Liebeslyrik aus China

(in deutscher Übersetzung)

 


Blüten chinesischer Dichtung
aus der Zeit der Han- und Sechs-Dynastie
2. Jh. v. Chr. - 6. Jh. n. Chr.




Trennung

Mein Schatz ist von mir gezogen
Weit über Berg und Feld,
Wohl über zehntausend Meilen
Bis an's andre Ende der Welt.

Wie das Ross der mongolischen Steppe
Dem Nordwind entgegen wieh'rt
Und dem Vogel aus Annam die Sehnsucht
Gen Süden zum Nest zurückführt,

So hoffen ich, dass es möge
Auch meinem Geliebten ergeh'n;
Doch die Wege sind lang und gefahrvoll,
Wer weiss, ob wir wieder uns sehn!

Die Zeit, seit er mich verlassen,
Däucht mir eine Ewigkeit,
Mein Leib verzehrt sich in Sehnsucht,
Der Gürtel ist längst mir zu weit.

Am Himmel wehen die Wolken,
Verfinstern der Sonne Glanz.
Mein Schatz, er wandelt ferne,
Vergisst die Rückkehr ganz.

Schon nahet der letzte Monat,
Das Jahr geht zur Rüste bald;
Stets meines Herren gedenkend,
Werde ich grau und alt.

Doch will ich nicht weiter klagen,
Verstossen und verschmäht,
Kann ich doch nichts Anderes wünschen,
Als dass es ihm wohl ergeht.
(S. 3-4)

Mei-tschêng (gest. 140 v. Chr.)
(Minister des Han-Kaisers Tsching-ti 156-140. v. Chr.)
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Unglückliche Liebe

Im warmen Frühlingssonnenschein
Erblühn die Orchideen,
Die, wenn der Winter bricht herein,
Noch voll in Blüthe stehen.

Vom Frühling bis zur Winterzeit,
Alltäglich, jede Stunde,
Spriesst auch in mir mein altes Leid,
Brennt meine Herzenswunde.

Mir ist's, als ob am Himmelszelt
Mein Lieb auf Wolken stände,
Und eine ganze weite Welt
Sich zwischen uns befände.

Ich wandele im Mondenschein,
Im Schatten der Cypressen,
Und unter Seufzern denk' ich dein,
Die ich nicht kann vergessen.

Es mag wohl meines Herzens Qual
Nicht jedermann verstehen,
Mir will in dem Gedankenschwall
Schier der Verstand vergehen.
(S. 4)

Mei-tschêng (gest. 140 v. Chr.)
(Minister des Han-Kaisers Tsching-ti 156-140. v. Chr.)
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Der Blüthenzweig

Gerad' vor ihrem Hause
Ein liebliches Bäumlein steht,
Es sind seine grünen Zweige
Mit Blüthenstaub übersät.

Sie hat von diesem Baume
Einen Blüthenzweig gepflückt.
Wie hätte der Mann ihres Herzens
Sie gern damit beglückt!

Den Busen, die weiten Aermel
Erfüllt ganz der liebliche Duft,
Doch er dringt nicht zu ihm in die Ferne,
Dahingeweht durch die Luft.

Was nützen ihr drum die Blumen?
Sie mehren nur ihr Leid
Und lassen sie tiefer empfinden
Die lange Trennungszeit.
(S. 5)

Mei-tschêng (gest. 140 v. Chr.)
(Minister des Han-Kaisers Tsching-ti 156-140. v. Chr.)
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Verlassen

Warum scheint so hell
Nur des Mondes Glanz,
Dass mein Bettvorhang
Wird erleuchtet ganz?

Ach! der Kummer lässt
Mich nicht schlafen mehr,
Ich raff' auf mein Kleid,
Wandele umher.

Scheidend sprach mein Herr,
Möcht' nicht traurig sein.
Seine Rückkehr nur
Endigt meine Pein.

Aus der Thür hinaus
Treibet mich der Schmerz
Niemand, dem ich könnt'
Oeffnen frei mein Herz.

Traurig kehre ich
In das Haus zurück,
Thränenfeucht das Kleid,
Thränenfeucht der Blick.
(S. 5-6)

Mei-tschêng (gest. 140 v. Chr.)
(Minister des Han-Kaisers Tsching-ti 156-140. v. Chr.)
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Der Hirt und die Weberin

Tief am Himmel blinkt
Hell des Hirten Stern,
Und am weissen Strom
Sitzt die Weberin fern.

Sie fährt hin und her
Mit den Händchen fein,
Webstuhl klappert laut,
Schnell fliegt's Webschifflein.

Wenn die Arbeit sie
Abends nicht vollbracht,
Weint sie manche Thrän'
In der stillen Nacht.

Dort der Himmelsstrom
Scheint ihr klar und seicht,
Zu dem Hirten hin
Däucht der Weg ihr leicht.

Doch da fliesst's heran
Und hält sie zurück.
Beide schau'n sich an
Nur mit stummen Blick.
(S. 6)

Mei-tschêng (gest. 140 v. Chr.)
(Minister des Han-Kaisers Tsching-ti 156-140. v. Chr.)

Das Gedicht behandelt die von China auch nach Korea und Japan verpflanzte Sage
vom Hirten und der Weberin, die chinesischen Bezeichnungen für die Sternbilder
"Aquila" und "Vega". Schang-ti, der Gott des Himmels, verheirathete die "Weberin",
welche vom Morgen bis zum Abend am Webstuhl sass, mit dem Hirten, der am Ufer
des weissen Himmelsstromes, der Milchstrasse, seine Rinder weidete.
Da hierauf die Weberin das Weben ganz vergass, weil sie nur noch an ihren Mann dachte,
trennte der Gott des Himmels sie beide zur Strafe, indem er sie auf beide Seiten
der Milchstrasse versetzte, von wo aus sie einander nur ansehen, aber nicht
miteinander sprechen konnten. Nur einmal im Jahre, am 7. Tage des 7. Monats,
treffen beide Sternbilder zusammen.
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Der Phönix

Vogel Phönix sonder Ruh
Fliegt der alten Heimath zu.
Schwebet weit ins Meer hinaus,
Schaut nach seinem Weibchen aus.
Doch wie sehr er auch sich müht,
Nirgends er sein Weibchen sieht.

Welch Gefühl, mit dem ich spät
Diese Halle heut' betret!
Eine Jungfrau hold und rein
Wohnt in jenem Kämmerlein.
Ach! so fern in meiner Näh'!
In der Seele thut mir's weh.
Könnten Brust an Brust wir ruh'n
Wie's die Yuan-yang-Vögel thun!
(S. 7)

Sze-ma Hsiang-ju (gest. 126 v. Chr.)
(soll durch dieses und das folgende Gedicht, welche er zur Zither sang,
das Herz der schönen Wên-tschün gewonnen haben, die er Nachts
aus dem Hause ihres Vaters Cho Wang-sun, bei welchem er zu Gast war, entführte)

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Der Phönix
(Ein Gleiches)

Komm', du Phönixhenne mein,
Niste bei dem Phönix dein!
Sollst stets meine Gattin sein,
Pflegen uns're Jungen klein!

Liebe uns're Brust bewegt;
Unser Herz in Eintracht schlägt.
Sehn wir uns um Mitternacht,
Niemand ist, der uns bewacht.

Lass uns beid' zusammen fliehn,
Weit, weit zu den Wolken hin,
Willst du nicht verstehn mein Herz,
Lässt du mich in Qual und Schmerz.
(S. 7)

Sze-ma Hsiang-ju (gest. 126 v. Chr.)
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Flussfahrt

Vom Herbstwind fortgetrieben
Die weissen Wolken flieh'n.
Es welken Bäume und Sträucher;
Die Gänse zum Süden zieh'n.

Nur Orchideen noch prangen
Und Chrysanthemen blüh'n.
Ich denke an meine Holde,
Sie kommt mir nicht aus dem Sinn.

Im Hochdeckschiffe* fahr' ich
Den Fen** entlang, den schnell'n.
Es treibt inmitten des Stromes,
Aufwühlend die weissen Well'n.

Zu Flöten- und Paukenklängen
Ein Ruderlied erschallt,
Doch stärker als all' diese Freuden
Ist meines Schmerzes Gewalt.
Wie lange bleibt Kraft und Jugend?
Wie bald, so sind wir alt!
(S. 8)

Han-Kaiser Wu-ti (140-88 v. Chr.)

* Prunkschiffe mit hohem Deck werden in der Hanzeit öfter erwähnt
** Ein Nebenfluss des Huang-ho in Schansi

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Macht der Schönheit

Ein wunderbares Weib im Norden wohnt,
Die einsam dort in ihrer Schönheit thront.
Blickt sie ein Fürst nur an ein einzig' Mal,
Kommt einer seiner Städt' im Reich zu Fall.

Doch schaut er sie zum zweiten Male an,
So ist es um sein ganzes Reich gethan.
Und fällt die Stadt und stürzet selbst der Thron,
Das schöne Weib wird nimmer ihm zum Lohn.
(S. 8-9)

Li Yen-nien
(welcher das Gedicht vor dem Kaiser Han Wu-ti 140-88 v. Chr. recitirt haben soll,
worauf der Kaiser sagte: Ach, wenn es eine solche Frau gäbe!
Einer der Hofleute erwiderte, dass der Dichter selbst eine solche Schwester habe.
Der Kaiser liess dieselbe zu Hofe laden, fand die Beschreibung richtig
und nahm Li-fu-jen in seinen Harem auf.)

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Abschied

Seit ein Löckchen von meinem Haare
Meinem Bräutgam gesteckt ward in's Haar*
Und Mann und Frau wir geworden,
Nur Liebe stets zwischen uns war.

In dieser Nacht, erst der ersten,
Die kosend wir haben verbracht,
Ward unserem reinen Glücke
Ein jähes Ende gemacht.

Es treibt meinen Mann als Krieger
Der Drang in die Ferne hinaus,
Auf springt er vom Lager und spähet,
Wie weit schon die Nacht sei, aus.

Verglommen sind alle Sterne.
Da hält es ihn nimmermehr;
Er eilt in den Kampf, nicht wissend,
Ob je er wohl wiederkehr'.

Er hält meine Hand zum Abschied,
Das Auge von Thränen getrübt,
"Gehab' dich wohl und vergiss nicht,
Wie sehr wir uns haben geliebt."

"Wenn ich am Leben bleibe,
So kehre ich heim zu dir,
Und sterbe ich, so bewahre
Stets ein Gedenken mir."
(S. 9)

Su-wu
(Kammerherr des Kaisers Han Wu-ti, welcher ihn im Jahre 100 v. Chr.
als Gesandten zu den Hsiung-nu schickte, wo er 19 Jahre gefangen wurde)

* Eine alte Hochzeitsceremonie

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 Die Königin von Wusun

Mein Geschlecht hat mich
Ach! vermählt,
Mich geschickt weit, weit
In die Welt.

In dem fernen Land
Der Wusun,
Ach! des Königs Weib
Bin ich nun.

Ach! in einem Zelt
Wohn' ich jetzt,
Und die Hauswand Filz
Mir ersetzt.

Meine Speise ist
Fleisch allein,
Kumyss schenkt dazu
Man mir ein.

Ach! es brennt mein Herz,
Seit ich hier,
Nur der Heimat denkt's
Für und für.

Gelber Kranich sein
Möcht ich gleich,
Flög' dann schnell zurück
In mein Reich.
(S. 10)

Prinzessin Hsi-tschün
(Diese Perle chinesischer Dichtkunst, welche von Parker in seinem
"Philological Essay" (Giles Dict.) gebührend gewürdigt wird,
soll eine chinesische Prinzessin, Hsi-tschün, Tochter des Fürsten
von Tschiang-tu, welche etwas im Jahre 100 v. Chr. an einen
alten Kirghisen-Fürsten Kun-mo verheirathet wure, zur Verfasserin haben.
Das Metrum, welches wie ein Seufzer klingt, ist genau dem Original nachgebildet.)

