Wagen
und war stets in seiner Nähe.
Vor dem Wagen ritten weibliche Bogenschützen
mit Bogen und Pfeilen,
Ihre Schimmel bissen auf goldenes Zaumzeug.
Sie wandten ihre Körper gegen Himmel
und schossen in die Wolken hinein.
Mit einem Pfeil trafen sie stets zwei Vögel zugleich.
Wo ist jetzt jene herrliche Schönheit (Yang Kuei-fei)
mit ihren blitzenden Augen und weissen Zähnen?
Nach ihrem tragischen Tod
wandert ihre Seele (ruhelos) umher
und kann nicht mehr hierher zurückkehren.
Der klare Wei Fluss (wo Yang Kuei-fei bei Ma-wei ihren Tod fand)
fliesst nach Osten,
während der Kaiser nach Westen,
weit jenseits der Schwertturmberge, geflüchtet ist.
Der Lebende und die Tote erhielten voneinander
keine Nachrichten mehr.
Wer ein Herz im Leibe hat,
muss über diese Ereignisse Ströme von Tränen vergiessen.
Und diese Gefühle kennen ebenso wenig ein Ende,
wie die Fluten des Stromes
oder die in jedem Frühling aufs neue blühenden Blumen.
Abends erfüllt der Staub
der tatarischen Reiterei (des An Lu-shan)
die Strassen von Ch'angan.
Und während ich nach meiner Wohnung
im Süden der Stadt zurückkehren will,
blicke ich nach Norden, in der Hoffnung,
dass von dort aus der Kaiser die Rebellen vertreiben werde.
(S. 90-91)
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Buch III, 34.
Ich erhalte einen Brief meiner Familie
Der Bote, der nach Hause ging
mit einem ihm anvertrauten Briefe von mir,
dem Wanderer, ist nun zurückgekommen,
um mir die Antwort meiner Familie zu bringen.
Heute weiss ich nun endlich Neuigkeiten von zu Hause,
und bin für Momente nicht im fremden Lande,
sondern in der alten Heimat.
Dem kleinen Bären (meinem Sohne Tsung-wen)
geht es glücklicherweise gut,
und dem kleinen Renner (mein Sohn Tsung-wu)
liebt seinen Bruder gar sehr.
Mit beginnendem Alter fühle ich mich
schrecklich vereinsamt in der Fremde;
leider sind infolge der Zeitereignisse
Zusammenkünfte mit meiner Familie sehr selten.
Als ergrauter Mann bin ich nach dem kaiserlichen Zeltlager
(in Feng-hsiang) geeilt und in meiner neuen Stellung
als Censor folge ich der Karosse des Herrschers.
Die nördliche Residenz (Ch'angan)
ist noch immer in den Händen
der unheilvollen Rebellen
und wir stehen schon am Beginne des Herbstes,
wo sonst sich der Kaiser nach
westlichen Weichbilde zur Zeremonie
des Herbst-Empfanges zu begeben pflegte.
Ein kalter Herbstwind weht,
die Wildgans zieht gerade nach Süden;
ein Herbstregen geht nieder
und überall entwickeln sich Fische.
Um das Feld tief in den öden Bergen
(von San-ch'uan) zu bestellen,
möchte ich schliesslich die Haue schulternd
dorthin ziehen.
(S. 99)
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Buch III, 52.
Die Reise nach Norden
Im Herbste des zweiten Jahres
der Regierung des Kaisers Su-tsung,
am ersten Tage glücklicher Vorbedeutung
des achten Monats, der ein Schaltmonat war,
Schickte sich Meister Tufu gerade an,
nach Norden zu reisen,
denn grenzenlos war sein Bedürfnis,
sich nach seiner Familie umzusehen.
Diese Zeiten sind reich an Schwierigkeiten und Gefahren,
so dass Hof wie Volk nur wenig Musse finden
(sich ihrer Familien anzunehmen).
Darum schäme ich mich, der besonderen
kaiserlichen Gnade teilhaftig geworden zu sein,
die mir durch einen Erlass die Rückkehr
nach meiner ärmlichen Hütte gestattet.
Ich nehme eine Audienz, um mich
vom kaiserlichen Hof zu verabschieden,
und verweile beim Kaiser in ehrfurchtsvoller Scheu. -
Obwohl mir das Talent mangelt,
Kritik zu üben und Ratschläge zu erteilen,
vermute ich doch, dass der Fürst
Unterlassungssünden begangen hat.
