liebesgedichte
für den geliebten
Die Betrachtung des Geliebten
(Jan. 2005)
Der größte Wunsch eines Liebenden ist, mit dem Geliebten zu sein.
Neben diesem Wunsch gibt es aber noch einen weiteren Wunsch. Das ist der Wunsch, den Geliebten zu betrachten, ihn anzuschauen. Und zwar nicht in der flüchtigen Weise, sondern in einer lang andauernden Weise. Ist aber der Liebende mit dem Geliebten zusammen, so ist das Glück seiner Gegenwart so groß, dass eine eingehende Betrachtung, die sehr viel Zeit erfordert, gar nicht machbar ist. Hinzu kommt, dass diese eingehende Betrachtung verlangt, dass der Geliebte von dieser Betrachtung nichts merken darf. Der Wunsch nach dieser Betrachtung und Schauung des Geliebten macht es vielleicht, dass der Liebende, wenn er wieder alleine ist, ohne den Geliebten, so gerne vom Geliebten träumt. In Tagträumen. Dass er so gerne über den Geliebten nachdenkt, wobei dieses Nachdenken nichts mit dem Kopf-Denken zu tun hat, sondern ein Betrachten des Geliebten ist – in der Reflexion. Es ist ein Schauen des Geliebten in tausenden von Einzelheiten, die wohl in der Gegenwart des Geliebten aufgenommen wurden und in der Reflexion in aller Deutlichkeit wieder auftauchen.
Dieses Betrachten und Schauen des Geliebten geht aber noch viel weiter. Der Liebende wird mit zunehmender Liebe zum Geliebten auch außerhalb der Person des Geliebten ihn sehen und betrachten können. Zuerst verbindet er die Umstände des Erlebten mit ihm, als da sind Musik, ein bestimmtes Essen, Pfeifenduft, eine bestimmte Farbe, etc., etc. Aber nach und nach erweitert sich die Schau des Liebenden. Er beginnt den Geliebten in einem Wolkenbild zu sehen, in einer Blüte, in einer Melodie. Der Möglichkeiten sind unendlich viele. Schließlich kann die Schau des Geliebten Alles umfassen, was ist.
Das bedeutet aber, dass der Liebende nicht nur den Geliebten liebt, sondern Alles, was ist. Denn Alles ist der Geliebte.
Dieses Alles unterscheidet sich jedoch sehr von dem Alles, das für einen Nicht-Liebenden vorhanden ist. Denn für einen Nicht-Liebenden ist dieses Alles ja nur das Beliebige. Und deshalb lebt ein Nicht-Liebender, sofern er Alles betrachten will, in der totalen Zerstreutheit, wogegen der Liebende dasselbe Alles betrachten kann in der höchsten Stufe der Konzentration. Die Liebe gibt diesem Allen Sinn.
Bild: (c) Kurt F. Domnik pixelio.de