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Der Fächer

Aus einem Seidenstücke zart,
Wie Schnee und Reif so weiss,
Der Fächer hier geschnitten ward,
Rund wie des Vollmonds Kreis.*

Im Aermel und im Busen auch
Mein Herr ihn mit sich führt.
Es weht ihn an ein kühler Hauch,
Wenn seine Hand ihn rührt.

Doch ach! schon kommt die Sonnenwend',
Ein frischer Herbstwind weht.
Der Sommer ist nunmehr zu End',
Die Sonnengluth vergeht.

Den armen Fächer fasst mein Herr,
Wirft in den Kasten ihn,
Denn er hat seine Gunst nicht mehr
Und seine Zeit ist hin.
(S. 11)

Pan Tschie-yü
(Palastdame des Han-Kaisers Tscheng-ti, 32-6 v. Chr., Grosstante
des Geschichtsschreibers Pan-ku. Als sie in der Gunst ihres kaiserlichen
Herrn durch die nicht minder berühmte Tschau-fei-yen, Tschau die "fliegende Schwalbe",
verdrängt war, schrieb sie dieses, ihr Schicksal schilderndes Gedicht.)

* Kreisrunde, nicht zusammenfaltbare Fächer werden noch heute
viel von Chinesen benutzt.

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Woran ich denke

Der Liebsten denk' ich für und für
Auf dem Tai-schan,* dem hohen.
Wie gerne eilt' ich hin zu ihr:
Die Liang-fu-Felsen** drohen.
Nach Osten hin mein Auge schweift,
Die Thräne auf den Pinsel träuft.

Ein Schwert gab die Geliebte mir
Mit goldkrustirter Klinge.
Rubinen und Smaragden ihr
Als Gegengab' ich bringe,
Doch ach! der Weg ist gar zu weit,
Um zu ihr zu gelangen.
Ich trag mit mir umher mein Leid
Und quälendes Verlangen.
(S. 11-12)

Tschang-hêng (78-139 n. Chr.)
(berühmter Astronom und Mathematiker)

* Berg in der Provinz Schantung
** Name eines Gebirges in den Nähe des Tai-schan

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Der Liebsten denk' ich für und für;
Sie ist nach Kweiling* zogen,
Wie gerne eilt' ich hin zu ihr:
Hoch roll'n des Hsiang** Wogen.
Nach Süden hin mein Auge schweift,
Die Thräne auf den Rocksaum träuft.

Sie sandte eine Laute mir
Verzieret mit Korallen.
Als Gegengabe schenk' ich ihr
Aus Jad'*** geschnitzt zwei Schalen.
Doch ach! der Weg ist gar zu weit,
Um zu ihr zu gelangen.
Mein Herz ist voller Traurigkeit,
Von Gram und Schmerz umfangen.
(S. 12)

Tschang-hêng (78-139 n. Chr.)
(berühmter Astronom und Mathematiker)

* Hauptstadt der Provinz Kwangsi
** Ein südlicher Nebenfluss des Yangtsze
*** Jade oder Nephrit, ein in China geschätzter Halbedelstein

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Der Liebsten denk' ich für und für,
Sie weilt in Hanyang* eben.
Wie gerne eilt' ich hin zu ihr,
Rings Lössgebirg' sich heben.
Nach Westen hin mein Auge schweift,
Die Thräne auf den Mantel träuft.

Sie schickte einen Kragen mir,
Besetzt mit Zobelfelle.
Ich schenke dafür Perlen ihr,
Weiss wie des Mondlicht Helle,
Doch ach! der Weg ist gar zu weit,
Um zu ihr zu gelangen.
Was thu' ich? Schmerz und Bitterkeit,
Mir ganz das Herz bezwangen.
(S. 12-13)

Tschang-hêng (78-139 n. Chr.)
(berühmter Astronom und Mathematiker)

* Das heutige Kung-tschang-fu in der Provinz Kansu

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Der Liebsten denk' ich für und für,
Am "Wildgansthor"* sie weilet.
Wie gerne eilt' ich hin zu ihr:
Ein wilder Schneesturm heulet.
Nach Norden hin mein Auge schweift,
Die Thräne auf den Gürtel träuft.

Es schenkte die Geliebte mir
Ein Deckchen, das sie stickte.
Aus grünem Edelsteine ihr
Ich gern ein Tischchen schickte.
Doch ach! der Weg ist gar zu weit,
Um zu ihr zu gelangen.
Es wächst des Schmerzes Heftigkeit
Des Herzens Qual und Bangen.
(S. 13)

Tschang-hêng (78-139 n. Chr.)
(berühmter Astronom und Mathematiker)

* Yen-mên, Name einer Ortschaft in der Provinz Schansi

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Vereinsamt

Dem Morgenthaue gleichet,
Das flüchtige Leben wohl,
Soweit's auf Erden reichet,
Ist's müh- und sorgenvoll.

Die Schmerzen und die Leiden,
Sie stellen gar bald sich ein,
Und leider wollen die Freuden
Stets lang erwartet sein.

Des Tags noch denk ich heute -
Wie liegt er weit und fern -
Als ich zum wilden Streite
Sah ziehen meinen Herrn.

Ihn wieder heimzuholen,
Schickt' ich den Wagen aus,
Leer sah ich fort ihn rollen,
Und leer kam er nach Haus.

Wenn seine Brief' ich lese,
Wird mir's so weh um's Herz,
Und will man, dass ich esse,
Vermag' ich's nicht vor Schmerz.

In meinem leeren Zimmer,
Da sitz' ich ganz allein,
Ein Freund naht sich mir nimmer,
Der Muth mir flösste ein.

Die Augen kann ich schliessen
Zum Schlummer nicht bei Nacht,
Hab' oft auf meinem Kissen
In Schmerzen sie durchwacht.

Der Kummer, als er nahte,
Ein Ring war's ohne End';
Möcht', dass wie eine Matte
Ich ihn abwälzen könnt'.
(S. 13-14)

Tsin-tschia (2. Jh. n. Chr.)

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Getäuschte Erwartung

Vom Ostthor her schritt fröhlich ich feldein -
Ein frischer Wind mir dort entgegen kam -
Ich dacht' an meinen Schatz im Kämmerlein,
Wie Hut und Kleid ich ihm entgegennahm.

Noch kommt zum Stelldichein er nicht herbei,
Am Wege sehe nur ich fremde Leut':
Ich denke still für mich, wie schön er sei,
Und wie auch er sich meiner Schönheit freut.

Dass seine Sinne wirklich an mir hangen,
Das sagen mir am Arm die goldnen Spangen,
Und dass sein Streben ganz mir zugewandt,
Verbürgen mir die Ringe an der Hand.

Zum Zeichen, dass zum Schatz er mich erkor,
Hing beide Perlenring' er mir an's Ohr;
Ein Unterpfand, dass er mich liebt so warm,
Ist's Säckchen mit Parfum an meinem Arm.

Was sagt mir, dass er meiner eingedenk?
Die Ring', geschlungen um das Handgelenk.
Wodurch hat seine Gunst er kundgethan?
Durch Perlengürtel, Seidenfransen dran.

Was macht mir seine Freundschaft offenbar?
Der goldplattirte Pfeil in meinem Haar.
Wie hat den Trennungsschmerz er abgelenkt?
Durch Schildpattnadeln, die er mir geschenkt.

Was gab er mir zum Zeichen seiner Freude?
Drei weise Röck' aus zarter, weicher Seide.
Wodurch erheitert er den trüben Sinn?
Durch zwei schneeweisse Kleider aus Musslin.
(S. 16)

Fan-tschin (gest. 215 n. Chr.)

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Wohin entbot er mich zum Stelldichein?
Am Fuss des Ostbergs sollt' ich treffen ihn.
Schon wird es Tag, doch er stellt sich nicht ein:
Der Thalwind weht an meinen Kleidern hin.
Unstät schweif' ich umher, der Blick wird trüb:
Vergebens schau' ich aus nach meinem Lieb.

Wohin entbot er mich zum Stelldichein?
Am Südabhang wollt' stehen er bereit.
Schon Mittag ist's, doch er stellt sich nicht ein;
Im Südwind flattert hin und her mein Kleid.
Vergebens spähe ich wohl in die Weite;
Der Sehnsuchtsschmerz durchwühlt mein Eingeweide.

Wohin entbot er mich zum Stelldichein?
Am Westberg wollt' er harren meiner traut.
Die Sonne sinkt, doch er stellt sich nicht ein;
Ich wandle müden Schritts und seufze laut.
Von fernher fühl' ich wehn den Wind, den kalten,
Er hebt und senket meines Kleides Falten.

Wohin entbot er mich zum Stelldichein?
Zum Nordberg wollte kommen er geschwind.
Schon ist es Nacht, doch er stellt sich nicht ein;
In meinen Mantel bläst ein eisiger Wind.
Bange Erwartung raubt mir jede Ruh',
Schmerz und Verzweiflung schnürt die Brust mir zu.
(S. 16-17)

Fan-tschin (gest. 215 n. Chr.)

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Mein Liebreiz ihn nicht mehr gefesselt hält,
Da er die Traute sein so schnell verliess.
Als er zum Stelldichein mich hat bestellt,
War seiner Liebe ich noch ganz gewiss.

Die Kleider hochgeschürzt schritt ich durch's Grün,
Und dacht', mein Liebster ist nicht ränkevoll.
Jetzt, da ich garstig, hässlich für ihn bin,
Weiss ich nicht, wohin ich mich wenden soll.
Was ich geliebt, muss ich verloren wähnen:
Wie Seidenfäden fliessen meine Thränen.
(S. 17)

Fan-tschin (gest. 215 n. Chr.)

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Tsai-yen's Klage

I.
Wenn es dem Himmel
Nicht an einem Auge gebricht,
Warum denn sieht er
Mich in der Verbannung hier nicht?

Und wenn die Gottheit
Noch nicht ihre Allmacht verliess,
Wie kommt's, dass sie mich,
Vom Südmeer zum Nordpol verstiess?

Ich hab' nicht wider
Des Himmels Gebote gefehlt.
Warum hat er mich
Mit solch einem Gatten vermählt?*

Ich hab' die Gottheit
Beleidigt auch nicht durch mein Thun.
In Wüsteneien
Warum denn verbannt sie mich nun?

Beschwicht'gen möcht' ich
Wohl durch dieses Liedchen mein Herz.
Kaum ist's verklungen,
Durchzuckt meine Brust neuer Schmerz.


II.
Wie ohne Grenzen
Der Himmel, die Erde ohn' End',
In meinem Busen
So endlos der Kummer auch brennt.

Das Menschenleben
Es flieget vorüber so bald,
Schnell wie ein Füllen
Setzt über den klaffenden Spalt.

Ich kann nicht scherzen,
Versagt ist mir jegliche Freud',
Obwohl mir lächelt
Der Jugend so liebliche Zeit.

Dem Himmel droben,
Ihm möchte ich klagen mein Leid,
Dem azurblauen,
Umsonst, denn er ist gar zu weit.

Nur leere Wolken
Und Dunstmassen sehe ich dort
Dies Lied des Kummers
Wer trägt's in die Ferne wohl fort?


III.
Bei diesem Liede
Da ist mir so traurig zu Sinn:
Des Sohnes** gedenkend,
Von dem ich geschieden jetzt bin.

Die Sonn' im Osten
Den Mond doch im Westen kann sehn.
Wir sind getrennt ganz,
D'rum fühl' ich das Herz mir vergehn.

Das trübe Sinnen
Verscheucht auch das Schmerzenskraut*** nicht,
Zum Saitenspiel selbst
Vor Kummer die Kraft mir gebricht.
_

Von meinem Sohn fort
Kehrt' heim ich ins Vaterland jetzt.
Mein früh'res Leiden
Ward schnell durch ein neues ersetzt.

Mit blut'gen Thränen
Klag' bitter den Himmel ich an,
Der mich erschaffen
Und solches mir angethan.
(S. 18-19)

T'sai-yen = T'sai-Wendschi (Ende des 2. Jh.s n. Chr.)
(Die drei Gedichte sind dem Liedercyclus von 18 Gedichten der Dichterin entnommen.
Sie war vermählt mit Tung-see, wurde aber im Jahre 194 n. Chr. bei einem Einfall
der Hsiung-nun von diesen geraubt und von ihrem Fürsten geheirathet, dem sie
zwei Söhne gebar. Später wurde sie für 1000 Goldstücke wieder losgekauft
und ihrem ersten Manne zurückgegeben.)