Der Fürst ist zwar wirklich ein Herrscher
einer aufblühenden Zeit
und widmet sich sicher mit grösstem Eifer
den Regierungsgeschäften;
Die Revolution der östlichen Barbaren
(An Ch'ing-hsü) ist aber noch nicht zu Ende,
was mich armen Untertan gerade am meisten bekümmert.
Die Tränen wegwischend denke ich
voll Liebe des Kaisers in seinem Reisequartier
in Feng-hsiang und bin auf dem Wege
noch lange unter dem Eindruck meines Kummers.
Himmel und Erde sind voll von Wunden und Schwären;
wann wird endlich einmal all dies Leid und Elend aufhören?
Langsam ziehe ich durch das Land,
dessen Dörfer mir aus der Ferne verlassen
und öde erscheinen.
(S. 113)
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Buch V, 9.
Die Trennung der Neuvermählten
Wenn die Flachsseite (Cuscuta) sich auf Erigeron
oder Flachs (die nur kurzes Leben haben) emporwindet,
sind ihre Ranken nur kurz
(sie kann sich nicht üppig entwickeln).
Daher ist es besser, ein Mädchen (bei der Geburt)
an der Strassenseite auszusetzen,
als es mit einem Soldaten zu verheiraten. -
Als ich mannbar wurde, bin ich Deine Frau geworden;
die Matte auf Deiner Bettstatt ist durch mich
noch nicht warm geworden.
Abends wurde die Ehe vollzogen
und jetzt am Morgen trennst Du Dich von mir
und ziehst ins Feld; ist dies etwa nicht allzu eilig?
Obwohl Du Dich nicht in weite Fernen begibst,
gehst Du doch nach Han-yang,
um die Grenze zu verteidigen.
Infolge Unterbleibens der Zeremonien (Gräberbesuche usw.)
ist meine Stellung als Deine Frau
noch nicht klar festgestellt;
wie kann ich da Deinen Eltern entgegentreten? -
Als ich von meinen Eltern erzogen wurde,
hiessen sie mich, mich Tag und Nacht versteckt zu halten,
Und sie belehrten mich, dass eine Jungfrau
niemandem anderen als ihrem Gatten
angehören dürfe und dass auch ein Huhn oder Hund
sein gehorsames Weibchen hätte.
Du begibst Dich nun aufs Feld der Ehre,
wo Dein Leben stets in Gefahr ist;
tiefer Kummer bedrängt daher mein Inneres.
Fürwahr, ich möchte Dir folgen,
aber Deine Lage würde dadurch
nur noch schwieriger werden.
Denke nicht an unsere junge Ehe,
trachte vielmehr Dein Bestes in der Armee zu leisten.
Wenn wir Frauen im Lager anwesend wären,
würde der Mut der Soldaten, wie ich fürchte,
viel zu wünschen übrig lassen. -
Ich beklage mich selbst,
dass ich aus einer armen Familie stamme;
und es hat lange Zeit gedauert,
bis ich mir diesen Rock aus Seidengaze weben konnte
(der garnicht zu meiner Armut passt).
Jetzt will ich diesen Rock aus Seidengaze
nicht mehr tragen und werde Deinetwegen
meine rote Schminke wegwaschen.
Ich blicke hinauf zum Himmel,
wo zahllose Vögel herumfliegen;
ob gross oder klein, sie fliegen alle in Paaren.
Allein in den menschlichen Verhältnissen
(im Gegensatz zur Natur)
wird allzuoft unseren Wünschen entgegengehandelt;
so kann ich ein Wiedersehen mit Dir
stets nur erhoffen.
(S. 163-164)
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Buch V, 17.
Das schöne Weib
Da war ein herrliches Weib, das alle anderen
ihrer Zeit an Schönheit übertraf;
einsam lebte sie in einem öden Tal.
Sie sagte zu sich selbst: "Ich bin ein Kind guter Familie,
nach deren Unglück ich hier
unter Bäumen und Kräutern leben muss.
Als einst in Shensi ein Aufstand ausbrach,
sind meine Brüder getötet worden.
Wozu soll ich noch erwähnen,
dass sie hohe amtliche Würden bekleidet haben?
Bin ich doch jetzt ausser Stande
ihre Leichen zu begraben. -
Die Gefühle der Welt wollen
von den Gestürzten nichts wissen;
alles im Leben ändert sich
wie das flackernde Licht einer Kerze.