* Der Fürst der Hsiung-nu
** Einer der beiden Söhne, die T'sai-yen im Lande der Hsiung-nu zurücklies
*** Die Taglilie, Hemerocallis graminea, soll die Kraft haben,
Schmerzen vergessen zu machen.

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Sehnsucht

Der hohe Altan steht umflossen
Von leuchtendem Mondesglanz,
Auf allen Seiten umspielet
Ihn flimmernder Lichterglanz.

Ein Weib steht auf dem Altane,
Das Herz von Trauer erfüllt.
Manch' Schmerzenslaut ihren Lippen
Und mancher Seufzer entquillt.

Wer ist die Frau wohl, die also
Sich grämt und in Kummer entbrennt? -
"Ein Weib, deren Mann in der Ferne,
Seit Jahren von ihr getrennt."

"Seit er ist von mir gegangen,
Es mögen zehn Jahre wohl sein,
Seit der Zeit leb' ich verlassen
In einsamer Kammer allein."

"Mein Mann gleicht dem Staub, der am Wege
Vom Wind in die Höhe geweht,
Ich dem Staub, der im trüben Wasser
Hinab in die Tiefe geht."

"Der eine schwebet nach oben,
Der andre zu Boden sinkt.
Wann kommt wohl die Zeit, die beide
Wieder zusammenbringt."

"Ich möchte sein der Südwestwind,
Wie wollt ich fliegen voll Lust
Zu ihm, dem fernen Geliebten,
Mich schmiegen an seine Brust!"

"Und will der ferne Geliebte
Den Busen nicht öffnen - dann
Bleibt mir nichts mehr, woran sich
Mein Herz noch klammern kann."
(S. 20)

Tsau-tschih (192-232 n. Chr.)
(Dritter Sohn des Usurpators Tsau-tsan und Bruder des ersten Wei-Kaisers.)

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Verstossen

I.
Die Wasserlinsen schwimmen auf dem Teiche
Und weh'n vereint nach Ost und Westen hin.
Seit ich schied aus des Vaters Machtbereiche,
Durch Hochzeit meinem Mann vereint ich bin.

Bei Tag und Nacht nur auf sein Glück besonnen,
Nichts liess ich je zu schulden kommen mir.
So hatt' ich seine Neigung einst gewonnen:
Wie Harf' und Laute harmonirten wir.

Was hat jetzt seine Liebe so verdunkelt,
Dass er mich von sich stiess und weilt so fern,
Orion gleich, der nur des Abends funkelt?
Und niemals schaut den hellen Morgenstern?

Der Essigbaum, auch er pflegt zu erblühen,
Doch anders blühen Zimmt und Orchideen.
Man kann auch für den zweiten Mann erglühen,
Doch erste Lieb' ist stets ganz anders schön.

Die flieh'nden Wolken kehren oft zurücke,
Wie, - wenn des Gatten Lieb' zurück mir käm', -
Ich seufze, himmelwärts die Blicke,
Weiss nicht, wo für den Schmerz die Wort' ich nehm'.

Es eilt der Mond, die Sonn' unstätig weiter;
Der Menschen Leben ist ein flüchtig Wall'n.
Es klagt der Wind und dringt in meine Kleider;
Thautropfen gleich die Thränen mir entfall'n.
Mein Körbchen hol' hervor ich mir und nähe
Am Seidenkleid, - ein Trost in meinem Wehe.


II.
Den Fuss des Südabhangs dicht beschatten
Die Schlinggewächse, eine grüne Welt.
Als jung vermählt ich war mit meinem Gatten,
War er von Lieb' und Güte ganz beseelt.

Auf Pfühl und Matte herzten wir uns beide,
Und Nachts die Decke uns gemeinsam war;
Voll harmonirten wir in unsrer Freude
Gleichwie im "Kirschbaumlied"* Harf und Gitarr'.

Die Zeit ist hin, mir will die Sonn' erblassen:
Des einst Geliebten Herz ist fremd mir jetzt;
Er liebet mich nicht mehr, hat mich verlassen,
In tiefster Seele fühl' ich mich verletzt.

Wohin in's Freie lenk' ich meine Schritte?
Ich trete traurig in den Nordwall ein.
Auf einem Baum seh' ich in Waldesmitte
Geschmieget Hals an Hals zwei Vögelein.

Ich breche einen Zweig, aus tiefem Herzen
Aufseufzend schwer, das Kleid von Thränen feucht.
Die lieben Vöglein kennen meine Schmerzen
Und klagen laut den Kopf zu mir geneigt.

Zwei Fisch' in einem Teich wir waren beide,
Orion gleich und Venus** sind wir heut',
Einst war für mich das Leben eitel Freude,
Jetzt ist es Kummer nur und bitt'res Leid.
Verschmäht von ihm, gebeugt vom Schicksalsschlage,
Wo find ich Kraft, dass ich mein Leid noch trage.
(S. 21-22)

Tsau-tschih (192-232 n. Chr.)

* ein Gedicht des Schiking
** Orion und Venus sehen sich niemals

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Getrennt

Eine Nacht nur verband mich
Als Gattin dem Mann,
Am Morgen schon fand ich
Verlassen mich dann.

Im Winde, dem kühlen,
Rauscht das herbstliche Gras,
Es zirpen die Grillen
Ohn' Unterlass.

Vor Kälte laut jammert
Herbst-Heimchen zugleich,
Dieweil es umklammert
Einen trockenen Zweig.

Im Wind weht und schwanket
Der Zweig immerfort;
Das Herbst-Heimchen wanket
Und wechselt den Ort.

Hin und her so zu schwanken
Schafft ihm nicht solch ein Leid,
Als trübe Gedanken
Der Wechsel der Zeit.

Auf endlosen Bahnen
Fliehen Mode und Jahr;
Drum lässt sich nicht ahnen,
Wann wir wieder ein Paar.

Möcht als zwei gelbe Reiher
Wir flögen zugleich,
Ueber bläuliche Weiher,
Unser glückliches Reich.
(S. 24-25)

Kaiser Wei Wen-ti (220-227 n. Chr.)

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Einst und jetzt

Einst haben wir beid'
Wie Körper und Schatten uns innig geliebt.
Jetzt sind wir entzweit,
Wie die Wolke zerreist und der Regen zerstiebt.

Einst haben wir beid'
Wie harmonische Töne geklungen zusamm'.
Jetzt sind wir entzweit,
Wie die welkenden Blätter abfallen vom Stamm.

Einst haben wir beid'
Wie Gold geleuchtet und edles Gestein.
Jetzt sind wir entzweit,
Wie der Stern ohne Glanz und das Licht ohne Schein.
(S. 26)

Fu-hsüan oder Fu-yuan (gest. 278 n. Chr.)
(aus der Tsin-Dynastie)

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Durch die Luft

Wie sind in Yen* die Frauen,
Die Mädchen von Tschau* so schön.
Doch ach! so fern, und es schauen
Dräuend die Bergeshöh'n.

Die Wolken seien mein Wagen,
Und meine Pferde der Wind! -
Edle Steine die Berge nur tragen;
Nur im Erdreich die Pflanze grünt.**

Die Wolken fliessen und wanken,
Der Wind hält plötzlich an.
Mein Herz ist voll Sehnsuchtsgedanken,
Die niemand bannen kann.
(S. 26-27)

Fu-hsüan oder Fu-yuan (gest. 278 n. Chr.)
(aus der Tsin-Dynastie)


* zwei alte Königreiche in Nordchina
** Jedes Ding hat seine besondere Natur, daher lässt sich auch die Wolke
nicht als Wagen benutzen.
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Der Schatten

Sein Wagen rollt in die Ferne hin,
Die munteren Rosse springen.
Ihm folgt mein Herz; zu vergessen ihn,
Das will mir nimmer gelingen.

Wo führt jetzt der Weg den Geliebten mein?
Wird im Westen nach Tsin er gelangen.
O könnte ich der Schatten sein,
Und an seinem Leibe hangen!

Doch da, wenn's dunkel um ihn her
Sein Schatten wird zunichte,
So wünsche ich, dass stets mein Herr
Sich freue am Sonnenlichte.
(S. 27)

Fu-hsüan oder Fu-yuan (gest. 278 n. Chr.)
(aus der Tsin-Dynastie)

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Frauenelend

O, wie traurig ist's,
Eine Frau zu sein!
Giebt es schlimm'res wohl,
Elenderes? Nein.

Als Familienhort
Gilt allein der Knab',
Wie ein Gott kommt er
Auf die Erd' herab.

Den vier Meeren zu
Drängt sein kühner Muth:
Fern zehntausend Li
Trotzt er Sturmeswuth.

Keine Lieb' und Freud'
Grüsst das Töchterlein,
Für ihr Haus ist sie
Nicht ein Kleinod fein.

Jungfrau, zieht sie sich
Tief in's Haus zurück
Und verbirgt ihr Haupt
Scheu vor Männerblick.

Fern vom Heimatsort
Weint sie manche Thrän',
Wild, wie Regen strömt
Aus den wolk'gen Höh'n.

Einer Magd gleich kniet
Sie vor ihrem Herrn,
Grüsst ernst wie ein Gast,
Der genaht von fern.

Das Gesichtchen hold
Senkt sie nieder ganz:
Aus dem Mündchen roth
Strahlt der Zähne Glanz.

Durch des Gatten Lieb'
Ist sie froh allein:
Sonnenblume selbst,
Wünscht sie Sonnenschein.

Heiss wie Feuer fühlt
Sie ihr Ungemach,
Und an ihrem Leid
Trägt sie hundertfach.

Jugendfrische - ach!
Welket mit der Zeit,
Sie, die nur allein
Den Gemahl erfreut.

Wie sein Schatten hing
Einstmals sie am Mann,
Gleich den Hu und Tsin*
Sind sie fremd sich dann.

Hu- und Tsin-Leut' doch
Sehn sich noch von fern:
Er steht ferner ihr
Als der fernste Stern.
(S. 27-29)

Fu-hsüan oder Fu-yuan (gest. 278 n. Chr.)
(aus der Tsin-Dynastie)


* Die Hu sind ein Mongolenstamm, gegen welchen die Chinesen zur Tsin-
und Han-Zeit zahlreiche Kämpfe zu bestehen hatten.
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Ausdauer

Es steht ein edler Baum
Im Morgensonnenschein,
Ihm hüllen Eis und Reif
Die grünen Zweige ein.

Sein Herz bleibt unentwegt,
Er ändert nicht den Sinn,
Selbst in der kält'sten Zeit
Verliert er nie sein Grün.
(S. 29)

Lu-tschi (261-303 n. Chr.)
(berühmter Feldherr)

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Wie ist das holde Kind
Von mir so weit getrennt,
Als wenn am Himmel sie
Auf Wolken leuchtend ständ'!

Je mehr ich ihrer denk',
Wächst meine Leidenschaft,
Und meine Klage wird
Vom Winde fortgerafft.

Zum Himmel aufzuschaun,
Mein Haupt empor sich hebt,
Gerad' wie jener Baum
Empor zur Sonne strebt.
(S. 29)

Lu-tschi (261-303 n. Chr.)
(berühmter Feldherr)

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Stromfahrt

Pfirsichblatt, mein Pfirsichblatt!*
Auf des Stromes Welle
Treibt mein Kahn; bin rudermatt,
Denn der Strom fliesst schnelle.
Ist die Fahrt auch noch so schwer,
Acht' ich's kaum: nicht lange mehr,
Bist du ja zur Stelle!
(S. 30)

Wang Hsien-tschih (4. Jh. n. Chr.)

* Name der Geliebten des Dichters

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Liebesgemeinschaft

I.
Brüllt der Tiger in den Klüften,
Saust der Sturmwind durch das Thal;
Tanzt der Drache in den Lüften,
Rollt dahin der Wolkenschwall.*

Gleichklang herrscht im Tongetriebe,
Gleiche Kräfte zieh'n sich an:
Also zieht auch mich die Liebe
Stets zu dem geliebten Mann.

Wie die Schatten nie verlassen
Jenen Körper, der sie schuf,
Kann den Theuren ich nicht lassen,
Folge freudig seinem Ruf.

Bietet Reis man uns beim Mahle,
Muss von einem Halm er sein,
Und nur in der Doppelschale
Schenket man den Trunk uns ein.

Unser beider Kleid ist Seide,
Doppelfädiger Brokat,
Und des Nachts umhüllt uns beide
Eine Decke ohne Naht.

Wenn mein Herr zu Hause weilet,
Sitze ich auf seinem Schoss,
Und wenn er von dannen eilet,
Lässt er meine Hand kaum los.

Wenn mein Schatz sich still erweiset,
Laufe ich nicht ein und aus,
Und wenn immer er verreiset,
Lässt er nimmer mich zu Haus.

Uns're Eintracht gleicht der Liebe
Zweier Yuan-yang Vögel wohl,
Und sie ist gleich jenem Triebe,
Der den Schollen** eignen soll.

Ist so stark, dass sie zerschnitte
Einen Diamantenstein,
Könnte auch mit keinem Kitte
Fester noch gefüget sein.

O, ich möchte, dass enthoben
Stets wir sei'n vom Trennungsschmerz,
Und dass wir in eins verwoben,
Nur ein Leib und nur ein Herz!

Dass wir als ein Körperwesen
Beide lebten im Verein
Und, wenn uns der Tod erlesen,
Staub in einem Sarge sei'n!


* Die Chinesen glauben, dass das Brüllen des Tigers den Wind
und das Tanzen des Drachen die Bewegung der Wolken hervorruft, indem
zwischen den betreffenden Tönen und Bewegungen die gewisse Harmonie besteht.
** Die Mandarin-Enten Yuan-yang und die Schollen gelten als Muster treuer Liebe.
Von den Schollen wird angenommen, dass sie nur ein Auge hätten und dass deshalb
immer zwei, um besser sehen zu können, nebeneinander schwömmen.
Daher der Name: Pi-mu-yü, d. h. Fische, welche ihre Augen zusammenlegen.


II.
Vom Magnetstein angezogen
Wird bewegt die Nadel leicht;
Und vom Brennglas angesogen,
Vom Papier der Rauch aufsteigt.

Wenn zwei Töne sind symphonisch,
Klingt's zusammen hell und rein:
Zwei Naturen, die harmonisch
Wirken auf einander ein.

Zwischen mir und meinem Gatten
Herrschet schöne Harmonie,
Folge ihm gleich seinem Schatten,
Der sich trennt vom Körper nie.

Eine Deck' uns Nachts umhüllet,
Ungetheilt und ungestückt,
Und die Wolle, die sie füllet,
Ist auf gleichem Feld gepflückt.

Will uns Sonnengluth erhitzen,
Fächelt uns ein Fächer kühl;
Schulter wir an Schulter sitzen,
Wenn es kalt, auf gleichem Pfühl.

Seh' ich lächeln den Geliebten,
Bin ich glücklich auch und froh.
Stets, wenn Sorgen ihn betrübten,
Auch von mir die Freude floh.

Kommt mein Mann einhergegangen,
Geh' an seiner Seit' ich mit,
Und wohin ihn mag' verlangen,
Folg' ich ihm auf Schritt und Tritt.

Wie der Greif sich nie entzweit je
Mit Jerboa,* seinem Freund,
Trifft auch uns nie so ein Leid je,
Bleiben immer wir vereint.

Trennen möchten wir uns nimmer
Bilden einen Leib zu zwein,
Leben froh in einem Zimmer,
Todt in einem Sarge sein.
(S. 30-33)

* Der Greif und das Jerboa (eine Art Murmelthier), beides Fabelthiere,
gelten als unzertrennliche Freunde

Yang-fang (Tsin-Epoche 265-420 n. Chr.)

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Der seltene Baum

Im Süden des Waldes raget
Ein seltener Baum empor,
Es brechen, den Frühling zu grüssen,
Seine weissen Blüthen hervor.

Sie haben in üppiger Fülle
Die langen Aeste verdeckt,
Die rost'gen Triebe sind alle
Unter grünen Blättern versteckt.

Und wenn die Blüthenzweige
Sanft säuseln in linder Luft,
So steigt empor aus den Blüthen
Ein rosiges Wölkchen Duft.

Ich rühme den schönen Baum mir,
Er könnte nicht prächtiger sein,
Gern nähme ich ihn und pflanzte
In meinem Haus ihn ein.

In seinem Schatten Abends
Ich mich ergehen wollt'
Und Tags die Pracht der Blüthen
Mein Herz erfreuen sollt'.

Doch ach! die Wurzeln wuchsen
Tief in den Boden ein,
Sie sind so stark - mein Hüttchen,
Es ist so eng und klein.

Den schönen Baum ich nimmer
Zu mir verpflanzen kann,
Und alle meine Seufzer
Sie ändern nichts daran.
(S. 33)

Yang-fang (Tsin-Epoche 265-420 n. Chr.)

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Treue Liebe

Wesshalb ich so einsam traure
Und meine Gedanken so grau?
Ich seh', wie des Lebens Freuden
Vergeh'n gleich dem Morgenthau.

Doch magst du durch weite Strecken
Von mir auch geschieden sein,
Du hängst noch an mir - ich weiss es -
In Liebe und in Treu'n.

Wenn deine Gedanken mir folgen
Aus weiter Ferne mir nah'n,
So fühlt's mein Herz, magnetisch,
Erschauernd bebt es dann.

Und sind wir auch nicht beisammen,
Und unsere Körper getrennt,
So reichen doch unsere Gedanken
Sich auf halbem Wege die Händ'.

Bleibt nicht auch im tiefsten Winter
Auf dem Berge die Fichte sich gleich,
Und bewahrt nicht im Thal die Cypresse
Im Froste ihr grünes Gezweig?

Man sagt nicht, dass, wenn man selten
Sich sieht, die Liebe zerrinnt:
Durch Trennung und durch Entferntsein
Stets neue Kraft sie gewinnt.
(S. 34)

Pan-yüch (Tsin-Dynastie 265-420 n. Chr.)

Zur Vergleichung füge ich die ganz wörtliche Wiedergabe des chinesischen Textes:
1) Allein trauern, wie, woran leidenschaftlich denken?
Menschen Leben wie Morgen Thau
2) Langgestreckt, entfernt wohnen Ende Gebiet, Denken an,
hängen an, meinen gewöhnlich
3) Dein Gefühl da kommt verfolgt, Mein Herz auch wendet um, blickt hin
4) Körper getrennt, nicht zu einander kommen, Lebhafte Empfindung verschlungen Mitte Weg
5) Nicht sehen auf Berg Fichte tiefer Winter nicht verändert,
Nicht sehen Bergthal Cypresse. Jahr kalt bewahrt eine Art
6) Nicht sagen, spärlich sehen entfremdet, In Ferne getrennt, kräftig fest.

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Abschied

Handschüttelnd wir auf ewig Abschied nahmen, -
Vor Schluchzen bringe ich kein Wort herfür,
Die Wolken ziehen sich um mich zusammen,
Die Vöglein schau'n im Fluge scheu nach mir.
(S. 35)

Liu-kun (Tsin-Dynastie 265-420 n. Chr.)

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Der Weber

Reines Glück hab' ich empfunden,
Schauend soviel Lieblichkeit,
Wünschte, dass mit ihr verbunden
Ich für alle Ewigkeit.
Ach! die Fäden mir entschlüpfen,
Kein Gewebe kann ich knüpfen,
All' mein Hoffen ist umsonst,
Niemals bring' ich's zum Gesponst.*
(S. 35)

Unbekannter Dichter (4.-5. Jh. n. Chr.)
(Nach einigen wäre eine Dichterin Tse-yeh aus der Tsin-Epoche 265-420 n. Chr. die Verfasserin)

* Das chinesische Wort p'i hat hier einen Doppelsinn.
Es bedeutet "Stück Seide" (Gesponst) und auch Gespons, was durch die
Übersetzung angedeutet werden soll.
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Die Weberin

Da sie gern ihn mochte leiden,
Und ihn wünschte zum Gemahl,
Hoffte sie, dass ihre beiden
Herzen würden eins einmal.
Seide wollte sie zu spinnen
Am zerbrochnen Stuhl beginnen.
Doch, sobald sie hingeblickt,
Fand sie ihr Gespinnst missglückt.
(S. 35)

Unbekannter Dichter (4.-5. Jh. n. Chr.)
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Zwei Bäume

Wenn immer mein Geliebter sich betrübet,
Fühl' auch ich Schmerz,
Und wenn zu lächeln wieder er beliebet,
So hüpft mein Herz.

Zwei Bäume sind wir, jeder zwar entspringend
Aus ander'm Stamm,
Die, sich mit ihren Zweigen eng umschlingend,
Wachsen zusamm'.
(S. 36)

Unbekannter Dichter (4.-5. Jh. n. Chr.)
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Trostlos

Ruhlos muss die Nacht ich wachen,
Wälze mich umher,
Deutlich ich das Trommelschlagen
Des Nachtwächters hör'.

Wenn bei anderen ich sehe
Unverdientes Glück,
Lässt es mir im Herzen wehe
Bitterkeit zurück.
(S. 36-37)

Unbekannter Dichter (4.-5. Jh. n. Chr.)
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Nach der Trennung

Nach dem Scheiden meine Thränen brachen
Vor mit Macht;
Dacht' ich sein, so wurden meine Klagen
Neu entfacht.

Wilder Schmerz in meinem Busen wühlte,
Gährte, schwoll;
Eingeweid' und Herz zerfleischt ich fühlte
Zoll für Zoll.
(S. 37)

Unbekannter Dichter (4.-5. Jh. n. Chr.)
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Frühling

Blüthenpracht des Pflaumenbaum'
Geht zu End' geschwinde,
Und der Weidenbäume Flaum
Fliegt umher im Winde.
Auch für mich der Lenz fing an,
Ach! ich finde nicht den Mann,
Der mein Herz verstünde.
(S. 37)

Unbekannter Dichter (4.-5. Jh. n. Chr.)
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Sonne und Mond

Seitdem fort der Liebste mein,
All mein Schmuck von Golde
Ganz verlor den hellen Schein,
Nicht mehr glänzen wollte.
Wie die Sonn', der Mond ist er!
Schnell bei seiner Wiederkehr
Nacht-Tag werden sollte!
(S. 40)

Sung-Kaiser Hsian Wu-ti (454-465 n. Chr.)

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Verlorene Liebe

Damals, als zum ersten Male
Den Geliebten ich geschaut,
Hab' ich nicht an ihm gezweifelt,
Habe ganz mich ihm vertraut.

Und als wir dann eins geworden,
Sprach er: "Nie ich von dir geh',
Nicht im Leben, nicht im Tode,
Nicht im Glücke, nicht im Weh!"

Jetzt, da er die Jugendfrische,
Meiner Wangen schwinden sah,
Hat den Schwur er längst vergessen,
Kalt, gleichgültig steht er da.

Will zurück den Pfeil ihm geben,
Und die Schildpattnadeln all',
Denn ich kann sie nicht mehr sehen,
Sie erhöhn nur meine Qual.
(S. 44)

Pau-tschau (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)

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Die beiden Schwalben

Vom Wolkenberg flogen zwei Schwalben,
Sich haschend bald hier, bald dort,
In das Frauengemach im Süden,
Durch die hohe Halle im Nord.

In meines Geliebten Kammer
Ein Nest sie möchten erbau'n,
Doch leider unter der Decke
Ein Balken ist nicht zu erschau'n.

Sie klagen laut, dass zu Ende
Der blüh'nde Lenz schon sich neigt,
Und dass, derweil sie so flattern,
Die Frühlingspracht schon entweicht.

So ziehen sie traurig zwitschernd
Von dem einst Geliebten fort;
Lehmstückchen im Schnabel, suchen
Einen Freund sie am ander'n Ort.
(S. 44-45)

Pau-tschau (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)

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Liebe und Leid

Asche, die fast kalt
Oft auf's Neu' erglüht,
Und die matte Blum'
Morgens neu erblüht.