Mein Gatte ist ein leichtsinniger Bursche,
seine neue Geliebte ist von jadegleicher Schönheit.
Selbst die Mimose kennt die Zeit
(und schliesst abends ihre Blätter);
und die Mandarinenente verbringt auch nicht
die Nacht allein.
Mein Gatte erfreut sich aber nur am Lachen
seiner Freundin;
wie würde er etwas um die Tränen
seiner alten Gattin geben?"
In den Bergen ist das Quellwasser rein;
verlässt es die Berge wird es trübe
(d. h. hier in den Bergen bewahrt das schöne Weib
ihre Reinheit, die sie draussen in der Welt verlieren würde).
Ihre Magd ist gerade vom Markt zurückgekehrt,
wo sie die Perlen ihrer Herrin verkaufen musste;
jetzt schleppt sie Schlingpflanzen herbei,
um das Schilfdach auszubessern.
Die Blumen, welche die Schöne pflückt,
steckt sie sich nicht in das Haar;
dagegen füllen Zypressenzweige
(Symbole der Keuschheit) stets ihre Hände.
Trotzdem das Wetter kalt ist
und die Aermel ihres grünen Gewandes dünn sind,
lehnt sie bei Sonnenuntergang
an einem hohen Bambus.
(S. 169-170)
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Buch V, 64.
Das Kleiderwaschen
Wohl weiss ich, dass mein Mann
aus der fernen Garnison nicht zurückkehren wird;
aber wie alljährlich bei Ankunft des Herbstes,
wird jetzt der Waschstein reingefegt.
Wir nähern uns schon den kalten Wintermonaten,
und mein Herz fühlt umsomehr
die lange Trennung.
Wie würde ich die Ermüdung des Kleiderwaschens scheuen,
wenn ich sie nur Dir nach der fernen
Grossen Mauer senden kann!
Was in meinen Kräften liegt, will ich tun;
möge der Schall des Waschsteins
bis zu Dir dringen
(und Du meine Arbeit anerkennen).
(S. 184)
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Buch XII, 36.
Der Mond in der Nacht des 15. des 8. Monats
Mein Auge ist erfüllt vom Glanze
der hoch dahinziehenden Vollmondscheibe
(die an einen hellen Spiegel erinnert);
mein nach der Heimat verlangendes Herz
ist von Gefühlen der Rückkehr überwältigt.
Wie eine fortgewehte Distelwolle habe ich
einen weiten Weg zurückgelegt;
nach dem Cassiazweig greifend
(d. h. jetzt hier verweilend) blicke ich sehnsuchtsvoll
auf
zum hohen Himmel (d.h. gegen Ch'angan).
Den Mondreflex auf dem Wasser
ist man geneigt für Schnee und Eis zu halten,
und von den auf den Bäumen sitzenden Vögeln
kann man genau die einzelnen Federn wahrnehmen
(infolge des hellen Mondlichtes).
Wenn man um diese Zeit nach dem weissen Hasen
(der in der Mondscheibe sitzt) aufblickt,
möchte man nichts anderes
als die feinen Haare seines Pelzes zählen
(so klar leuchtet der Mond).
(S. 430)
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Buch XII, 62.
Tief im Winter
Blüten und Blätter fallen (jetzt im Winter)
nach dem Willen des Himmels;
Flüsse und Bäche sinken
in ihrem felsigen Bett
(und ihr Grund wird sichtbar).
Die roten Wolken bei Sonnenaufgang
nehmen der Reihe nach alle möglichen Gestalten an;
die kalten Gewässer fliessen dahin
in ihrer gewohnten (winterlichen) Seichtheit.
Leicht ist es Tränen zu vergiessen,
wie Yang Chu am Scheidewege
(wenn man in der Fremde nicht weiss,
wohin man sich wenden muss);
meine (des Wanderers in Ch'u) Seele
kann nur schwer nach der Heimat
zurückgerufen werden.
Wind und Wogen sind abends nicht zu vertrauen;
aber - selbst wenn ich die Ruder einzöge -
bei wem könnte ich einkehren?
(S. 445)
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Buch XII, 65.
Der erste Tag des 12. Monats. Drei Gedichte (65-67)
Heute morgen beginnt der 12. Monat
und Frühlingsgedanken machen sich geltend.
Der Strom, der an der Stadt Yün-an-hsien
vorüberfliesst, ist lieblich zu schauen.