Eiskrystalle, die
Lenzeshauch zersprengt,
Doch des Winters Arm
Neu zusammenzwängt.

Allzu oft ist fern
Der Geliebte mein,
Weilt nur kurze Zeit,
Lässt mich dann allein.

Wen'ge Stunden nur
Lacht die Liebe mir,
Aber Jahre lang
Leide ich dafür.
(S. 45)

Pau-tschau (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)

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Die Zauberschwerter

Als einst das berühmte Schwertpaar
Auseinander ist gekommen,
Hat zuvor in ihrem Kasten
Man ein hell' Geklirr vernommen.

Abend wollte es schon werden,
Aus dem Nebel troff der Regen,
Dieser Zeitpunkt war es, als man
Schied die beiden edlen Degen.

Es versank im Wu das Mann-Schwert,
Fand im Wasser seine Ruhstatt;
Eilig trug man fort das Weib-Schwert,
Es gelangte in die Tschu-Stadt.

Tief gar ist das Bett des Wu-Fluss,
Man kommt niemals bis zum Grunde,
Und von hohen Thurmdach-Thoren
Starrt die Tschu-Stadt in der Runde.

Eine grosse Trennung war es
Wie des Himmels und der Erde.
Nicht die Helle, nicht das Dunkel
Nur die Einigung erschwerte.

Doch zwei Zauberschwerter lassen
Schwerlich sich auf ewig scheiden;
Sicher sind nach tausend Jahren
Wiederum vereint die beiden.
(S. 46)

Pau-tschau (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)

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Frühlingshauch

Es treibt zwei, drei Zweig' der Zimmetstrauch,
Und drei, vier Blätter die Magnolia;
Allein mein Schatz ist immer noch nicht da;
Es lächelt meiner nur der Frühlingshauch.
(S. 47)

Pau Ling-hui (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)
(Schwester des Dichters Pau-tschau)

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Die Zither

Mein Schatz hat eine Zither
Mir zum Geschenk gemacht;
Sie ward durch einen Wand'rer
Von fern mir überbracht.

Dass mein in Lieb' er denket,
Am blanken Holz ich seh';*
Den Saiten nur erklinget
Ein Lied vom Trennungsweh.

Ich werde dieses Klanges
Gedenken immerdar,
Es bleibt zu allen Zeiten
Mein Herz unwandelbar.

Ein Lied wohl möcht' ich singen
Von holder Frühlingszeit,
Dass es in vollen Tönen
Erschalle weit und breit.
(S. 47)

Pau Ling-hui (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)
(Schwester des Dichters Pau-tschau)


* Eine gewisse Holzart mit eigenthümlichem Geäder nennen die Chinesen
Hsiang-sse-mu "Erinnerungsholz".
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Abschiedsgaben

Mein Herr gab, als zur Reise
Er sich hat angeschickt,
Mir eine Seidenrolle,
Zwei Sprüche drauf gestickt.

Auch liess, als grade nahte
Der Trennungsaugenblick,
Er mir zum Angedenken,
Dies Kissen noch zurück.

Es hält die beiden Sprüche
Mein Herz in treuer Hut,
Und bei dem Kissen denk' ich,
Wie wir darauf geruht.

Seit meines Gatten Abschied
Gar mancher Tag verfloss,
Doch fühlt' ich meine Liebe
Niemals so stark und gross.
(S. 47-48)

Pau Ling-hui (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)
(Schwester des Dichters Pau-tschau)

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Frühlingstag

Grün sprossen die Magnolienblätter,
Halbroth die Pfirsischblüthen sind,
Ein Dufthauch weht, im Seidenflore
Beim Tanze spielt der Frühlingswind.

Die blauen Königsfischer schwärmen
Ohn' Rast und Ruh den ganzen Tag.
O, könnt' ich in den Wolken schweben
Mit ihm im gleichen Flügelschlag.
(S. 48)

Schên-yoh (441-515 n. Chr.)

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Herbsttag

Schon will der helle Thau gefrieren,
Schon sind die Gräser gelb und fahl.
Der Zither Perlenklang ertönet
Im Haus, und goldner Flötenschall.

Zwei Herzen, aber eines Sinnes,
So wandeln beide wir vereint.
Lass künden dir, wie ich dich liebe!
Vergiss es niemals, nie! mein Freund!
(S. 48)

Schên-yoh (441-515 n. Chr.)

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Traumgesicht

Mancher Seufzer tönt
Durch die stille Nacht
Von dem Liebenden,
Der im Traume klagt.

Plötzlich sieht er, wie
Aus dem Himmelsthor*
Eines holden Weib's
Schatten tritt hervor.

Jener Nymphe gleich
Auf dem Berg Wu-schan,**
Läd't sie ihn zur Ruh',
Bietet Speis' ihm an.

Neben ihm zu ruh'n,
Sieht er jetzt sie nah'n,
Aufgerichtet blickt
Er sie prüfend an.

Da entweicht der Traum:
Neben ihm ist's leer;
Seine Brust benetzt
Manche Schmerzenszähr'!
(S. 49)

Schên-yoh (441-515 n. Chr.)

* Himmelsthor: Die Geister der Verstorbenen gehen durch dasselbe ein.
** Die Nymphe des Wu-schan-Berges, deren Liebesabenteuer
vom Dichter Sung-yü 300 v. Chr. besungen ist.

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Mondnacht

Schräg fällt herab des Mondes Licht,
Und lang die Schatten scheinen;
Der Blüthenstaub im Winde fliegt;
Ich denk', er ist's, doch ist er's nicht;
Möcht' lächeln - und muss weinen.
(S. 49)

Schên-yoh (441-515 n. Chr.)

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Der Tanz

Wie sie den zarten Leib bewegt,
Voll üppiger Jugendfülle,
Und die schneeweissen Arme regt
In leichter Wolkenhülle!

Die Arme hebt die schöne Maid -
Wie glänzen ihre Brauen -
Streckt aus die zarten Hände beid',
Die durch die Gaze schauen.

Ein lichter Mond ihr Körper ist
Im Wolkenstrom, dem hellen; -
Der schlanke Leib, er wogt und fliesst
Wie windbewegte Wellen.
(S. 50)

Liu-schuo (Sung-Dynastie 420-479 n. Chr.)

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Herbst

Ueber'n Fluss der Wind hinstreift -
Kalter Herbst ist's wieder -
Auf Tung-ting See's Wellen reift
Weiss der Thau hernieder.
Des Geliebten denke ich;
Ach! sein Glanz mir längst erblich,
Find' ihn nirgends wieder.
(S. 50)

Tang Hui-hsiu (Sung-Dynastie 420-479 n. Chr.)

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Erwartung

Der Herbstwind in mein Kämmerlein
Den Weg von draussen findet;
Der Vorhang glänzt im Mondenschein. -
Mein Herz vor Sehnsucht schwindet.

Das Heimchen einsam zirpt und klagt;
Mir schneidet's in die Seele:
Ich denke sein die lange Nacht.
Wie pocht mein Herz so schnelle! -

Ich denk' an dich, dem Herzen dein
Ist längst mein Bild entrücket!
Die Kissen und die Polster fein
Für wen sind sie geschmücket?
(S. 50-51)

Tang Hui-hsiu (Sung-Dynastie 420-479 n. Chr.)

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Begegnung

Als die Bäume sich umhüllten
Neu mit frischem Laub,
Und die Lüfte süss erfüllten
Wölkchen Blüthenstaub,

Bei dem Parkfest Nan-wei* selig
Den Geliebten fand;
Wieder lächelte sie fröhlich,
Als sie bei ihm stand.

Und es brach ihr eine Blüthe
Seine zarte Hand;
Nan-wei dankte seiner Güte,
Nahm das duft'ge Pfand,

Steckte es in das gewellte,
Uepp'ge Haar sich ein:
Zu des Kopfschmucks Blau gesellte
Sich sein ros'ger Schein.

Ach verwelkt schon sank die Blüthe,
Eh' der Tag entwich!
Des Geliebten Treu' und Güte
Jener Blüthe glich.
(S. 51)

Hsieh-tiau (Tsci-Dynastie 479-502 n. Chr.)

* Eine berühmte Schönheit des Alterthums,
Geliebte des Herzogs Wên von Tschin

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Der Junggeselle

In der Früh' fliegt der Fasan,
Einer ruft den andern an.
Schaarenweise schwebt entlang
Hahn und Henn' am Bergeshang.

Wie ist anders mein Geschick!
Kenne nicht Familienglück.
Lebensabend kommt heran,
Sagt, was fange ich da an?
Weh - schon fühle ich sein Nah'n,
Sagt, was fange ich Aermster an?
(S. 51-52)

Tu Mu-tse (Tsci-Epoche 479-502 n. Chr.)

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Der Spiegel

Sie stieg die Phönixtreppe
Zum ersten Mal empor,
Da schaute aus dem Spiegel
Ihr sammt'nes Aug' empor.

"Lass fest zusamm' uns halten,
So lang's der Spiegel sieht,"
Sprach sie, "uns nie vergessen,
Wenn auch das Bild entflieht."

So trägt sie mit Ergebung
Die lange Trennungszeit,
Treu harrend des Geliebten,
Härmt sich in Einsamkeit.

Der Schuld an ihrem Leide
Spricht sie den Spiegel frei,
Hofft, dass beim Wiedersehen,
Er einst noch Zeuge sei.
(S. 52)

Kau-schwang (Ende des 5. Jh.s n. Chr.)

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Die Kerze

Seitdem du fort, hab' im Gefäss von Erze
Ich Weihrauch nie mehr dargebracht;
Stets dein gedenkend gleich ich einer Kerze,
Die sich verzehrt in stiller Nacht.
(S. 52)

Wang Yuan-tschang (5. Jh. n. Chr.)

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Abend

Es versank der Sonne Gluth
Hinter'm Bergesrücken;
Still im Tann die Windsbraut ruht.
Ob wohl Sorgen drücken
In der Fern den Liebsten mein,
Frag' ich. - Nur der Mond allein
Zeigt sich meinen Blicken.
(S. 53)

Tschang-yung (5. Jh. n. Chr.)

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Su-wu's Gattin

Mein Mann hat eine Zeit bestimmt,
Wo wir uns wiedersähen,
Doch hat er diesen Zeitpunkt längst
Lassen vorübergehen.

Die Sonnenwende naht bereits
Vom Herbstwind eingeführet,
Und auf den Treppenstufen schon
Der Rauhfrost weiss gefrieret.

Auf meinem kalten Kissen ruh'
Ich einsam und verlassen,
Und schaue durch den Bettvorhang
Den öden Mond, den blassen.

Da hör' ich vom Nordwesten her
Die wilden Gänse ziehen,
Ich glaube, dass vom kalten Meer
Sie jetzt landeinwärts fliehen.

Und sieh! in ihrem Schnabel bringt
Die eine mir ein Schreiben,
Zehntausend Li weit: drin er sagt,
Dass wir getrennt noch bleiben.

Vom Scheiden und von Trennung nur
Spricht immer er auf's Neue,
Doch leider fügt er nie hinzu,
Ob mein er denkt in Treue.

Oft stehlen wilde Räuber ihm
Die Schafe aus der Hürde;
Ihm dienet nur als Hirtenstab*
Das Zeichen früh'rer Würde.

Die Seidenrolle hab' ich kaum
Gelesen bis zum Schlusse,
Da brechen Thränen schon hervor
In ungehemmtem Flusse.

Bis in den Tod bewahret ihm
Mein Herz das Treugelöbniss,
Von fern erhalt ich sein Gedicht:
"Gemeinsames Begräbniss."
(S. 53-54)

Kaiser Liang Wu-ti (502-557 n. Chr.)
(Su-wu wurde 100 v. Chr. als Gesandter des Kaisers Han Wu-ti an den
Khan der Hsing-nu geschickt. Dort hielt man ihn gefangen;
und er kehrte erst im Alter nach China zurück.)

* Su-wu hatte 19 Jahre bei den Hsiang-nu die Herden zu weiden.
Er benutzte dabei seinen Marschallstab als Hirtenstab.
_____



Schmetterlingsart

Man sieht eine Pflanze im Lenz erblüh'n,
Am Stengel hängen die Blüthen grün.

Wer immer sie sieht, all' sein Leid vergisst,
Beim Nordpalast ist es, wo sie erspriesst.

Zwei Schmetterlinge flogen einher,
Bald hier, bald dort, die Kreuz und die Quer.

Bald zog sie's herab, bald nach oben hin,
Stets blieb sich gleich der Pflanze Sinn.

Von dem Schmetterlingspaar der eine verschwand.
Warum? - ist keinem Menschen bekannt.
(S. 54)

Kaiser Liang Wu-ti (502-557 n. Chr.)
_____



Stilles Gedenken

Warum nur glaubet man,
Es sei nach meinem Sinn,
Dass ich von meinem Schatz
So lang geschieden bin?

Es haftet sein Parfum*
Noch jetzt mir am Gewand;
Noch halt ich seinen Brief,
Noch ist er nicht verbrannt.

Vom doppelfäd'gen Gurt,
Der meinen Leib umschliesst,
Träum' ich, dass unser Herz
Zugleich umschlungen ist.

Mein innerstes Gefühl
Ich nicht zur Schau gern trag';
Wie eine schöne Blum'
Die man nicht knicken mag.
(S. 55)

Kaiser Liang Wu-ti (502-557 n. Chr.)

* Die Chinesen haben Vorliebe für starke Parfums
_____



Frühlingsbotschaft

Sieh, der Sonne Purpurgluthen
Auf die Eiskrystalle fluthen;
Durch den Schnee gelb' Blümlein scheint.
Will dem Schatz ein Zweiglein schicken,
Hoffend, dass wir noch erblicken
Diesen Frühlingsmond vereint.
(S. 55)

Kaiser Liang Wu-ti (502-557 n. Chr.)
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Traurige Erinnerung

Der Baum sein grünes Laubkleid regt,
Dicht wächst die Blätterhülle;
Der Lenzwind jedes Blatt bewegt,
Und eins sich an das andere legt
In ungezählter Fülle.

Die Blüthen in der Baumeskron'
Sich fest zusammen schmiegen
In wechselvollem Farbenton;
Ach "schmiegen!" bei dem Worte schon
Fühl' ich mein Herz erliegen.
(S. 55-56)

Kaiser Liang Wu-ti (502-557 n. Chr.)
_____



Heimkehr

Als sie am Morgen hatte
Zu weben aufgehört,
War der geliebte Gatte
Von fern zurückgekehrt.

Der blanke Bügel leuchtet
Am Quast von grüner Seid';
Des Fuchses Schweiss befeuchtet
Das duft'ge Reisekleid.

Des Rosses Kopfzier klirret,
Dieweil es schnaubt und stampft,
Vom Hufschlag aufgerühret
Der Staub in Wolken dampft.

Sie bringt dem Manne Speise,
Holt Wasserkorn* herbei,
O, dass nicht durch die Reise
Sein Herz verändert sei!
(S. 57)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

* Wasserkorn, chin. Tiau-hu, eine besondere Art Korn, welche im Wasser wächst.

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Frühling

Wieder kommt die Frühlingszeit,
Holde Zeit der Düfte,
Und es weh'n am Frühlingstag
Lind die Frühlingslüfte.

Tag für Tag des Frühlings Sinn
Emsig schafft und schaltet;
Frühlings Walten allerorts
Alles neu gestaltet.

Allerorten rauschet es
In den Frühlingszweigen,
Neue Frühlingsvögelein
Tag für Tag sich zeigen.

Also spürt des Frühlings Geist
Man an allen Ecken,
Frühlingskinder aber kann
Nirgends ich entdecken;

Die den Frühling in ihr Herz
Haben aufgenommen,
Sehe nur des Frühlings Glanz
Jetzt auf's Neu' entglommen.

Wunden, ach! der Frühling selbst
Schlug den Menschenkindern,
Wessen Hand vermöchte wohl
Ihren Schmerz zu lindern!

In der Frühlingsgärten Pracht,
Möcht' ich mich versenken,
Doch ich muss im Frühling stets
An die Menschen denken.

Wüsste gern, an welchem Ort
Frühlingskinder seien;
Nur vergang'ner Frühlingspracht
Sich die Menschen freuen,

Denken nur, das bald verwelkt
Sind die Frühlingsblüthen,
Wie's im letzten Frühling auch
Ihnen war beschieden.
(S. 58)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Tanz und Gesang

Allen Groll und Zorn verscheuchen
Leicht des Freudenbaumes Blätter;
Vor der Tageslilie Stengel
Müssen alle Schmerzen weichen.*

Doch, was giebt es an Genüssen
Schön'res als die helle Mondnacht,
Wenn die frisch bewegten Lüfte
Leicht der Tänz'rin Leib umfliessen!

Oder, wenn beim Flötenblasen
Sie die rothen Lippen reget,
Und die Spangen ihrer Arme
Wild beim Saitenspiele rasen!

Ja, es ist dem Gast betrüblich,
Dass das Lied schon geht zu Ende.
Voll bewusst sich ihrer Schönheit
Eilt umher sie hold und lieblich.
(S. 59-60)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Abfahrt

Ihn zieht es fort ins ferne Land,
Möcht schnell den Strom durchqueren,
Sieht sie nicht, die am Ufersrand
Ihm Lebewohl winkt mit der Hand
Und trocknet ihre Zähren.
(S. 60)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Unermüdlich

Sobald herab des Abends
Der Perlenvorhang fällt,
Verhüllt von jedem Blicke
Er ihre Reize hält.

Dann strömt aus dem Gemache
Ein blum'ger Hauch hervor;
Der duft'gen Kerze Schimmer
Durchflirrt des Bettes Flor.

Wie lange hinter'm Fenster
Aus Glas* sie wohl noch wacht?
Die Nadel emsig führend
So näht sie Nacht für Nacht.
(S. 60)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

* Glas galt früher in China als grosse Kostbarkeit.

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Bild und Wirklichkeit

Gemalt hat im Palaste
Man einer Nymphe Bild;
Es schreitet aus dem Schlosse
Ein Mägdlein hold und mild.

Ach, dass sie alle beide
Sind wie ein Bild so schön!
Hier echt und falsch zu scheiden,
Wer möchte das versteh'n?

Wie sind zart abgerundet
Die Augen und die Brau'n!
Und wie sind ihre Taillen
Gleich zart und schlank zu schaun!

Es findet zwischen beiden
Ein Unterschied nur statt:
Das ist das warme Leben,
Das nur die eine hat.
(S. 60-61)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Der Mond

Westlich von der Wei-Brück'* sinket
Müd' die Sonn', aus Wolken blinket
Schon des Mondes kühle Pracht.
Da er fern wie nah kann spähen,
Muss den fernen Schatz er sehen,
Wie er weint in dieser Nacht.
(S. 61)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

* Berühmte Steinbrücke bei Hsi-an-fu

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Preis der Schönheit

An ihrem holden Anblick
Sich jedermann erfreut;
Von ihrer grossen Schönheit
Redet man weit und breit.

Sie trägt einen gelben Gürtel,
Er gleichet dem Monde von fern;
Auf ihrem Haupte im Haarschmuck
Blitzet manch goldener Stern.

Den Glanz der bemalten Wangen
Kein Perlenschimmer erreicht;
Ihr zartes Gewand erscheinet
Wie Spinngewebe so leicht.

Sie ist so hold und sinnig,
Ihr Antlitz oft erglüht,
Wenn sie mit weicher Stimme
Singet ein zartes Lied.

Jetzt steigt ihr der Wein zu Kopfe,
Ihr Roth d'rum noch röther glüht;
Lächelnd, sich zu verbergen,
Hinter den Wandschirm sie flieht.
(S. 61-62)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Winternacht

Eisig ist's, ich lieg' im Bett'
Zwischen Schlaf und Wachen;
Hin und her, vom Wind durchweht,
Meine Vorhäng' schlagen.
Wenn der Gaze Wogen wär'
Wellenschlag, und ich daher
Führ' zu ihm im Nachen!
(S. 62)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Vergänglichkeit

Gleichwie das grüne Laub wird gelb und fahl,
So schwindet bald der Wangen frisches Roth:
Für beide gilt dasselbe Machtgebot.
Daran zu denken schon ist Herzensqual!
(S. 62)

Kaiser Tschien Wên
(3. Sohn des Liang Wu-ti; regierte nur ein Jahr, 550-551 n. Chr.)

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Verschmäht

Eben trat sie in die Halle,
Als die zweite Gattin nahte;
Aus dem Hause eilend traf sie
An der Thür der früh're Gatte.

Sie verstummte; keine Silbe
Ueber ihre Lippen bringend;
Fest die schlanken Hände pressend,
Stand sie da, nach Fassung ringend.

Hastig regte sie den Fächer,
Welcher glich dem Mond, dem vollen,
Wollte ihre Thränen bergen,
Die hervor gleich Perlen quollen.

Ach! es währt ihr jetz'ges Leiden
Immerdar und will nicht schwinden,
Und es kann die alte Liebe
Nimmermehr ein Ende finden!
(S. 62-63)

Kaiser Yuna-ti (552-555)
(7. Sohn des Liang Wu-ti)

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Frühlingsempfindung

Die Vöglein singen jetzt auf's Neu
Im Busche ihre Lieder,
Und vor dem Fenster fliegt vorbei
Die Frühlingsschwalbe wieder.

Es weht der weisse Weidenflaum
In weingefüllte Becher;
Gar manche Blüth' vom Pflaumenbaum
Hängt am Gewand der Zecher.

Des Rosses Perlgehänge klingt,
Wenn es der Wind beweget;
Im Sonnenstrahl der Sattel blinkt,
Mit Golde eingeleget.

Dass nicht die Frühlingspracht vergeht,
Eh' ich den Freund getroffen,
Und dass ich bald zurück ihn hätt',
Das ist mein einzig Hoffen!
(S. 63)

Kaiser Yuna-ti (552-555)
(7. Sohn des Liang Wu-ti)

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Herbstgedanken

Es sind die Raben in der Nacht
Gen Süden fortgeflogen,
Mein Schatz, der mir fahr wohl gesagt,
Kommt nimmer heimgezogen.

Hell leuchtend auf dem Weiher schwimmt
Der Mond von Well'n getragen.
Ein kühler Wind weht, man vernimmt
Von fern das Wäscheschlagen.*

Zur Umkehr mahnend meinen Herrn
Will ich Mäander** sticken,
Und den Brokat ihm in die Fern,
Bis hin nach Wu-wei*** schicken.
(S. 64)

Kaiser Yuna-ti (552-555)
(7. Sohn des Liang Wu-ti)

* Die Wäsche wird von den Chinesen gewöhnlich nicht geplättet,
sondern mit einem hölzernen Klöppel geklopft
** Der chinesischer Mäander ist dem Zeichen "hui" = "zurückkehren" ähnlich.
Daher mahnt die Stickerei an die Heimkehr
*** Das heutige Lan-tschau-fu, Provinzialhauptstadt von Kansu

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Schwalben und Oriolen

Wenn die Schwalben und Oriolen
Paarweis fliegen und die vollen
Weiden gleiches Grün* umhüllt,
Hand in Hand vom Felde kehren
Liebespärchen, kann man's wehren,
Dass das Herz in Sehnsucht schwillt?
(S. 64)

Hsiau Tse-hsien (489-537 n. Chr.)

* Das gleichmässige Grün erweckt im Beschauer
den Gedanken der Eintracht und Liebe

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Verlorene Liebe

Als aus der Thür sie trat hervor,
Zu schau'n die Orchideen
Und grad' den Vorhang hob empor
Sah sie den Gatten stehen.

"Ist's wahr, was man mir hat erzählt?"
Frug sie - ihr Blick ward trübe,
"Dass eine andre du erwählt,
Missachtend meine Liebe?"

"Es sucht die neue Freundin dich
Mit frohen, heitern Blicken;
Die alte möcht' verbergen sich,
Die Thränen unterdrücken."