Woher kommt der Schrei, (den ich hörte)?
Es ist eine briefbefördernde Wildgans.
Und wem gehört das hundert Klafter lange Tau?
Es ist ein Schiff, das über sandige Untiefen gezogen wird.
Noch nicht haben Pflaumenblüten
das Auge des Kummervollen in Erstaunen gesetzt.
Umsomehr haben Pfefferblüten den Himmel
der Fremde anziehend gemacht.
Im Ming-kwang-Palaste Konzepte
zu kaiserlichen Erlässen zu verfassen,
ist stets mein ehrgeiziges Streben gewesen.
Wann wird wohl meine Lungenkrankheit
mir gestatten, die Residenz zu besuchen?
(S. 446)
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Buch XII, 66.
Wenn die Kälte gering ist, sind die über
dem Marktflecken lagernden Bergdünste grünlich.
Bei vollem Sonnenlichte sind
vor meinem Hause die Nebel über dem Strome gelb.
Die Mädchen von Wu-hsi (Hsi-man-Barbaren in Ch'en-chou, Hunan)
bringen Salz aus ihren Brunnen.
Woher kommt der Bootsmann,
der bei der Abfahrt den Gong ertönen lässt?
Wie einst Chou I vom neuen Pavillon,
erhebe ich mein Auge und bin
vom Anblick der Landschaft betrübt.
Wie Ssu-ma Hsiang-ju, der Schriftsteller von Mou-ling,
leide ich seit langem an Diabetes.
Ich bin nicht besorgt, dass hier die Blüten
des Frühlings nicht erglänzen werden;
Als Fremdling hier im südlichen Ch'ou
möchte ich nur den fortwährenden Takt der Ruder hören
(d. h. ich möchte in die Heimat zurückkehren).
(S. 446-447)
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Buch XII, 67.
Bald werde ich die Schwalben sehen,
die über die Schranken der Berge eindringen.
Wird es etwa nicht auch gelbe Oriolen geben,
die über die Bergabhänge hinfliegen?
Kurzlebige Pfirsichblüten werden am Ufer
der Gewässer erscheinen.
Leichte Weidenkätzchen werden
an meinen Gewändern haften bleiben.
Wenn der Frühling kommt, bin ich überzeugt,
dass sich mein Gemüt für lange Zeit aufheitern wird.
Wird man alt und gebrechlich,
sieht man Verwandte und Freunde nur selten.
Wenn ich in Zukunft einen Becher Weines trinken soll,
kann ich es selbst mit Überwindung nicht.
Beides beklage ich, den Schwund meiner Kräfte
und die Ferne der heimatlichen Berge.
(S. 447)
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Buch XII, 68.
Wieder Schnee
In südlichen Gegenden gelangt der Schnee
nicht bis zur Erde;
die dunkle Felswand befeuchtet er,
ohne zu schmelzen.
Allmählich von der Sonne beschienen,
wird er dünner;
solcher Schnee kann nur fern
von den Menschen gesehen werden.
Wenn der Winter warm ist,
werden die Mandarinenenten krank;
wo die Schlucht tief ist,
stolzieren Wölfe und Tiger herum.
Für mich, der ich voll Kummer
an fernen Grenzen weile,
sind die Wässer des Stromes ein Trost;
wie könnte ich nur auf ihnen
dem Kaiserhof im Norden eilen!
(S. 447)
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Buch XIII, 7.
Der Kuckuck
Yün-an-hsien liegt in den Schluchten
(gorges) des Yangtzu;
die Dächer der Gebäude am Ufer des Stromes
springen alle gleich weit vor.
Auf beiden Ufern des Stromes
sind die Felswände von Bäumen bedeckt;
in diesen Bäumen schreit
von Morgen bis Abend der Kuckuck.
Zur Zeit des sanften Wehens
des Frühlingswindes erscheint der kleine Vogel,
im nächtlichen Rauschen der Bäume erklingt
seine traurige Stimme.
Wie kann man, wenn man voll Kummer
in der Fremde sitzt,
diese traurigen Laute ertragen?
Er scheint sich aber vorsätzlich
recht nahe von mir niederzulassen.
(S. 451)
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Buch XV, 29.
Mondenschein auf dem Grossen Strom
Der Mondenschein liegt glänzend auf dem Wasser;
auf dem hohen Turm erdrücken mich
melancholische Gedanken (an die Heimat).