"Mein Herz ist einer Fichte gleich,
Vom Winterfrost umschauert,
Das deine ein Hibiscus-Zweig,
Der einen Tag nur dauert."
(S. 64-65)

Wang Sêng-ju (6. Jh. n. Chr.)

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Der Traum

Ich weiss wohl, dass dem Gedankenreich
All' unsere Träume entkeimen,
Doch hätte ich nie geglaubt, dass ich könnt'
Einen Traum, wie diesen, träumen.

So ohne jedes Fehl stand sie
Vor mir in voller Klarheit,
In lichtem Glanze, und nichts an ihr
Schien anders mir als Wahrheit.

Mir war's, als ob sie zu mir heran
An mein blumiges Kissen träte,
Als ob ihre Hand die Decke der Lust
Ein wenig gelüftet hätte.

Der zierliche Schritt und der herrliche Gang,
Wie reizend und wie entzückend!
Wie war, auch wenn keine Silbe sie sprach,
Ihr Wesen doch herzberückend!

Und was sie sprach, sie sprach so sanft,
So ohne Hast und Eile,
Nicht dacht' ich, dass ich es hören sollt'
Nur eine so kurze Weile.

Ich wachte auf, und der Traum zerrann,
Oed' war es rings und trübe.
Ich fühlte, dass es alles nur war
Ein Gaukelspiel meiner Liebe.
(S. 65-66)

Wang Sêng-ju (6. Jh. n. Chr.)

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Zerwürfnis

Es nagt am Herzen mir der Gram,
Vor eignem Schatten fühl' ich Scham,
Was einst mir Freud' und Glück gewährt,
Ist jetzt in bitt'res Leid verkehrt.

Ich geb' zurück den Ohrschmuck dir,
Du schickst zurück den Mantel mir.
Zersprung'ne Saiten spannt man neu,
Wenn's Herz zersprang, so ist's vorbei.
(S. 66)

Wang Sêng-ju (6. Jh. n. Chr.)

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Frühlingserwachen

Der Schnee zergeht, und wieder grün
Sind Baum und Strauch; vom Eise
Befreit die blauen Fluthen zieh'n;
Ich hör' der Vöglein Melodien,
Sing' eine Liebesweise.
(S. 66)

Wang Sêng-ju (6. Jh. n. Chr.)

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Thränen

Ach, es heisst für sie: sich schmücken!
Möcht die Thränen unterdrücken,
Dass es niemand merkt im Haus;
Nimmt den Flaum vom Pudernäpfchen,
Löscht damit die Thränentröpfchen,
Eh' herab sie fallen, aus.
(S. 66)

Yau-fan (Liang-Dynastie 502-557 n. Chr.)

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Neujahrsnacht

Die Lust ist ohne Ende heut',
Es herrschet eitel Glück und Freud',
Heut' gehen nach Festes Weise
Beständig die Becher im Kreise.

Man fischet mitten aus dem Wein
Ein Glück verheissend' Spinnelein;*
Es suchet ein jeder geschwinde,
Dass im Reiskloss die Pflaume** er finde.

Wohl durch den offnen Thürvorhang
Der Wind ein in das Zimmer drang;
Zu Asche verglimmen die Kohlen;
Die Kerzen erlöschen wollen.

Im Haar die Nadeln werden fast
Den Trägerinnen schon zur Last,***
Doch wollen erwarten die Frauen
Das kommende Morgengrauen.
(S. 67)

Hsü Tschün-tschien (6. Jh. n. Chr.)

* Auch die Chinesen kennen Glücksspinnen. Die langbeinige rothe Spinne,
Hsi-tse, gilt als solche und darf nicht getötet werden
** Eine alte Neujahrssitte. Das Finden einer in die Reisklösse
eingebackenen Pflaume soll eine glückliche Vorbedeutung sein.
*** Eine poetische Ausdrucksweise dafür, dass wegen der vorgerückten Stunde
und des Weingenusses den Frauen bereits der Kopf schwer wird.
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Der Schnee

Tausend Li weit fort
Treibt der Wind den Schnee,
Und er weht im Nu
Bis in Lung-scha's* Näh'.

In der Wolken Kreis
Es nicht lang' ihn hält,
Aufgewirbelt bald
Er zu Boden fällt.

Hängt wie Schmetterling'
Weiss an Strauch und Baum,
Haftet im Gezweig
Wie ein Blüthenflaum.

Bräche ich davon,
Wär's ein Blumenstrauss,
Schickt' ihn wohl dem Freund
In die Fern' hinaus.
(S. 67-68)

P'ei Tse-yeh (6. Jh. n. Chr.)

* Lung-scha, Ort an der mongolischen Grenze

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Der Treulose

Abends, wenn zum Horst die Krähen
Ziehn in Schang-lin-yuan,*
Und die Sonn' will untergehen
Bei der Stadt Tschang-an,

Denk' ich traurig, dass ich meinen
Schatz nicht sehen soll,
Auf den rothen Treppensteinen
Steh' ich kummervoll.

Wenn der Vorhang sich beweget,
Hoff' ich, er sei da,
Und wenn sich der Donner reget,
Dass sein Wagen nah'.

Ach! im Norden sind die Frauen
Alle wunderschön,
Und es mögen wohl die schlauen
Ihm den Kopf verdrehn.

Dort wohl würde ich ihn finden,
Ab vom Weg geirrt,
Nicht von Eifersucht, der blinden,
Wird mein Herz verwirrt.
(S. 68)

Fei-tschang (Anfang 6. Jh. n. Chr.)

* Name des kaiserlichen Parkes bei Tschang-an, der Reichshauptstadt
zu Anfang unserer Zeitrechnung, dem jetzigen Hsi-an-fu.

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Weinlied

Am Wein hier woll'n wir uns laben,
Am duftenden, edelen Wein,
Der wie eine köstliche Blume,
Wie Milch so süss und so rein.

Noch darf der Gast nicht entweichen:
Wohlan, wir halten ihn fest,
Dass sie, die auf flacher Hand tanzet,
Nicht auch zugleich uns verlässt.*

Wenn leer die goldenen Becher,
Füllt man sie auf's Neue mit Wein,
Und man kredenzt uns geschäftig
Die Schalen aus Edelstein.

Auf, lasst uns fröhlich zechen
Bis in die tiefe Nacht
Und beim Gelage erwarten
Des Morgens duft'ge Pracht.

Noch hat der Freund nicht gesungen
Vom Liede das letzte Wort,
Da fällt der Staub von der Decke,
Treibt uns von den Sitzen fort.**
(S. 69)

Tschang-schwai (Anfang 6. Jh. n. Chr.)

* Die Tänzerin, welche bei dem Gelage zugegen ist, wird mit der berühmten
Tschau Fei-yen verglichen, von der die Sage geht, sie sei so leicht
und graziös gewesen, dass sie auf flacher Hand tanzen konnte.
** Durch den lauten Gesang fällt der Staub herab.

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Die Sängerin

Hell tönt Flötenklang, für Gäste
Sind die Polster schon gelegt.
Leicht hebt sie die schneeigen Arme,
Während sie die Zither schlägt.

Und sie singt, derweil die Saiten
Ihre zarte Hand durchrauscht,
Sie bewegt die dunklen Brauen,
Während sie den Tönen lauscht.

Wie im Traum versunken blickt sie;
Ihrem Ohr ein Ring entfiel;
Ihrer Augen Glanz verkündet,
Was ihr Mund nicht sagen will.

Abend wird es, und es bleibet
Nur ein lieber Gast zurück;
Mit den Blicken sich umfangend
Schwelgen sie im Augenblick.
(S. 69-70)

Ho-sun (6. Jh. n. Chr.)

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Die Möwen

Einst sah zwei weisse Möwen
Vereint im Flug man ziehn
Vom Morgen bis zum Abend
Ueber die Wogen hin.

Sie rasteten zusammen
Stets nur an gleichem Ort;
Wohin das Männchen auch eilte,
Das Weibchen folgte sofort.

Doch ach! einst kam alleine
Vom Ufer das Männchen her,
Das Weibchen liess einsam sich nieder
Auf grünem Fels im Meer.

Die eine flog nach Osten,
Nach Westen die andere bog,
Niemehr der Ruf der einen
Herbei die andere zog.
(S. 70)

Ho-sun (6. Jh. n. Chr.)

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Trost in der Trennung

Woher kommt der Frühling warm
Nur einher geschritten?
An den Kleidern zerrt sein Arm;
Zaust die Pflaumenblüthen.

Das Portal aus buntem Glas
Eine Wolk' umhüllet;
Und die Lebensthau-Terrass'*
Frisch der Wind umspielet.

Tausend Meilen sind es schier,
Die vom Schatz mich trennen,
Und es will ihr Vorhang mir
Keinen Zutritt gönnen.

Wenn ich denn des Plauderns soll
Mit dem Lieb entbehren,
Will ich einsam auf ihr Wohl
Dieses Glas doch leeren.
(S. 72)

Wu-tschün (6. Jh. n. Chr.)

* Eine Terrasse in einem 115 v. Chr. von Han Wu-ti erbauten Palaste.
Es befand sich darauf eine Figur mit einer Schale, in welcher der Thau aufgefangen
werden sollte. Durch den Genuss dieses Thaues mit pulverisirtem Edelstein
hoffte der Kaiser die Unsterblichkeit zu erlangen.

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Wiedersehen

Es kam eine Schwalbe geflogen
Von fern wohl über die See,
Und eine and're ruhte
Vom Fluge auf Daches Höh'!

An einem Morgen war es,
Als eine die andere fand.
Sie hielten so treulich zusammen,
Als wären sie längst bekannt.

"Du fragst mich," sagte die eine,
"Weshalb ich so lange verzog?
Es lagen auf meinem Wege
Viel Berge gar steil und hoch."

"Auch mich hat mein Flug," sprach die andre,
"Geführt weit über das Meer,
Es wehten so heftige Stürme,
Das Fliegen ward fast mir zu schwer."
(S. 72-73)

Wu-tschün (6. Jh. n. Chr.)
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Die Tänzerin

Um den zarten Leib beneidet
Sie in Tschu die schönste Frau.
Solchen leicht graziösen Körper
Hat kein Weib im Staate Tschau.*

Die Bordüre der Mantille
Blitzt von manchem Edelstein,
Um den Arm an Seidenschnüren
Hängen dichte Perlenreih'n.

Schon hebt sie die weiten Aermel,
Setzet sich in Positur,
Regt den Fuss, hält an, als schäme
Sie sich ihrer Reize nur.

Seitwärts flüchten ihre Blicke,
Als ob grad' sie schauten nie,
Statt im Kreise sich zu drehen,
Scheint's als schwank' und zaudre sie.

Banne jede Furcht, du Holde:
Wie ein Phönix scheinst du mir!
Auf, erheb' dich gleich dem Kranich
Und entschweb' im Luftrevier!
(S. 73-74)

Tschiang-hung (6. Jh. n. Chr.)

* Die Königreiche Tschu und Tschau waren berühmt durch ihre schönen Frauen

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Erneuerung der Natur

Sieh! die Schwalben schon zurück
Nach der Heimath streben.
Neue Schmetterlinge schon
In den Lüften schweben.

Frische Blüthen brechen neu
Jetzt aus Baum und Pflanze,
Und es strahlt der neue Mond,
Hell in neuem Glanze.

Wie von neuem, frischem Hauch
Ist das Gras bethauet,
Neue Fülle überall,
Wo das Aug' hinschauet!

Auf dem Teich mit neuem Grün
Wasserlinsen schwimmen,
Und man höret jetzt auf's Neu
Süsse Vogelstimmen.

Neu erscheinet die Natur
Ringsum unsern Blicken,
Und man kann vom frischen Zweig
Frische Blätter pflücken.

Doch wie sehr es grünt und blüht
In den frischen Zweigen,
Dennoch will mein frischer Schmerz
Von der Stirn nicht weichen.

In des Ungetreuen Herz
Neue Lieb' erblühet,
Ob er's zu verbergen auch
Heute noch sich mühet.

Einen Fächer mondesrund
In der Hand sie führet.
Ein Verdeck, wie Wolken zart,
Ihren Wagen zieret.

Wie gereihte Perlen fall'n
Meine Thränen wieder,
Frisch auf den granat'nen Rock
Tropfen sie hernieder.
(S. 74-75)

Pau-Tschüan (6. Jh. n. Chr.)

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Sommernacht

Des Glockenspieles helle Tön'
Die stille Nacht durchklingen,*
Im Freien will ich mich ergeh'n:
Es wird mir Kühlung bringen.

Der Himmelsstrom** am Firmament
Gleicht einem weissen Schleier;
Mit diamantnem Glanze brennt
Unzähliger Sterne Feuer.

Gelehnt an eine Bergeswand
Den kalten Fels ich fühle,
Und labe mich am Teiches Rand,
An seines Wassers Kühle.

Es scheint gemalt des Mondes Bild
Mit Tschan-tschang's *** Pinselstrichen,
Die Lotosblum' die Luft erfüllt
Mit Hanschan's**** Wohlgerüchen.

Ich wandele durch die Natur
Bei lichtem Sternenschimmer.
Was suchet man die Freude nur
Im engen, dumpfen Zimmer!
(S. 75-76)

Liu Hsiau (6. Jh. n. Chr.)

* Glocken und Pauken sind die ältesten chinesischen Musikinstrumente
** Die Milchstrasse
*** Tschang-tschang, ein berühmter Beamter aus dem 1. Jh. v. Chr.
war sehr geschickt in der Führung des Pinsels. Er malte seinen Frauen die Augenbrauen
***** Hanschan soll ein wunderbar starkes Parfum besessen haben, welches
mehrere Monate lang an den Kleidern, die er berührte, haften blieb.

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Todt

In der Sonne letzten Strahlen
Glüht das Dachgebälk.
Von den grünen Bäumen fallen
Blüthen bleich und welk.

Plötzlich mit dem goldig hellen
Lächeln ist's vorbei.
Immerfort von den neun Quellen*
Tönt ihr Schmerzensschrei.

Vor dem Spiegel sind die Schminken
Wirr umhegestreut,
Auf dem Webstuhl Spinnweb' blinken
In der rothen Seid'.

Schwalbenpärchen kommt geschossen,
Fliegt im Haus entlang.
Eine öde Stätt' umschlossen
Hält der Bettvorhang.

Ach! vergebens ich mich quäle,
Finde nicht den Duft,
Der zurück mir ihre Seele
Zaubert aus der Gruft! **
(S. 76-77)

Yin-tschien (6. Jh. n. Chr.)

* Die Unterwelt
** Durch Auskochen des Holzes eines gewissen Baumes wird eine Essenz
gewonnen, welche man in Pillen verarbeitet. Sobald die Todten in der Erde
diese riechen, sollen sie wieder aufleben.

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Der Spiegel

Ein Broncespiegel kam mit einem Schreiben,
Mondrund, der Freund ihn zum Geschenk mir gab.
Des Spiegels Glanz nimmt zu durch häuf'ges Reiben,
Der Liebe Glanz von Tag zu Tage ab.
Im öden Zimmer mag er hängen bleiben,
Ihn anzublicken keine Lust ich hab'.
Seh' ich den Phönix nicht vorübergleiten?
Woher mag er des Todten Geist geleiten?*
(S. 77)

Hsü-ling (6. Jh. n. Chr.)

* Den Geist des Freundes, der vielleicht schon in der Fremde gestorben ist
und auf einem Phönix reitend in die Heimat zurückkehrt.

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Der Hahn

Es rauschet der seidene Vorhang,
Schwach brennt des Lämpchens Schein.
Nur eine Nacht, o könnten
Es tausend Jahre sein!
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Da höre einer, wie schändlich!
Der schreckliche Ju-nan* Hahn!
Noch sieht man die Milchstrass' am Himmel,
Doch er kräht, was er kann!
(S. 77)

Hsü-ling (6. Jh. n. Chr.)

* Ort in Provinz Honau

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Trost in der Musik

Es weilt jetzt mein Geliebter
Im Staate Yen im Nord,
Drum schweift von der Wei-Fluss-Brücke*
Mein Blick in die Ferne fort.

Als grosse runde Scheibe
Die Sonn' zwischen Bäumen versinkt,
Hell leuchtend noch im Strome
Des Himmels Abglanz blinkt.

Stets heftiger wird mein Kummer
Beim hellen Mondeslicht,
Wenn auch vor der Brüder Blicken
Der Thränenquell' versiegt.

Ich kann dem Geliebten nicht künden,
Wie weh es mir um's Herz,
Den Saiten nur der Zither
Vertraue ich meinen Schmerz.
(S. 77-78)

Kaiser Hou-tschu aus der Tschên-Dynastie (583-588 n. Chr.)

* Eine berühmte Brücke über dem Wei, nicht weit von Hsi-an-fu,
welche jetzt noch existiert.

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Schwermuth

Wie lange nun schon harr' ich
Im Frauengemache allein!
Es wächst aus meiner Betrübnis
Hervor stets neue Pein.

Vergeblich ist all' mein Hoffen,
Ich riss seinen Brief in Stück'.
Umsonst ersteig' ich den Söller,
Zu späh'n, ob er kehrt zurück.

So oft ich Blumen schaue,
Denk' ich an der Steppe Grün,
Und sehe beim Anblick des Mondes
In der Grenzwacht den Herbst einzieh'n.*

In Liebessinnen versunken
Entschwindet mir Tag auf Tag,
Und unter Thränen fliesset
Ein Jahr dem andern nach.
(S. 78)

Tschang Tschêng-tschien aus der Tschên-Dynastie (557-587 n. Chr.)

* Der Geliebte weilt als Soldat in einer der Grenzfestungen in der Mongolei.

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Treulos

Südlich wohnt vom grossen Meere
Er, an den ich immer denke.
Wodurch könnt' ich mich nach seinem
Wohlergehen wohl erkund'gen,
Was ihm zur Erinn'rung schicken?
Diese beiden Perlen will ich
Und den Schildpattkamm ihm senden.
Mit Jad' will ich sie verschnüren,
In ein Seidentüchlein wickeln.

Ach! sein Herz ist anders worden!
Man erzählt mir, dass er alles
Roh zerschlagen und verbrannt hat;
Ja, zerschlagen und verbrannt hat!
Und er hat davon die Asche
Ausgestreut in alle Winde!
Von jetzt ab wird er in Zukunft
Meiner nimmermehr gedenken!

O! wie steht mir noch vor Augen
Jene letzte Scheidestunde!
Hähne krähten, Hunde bellten!
Ach! mein Bruder und des Bruders
Gattin müssen es noch wissen.
Laut schrie ich in meinem Schmerze.
O! wie eisig blies der Herbstwind,
Wie der kalte Hauch des Morgens.
Bald ging auf die Sonn' im Osten
Und auch sie muss es noch wissen!
(S. 81-82)

Unbekannter Dichter (aus der Han-Zeit 206 v. Chr. - 220 n. Chr.)

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Die beiden Reiher

Es kamen aus fernem Nordwesten
Zwei weisse Reiher im Flug;
Gegliedert mit ihren Genossen,
Je zehn und je fünf im Zug.

Nicht lange waren geflogen
Die beiden Reiher einher,
Als plötzlich das Weibchen erkrankte,
Und konnte nicht folgen mehr.

Nach fünf Li wandte das Männchen
Nach seiner Genossin sich um,
Nach sechs Li kehrt es zurücke,
Flog ängstlich um sie herum:

"Möcht' gern im Schnabel dich halten,
Doch kann ihn nicht öffnen so weit.
Möcht gern auf dem Rücken dich tragen,
Ach! zu dünn ist mein Federkleid."

"Kaum haben wir uns gefunden
Und kaum gekostet die Freud',
Da kommt schon das Leid geschritten,
Das uns zu scheiden gebeut."

So klagte flatternd der Reiher
Und schaut den Gefährten nach,
Derweilen aus seinen Augen
Eine Fluth von Thränen brach.

"Ach! dass uns're junge Liebe
So kurz nur bemessen war!
O, wenn sie währen könnte
Viel tausend, tausend Jahr!"
(S. 86-87)

Unbekannter Dichter (aus der Han-Zeit 206 v. Chr. - 220 n. Chr.)

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Der Mondstrahl

Kalt dringt der Herbstwind durch die Fenster ein,
Und hin und her im Wind der Vorhang weht.
O könnt' der Mond mir, der am Himmel steht,
Den schnellen Strahl als Liebesboten leih'n!
(S. 87)

Unbekannter Dichter (vermutlich 3. Jh. n. Chr.)

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Der einzige Hort

Die Himmelskuppel stützet keine Säule;
Die Wasserlinse wurzellos treibt fort.
Dem Irrlicht gleich' ich, wenn allein ich weile:
Des Gatten Liebe ist mein einz'ger Hort.
(S. 88)

Unbekannter Dichter (Zeit der Abfassung unbekannt)
(Es soll zuerst vor dem Tsin-Kaiser Mu-ti 357 n. Chr. gesungen worden sein)

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Erwartungsvoll

Die Liebe lässt mich nicht essen mehr,
Ich muss auf die Strasse gehen,
Ob von dem Geliebten ich Kunde hör',
Selbst lauschend dem Windewehen.
(S. 88)

Unbekannter Dichter (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)

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Der Morgen

Auf den Krähhahn möcht' ich spiessen,
Weg den Sonnenvogel* schiessen,
Dass es immer bliebe Nacht.
Nicht so bald der Morgen sollte
Wiederkommen; o, ich wollte,
Dass im Jahr 's nur einmal tagt.
(S. 88)

Unbekannter Dichter (Sung-Epoche 420-479 n. Chr.)

* Auf der Sonne lebt nach alter chinesischer Sage ein Hahn.
Der Philosoph Huai-nan-tse gest. 122 v. Chr. spricht von einem dreibeinigen Vogel.

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Thränenfluth

I.
Ich weine und schluchze; der Morgen graut;
In Thränen schwimmt mein Kissen;
Ich fühle mich im Thränenstrom
Ertrinken und fortgerissen.


II.
Nur seufzend und klagend gedenke ich sein,
Es rinnen meine Zähren,
Bei Tag und Nacht, wie das Wasser der Uhr
Entfliesst, ohne aufzuhören.


III.
Die Trennung kann nicht ewig sein:
Denk' ich einstiger, glücklicher Tage
Bei Nacht, so press' ich die Decke an's Herz
Und wein' in der Stille und klage.
(S. 89)

Unbekannter Dichter (5. Jh. n. Chr.)

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Endloses Leid

Wie zerzaustes Gespinnst so wirr ist mein Herz.
Ein Kummer ist kaum draus entschwunden,
So hat sich bereits ein anderer Schmerz
Mit neuem Gift eingefunden.
(S. 89)

Unbekannter Dichter (5. Jh. n. Chr.)

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Die Peitsche

In mein bekümmertes Herz hinein
Keine Freude dringet.
O, ich möchte die Peitsche sein,
Die mein Liebster schwinget!

Würde bei Ausfahrt und Heimkehr fest
In seinem Arme liegen,
Wenn auf sein Sitz er sich niederlässt,
An seine Knie' mich schmiegen.
(S. 90)

Unbekannter Dichter (Liang-Zeit 502-557 n. Chr.)

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Gleichheit

Es mag der Südberg noch so sehr sich spreizen,
Er ist doch mit dem Nordberg nur gleich hoch.
Die Jungfrau ziere sich mit ihren Reizen,
In eines Gatten Arme sinkt sie doch.
(S. 90)

Unbekannter Dichter (Liang-Zeit 502-557 n. Chr.)

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Übersetzt von Alfred Forke (1867-1944)

Aus: Blüthen chinesischer Dichtung
Aus der Zeit der Han- und Sechs-Dynastie
II. Jahrhundert von Christus bis
VI. Jahrhundert nach Christus
Aus dem Chinesischen metrisch übersetzt von A. Forke
Magdeburg 1899
Commissionsverlag Faber'sche Buchdruckerei


 

 

 


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