Ich bin schon lange auf der Wanderschaft
im fernen Ssu-ch'uan;
der Gedanke, hier immer älter zu werden;
rührt mich zu Tränen,
sodass mein Taschentuch ganz durchfeuchtet ist.
Helle Tautropfen erscheinen
als Kugeln unter den klaren Strahlen des Mondes,
das Licht der Milchstrasse
schwächt den Glanz der halben Mondscheibe (?).
Dürfte nicht um diese Zeit in meinem Hause
mein Weib Zeichen auf Brokat sticken,
wie einst Su Hui, die Frau des Tou Tao?
Danach löscht sie die Kerze aus
und denkt mit zusammengezogenen
Augenbrauen ihres Gatten.
(S. 550)
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Buch XV, 30.
Flötenspiel
Zur Zeit des hellen Mondenscheins
und einer reinen Brise höre ich
Flötenspiel in den herbstlichen Bergen.
Wer dürfte wohl der tüchtige
Flötenspieler sein, der mit seinem Spiel
mein Innerstes zerreisst?
Auf den Flügeln des Windes
kommt diese äusserst harmonische Musik heran.
Der Mond scheint auf das Gebirge
(seine Spitzen und Pässe),
wie viele Orte zeigen sich
in seinem Licht und Glanz!
Dieses Flötenspiel hätte
die tatarische Kavallerie mitten in der Nacht
zur Rückkehr nach Norden veranlassen können,
wie einst zur Zeit des Liu K'un.
Wie beim traurigen Wu-hsi-shen-Lied
des Ma Yüan müssen wir
bei diesem Spiel an die Schwierigkeiten
eines Feldzugs nach Süden denken
(wobei der Gedanke der Rückkehr
in die Heimat auftaucht).
In meiner alten Heimat dürften jetzt
die Weiden entblättert sein;
Wie würde ich mich in meinem Kummer
getröstet fühlen, wenn ich jene Weiden
wieder in grünem Schmuck sehen könnte!
(S. 551)
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Buch XV, 31.
Die einsame Wildgans
Die einsame Wildgans
denkt nicht an Futter und Trank;
sie fliegt schreiend dahin
und aus ihren Lauten hört man
die Sehnsucht nach ihren Kameraden.
Wer von diesen Kameraden kümmert sich wohl
um die einzelne Wildgans?
Sie hat ihre Genossen
im unendlichen Wolkenmeer verloren.
Obwohl sie ihre Genossen
nicht mehr ausnimmt, ist es ihr,
wie wenn sie sie noch vor sich sähe
(und ihnen folgen müsste);
traurig schreit sie lange Zeit,
wie wenn sie die Schreie der Genossen noch hörte
(und sie beantworten müsste).
Die wilde Krähe macht sich keine Gedanken
(keine Sehnsucht erfüllt sie);
krächzend fliegt sie bald dahin bald dorthin,
und macht nur zwecklos Lärm.
(S. 551)
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Buch XV, 32.
Ich äussere meinen Kummer
Ich pflege meine Torheit
hinter einer aus Unkrautstengeln
geflochtenen Türe;
wo öffnet sich diese
in der unendlichen Wildnis?
Vor mir dehnt sich der Grosse Strom
bis zum Wu-Berg mit dem Tempel
der Fee des Herzogs Hsiang von Ch'u;
mein Aufenthaltsort ist weit entfernt
von der Provinzhauptstadt Ch'eng-tu
mit ihrem Wang-hsiang-Söller.
Allmählich bedaure ich, dass meine Gesichtszüge
hier in der Fremde alt zu werden beginnen
(d. h. ich fürchte in die Heimat
nicht mehr zurückkehren zu können);
auch besteht keine Möglichkeit,
dass Brüder und Schwestern hierherkommen.
Die kriegersichen Unruhen wirken störend
auf mein Leben;
voll Sehnsucht schaue ich zurück
nach der Heimat und bin
von tiefem Schmerz erfüllt.
(S. 551-552)
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Buch XV, 46.
Herbstgedanken
Der glänzende Herbsttau
hat die Ahornwälder zum Welken gebracht.
Das Wu-Gebirge und die Wu-Schlauchten des Yangtze
sehen unwirtlich aus.
Die Wellen im Grossen Strome
schlagen himmelhoch empor.
Die windgepeitschten Wolken
auf den Grenzbergen reichen bis zum Boden herab
und verdunkeln die ganze Landschaft.
Es ist schon das zweite Jahr,
dass ich hier die üppigen
Chrysanthemen blühen sehe,
und sie machen meine Tränen fliessen,
ebenso wie früher im ersten Jahr.
Wenn einmal ein einzelnes Schiff
bei meiner Hütte anlegt,
dann erheben sich in mir Gedanken
an die alte Heimat.
Überall drängt die kalte Jahreszeit
zum Anfertigen von Kleidern;
In der hohen Festung Po-ti-ch'eng
hört man schon die schnellen Schläge
auf dem Waschstein.
(S. 561)
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Buch XV, 71.
Der Mond ist rund geworden
Der einsame Mond erhellt alles im Westturm;
der kalte Strom bewegt sich
vor meiner nächtlichen Pforte.
Wenn der Mondenschein auf die Wellen fällt,
erzittert sein Glanz (zittern seine Reflexe);
auf den mondbeschienene Matten (meiner Wohnung)
erscheinen Linien und Zeichnungen (Stickereien)
umso deutlicher.
Da der Mond voll ist,
erscheinen die öden Berge
in seinem schönen, ruhigen Licht;
wegen seiner hohen Stellung am Firmament
sieht man die einzelnen Sternbilder nur wenig.
Ich denke an die üppigen Fichten
und Cassiabäume meines heimatlichen Gartens;
obwohl sie unzählige Meilen weit
entfernt sind, empfangen auch sie
das reine Licht dieses Mondes.
(S. 572)
_____
Buch XVI, 74.
Der Mond
(In der letzten Zeit) hat es nicht aufgehört
in den Wu-Bergen zu regnen;
erst in dieser Nacht ist die Milchstrasse
(vom Mond erleuchtet) wieder sichtbar.
Wenn über jenen grünen Bergketten
der Mond nicht steht,
werde ich alter, weisshaariger Mann
tödlich betrübt.
Die Bergkobolde (die das Licht fürchten)
ziehen sich in die tiefen Wälder zurück,
die Mondkröte bewegt sich
in der halben Mondscheibe.
Meine alte Heimat (bei Ch'angan)
liegt unterhalb des nördlichen Scheffels;
ich wünsche nichts anderes
als dass der Mond auch Ch'angan
(im westlichen Shensi) bescheine.
(S. 617)
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Buch XVI, 75.
Ich erblicke Leuchtkäferchen
Auf den Wu-Bergen fliegen in Herbstnächten
überall Leuchtkäferchen umher.
Durch die schütteren Bambusvorhänge
dringen sie geschickt in die Stube ein
und setzen sich auf mein Gewand.
Da erschrecke ich plötzlich in der Stube
über die Ankunft des Herbstes und bemerke,
dass Laute und Bücher auch schon kalt sind.
Und wieder andere Leuchtkäferchen
vermischen sich mit den wenige Sternen,
die ausserhalb des Vordachs funkeln,
Und schweben dann über der Brunnenbalustrade,
wo sich ihnen ihr Spiegelbild
im Wasser zugesellt.
Absichtslos gleiten sie über Blumenblätter dahin,
auf die sich ihr Licht spielend ergiesst.
Der Weisskopf am Ufer des klaren Stromes
sieht mit Betrübnis auf Euch.
Er weiss noch nicht, ob er im Herbst
des folgenden Jahres in die Heimat
wird zurückkehren können
oder noch nicht. (S.
617-618)
_____
Buch XVI, 89.
Abend
Rinder und Schafe sind schon lange
(von den Bergen) zurückgekehrt;
die Landleute haben schon alle
ihre Heckentore (aus zusammengebundenem
Brennholz) geschlossen.
Wind und Mondenschein mögen immerhin
die klare Nacht verschönern,
aber ich kann es nicht schätzen,
denn der Strom und die Berge
vor mir sind nicht meine Heimat.
Eine Quelle fliesst aus der (jetzt)
dunklen Felswand hervor;
Tau tropft auf die herbstlichen Graswurzeln.
Das helle Licht der Lampe
fällt auf mein weisses Haar;
welche Bedeutung sollten wohl für mich
alten Mann die zahlreichen Blüten,
des Dochtes haben (die man gewöhnlich
als Glückszeichen betrachtet)?
(S. 630)
_____
Aus: Tu Fu's Gedichte
übersetzt von Erwin von Zach (1872-1942)
Edited with an Introduction by James Robert Hightower
Harvard University Press Cambridge Massachusetts 1952