Else Lasker-Schüler (1869-1945)
Es lebe Theben! der Prinz |
Die Seele und ihr Licht
Eine Psalmodie
Wenn man durch einen Ast oder durch einen Blumenstengel einen Docht ziehen
könnte, wäre der Mensch imstande, ihn nach Belieben anzuzünden und wieder
auszublasen. Und erst, wenn man einen Docht durch einen Tierkörper, gar
durch einen Menschenkörper wie durch eine Kerze leiten und leuchten lassen
könnte, methodisch, bis er dahin schmölze, tropfenweise, leise in
Wohlgefallen. Allerdings - eine besessene Idee! Sollte etwa schon nach des
Schöpfers Plan weise und nicht auf Kosten des Leibes durch jeden Stamm,
durch jedes Blatt ein unsichtbarer Docht der Leuchte gereiht sein? Die
ewige Ader erleuchtender Liebe, die Mutter und Kind verbindet? Volk und
Volk, Land und Land, die frischen Meere, die Erde mit dem Himmel. Gott
will, dass Seine Schöpfung im Lichte kreist! Er verbot die dunkle Frucht.
Immer wieder strebt der göttliche Wunsch dem Licht entgegen. Gott schenkte
seinem ersten Menschenpaar eine durchlichtete, liebende Welt: Das
Paradies.
Das ewige Feuer der Liebe, das Mutter und Kind schon vor der Geburt
des Kindes verbindet, ja noch nach dem Erdenleben, ist der Docht des
liebenden Lichtes, den jede Mutter - unbewusst durch den zarten Leib ihres
noch im tiefsten Körperraum wachsenden Kindes befestigt - und eins mit ihm
wird. Liebe geknüpft an Liebe ergibt: Licht.
Liebende - wissen! Liebende sind erleuchtet und nimmermehr blind.
Die Liebe ist nicht blind, wie es sprichwörtlich heisst. Die Liebe ist
gütig, die Liebe ist eine Mutter. Der Liebende erleuchtet, scheint klärend
durch des Zweiten Dasein und der Finsternis der Welt. Das Licht der Liebe
soll sich entfalten, zur Flamme werden, die Seele des Menschen in seiner
Hülle anzünden. Unangezündete Seele - dem starren Aste gleich, der nicht
blüht, Totes zwischen jubelnden Zweigen. Die ganze Natur drängt sich
allsommerlich durch einen Smaragd zu schauen, ihre Seele duften zu lassen,
sich duftend zu verklären.
Und nichts geht dem Naturinnern so - contre coeur, als die von
Menschenhand planmässigen angelegten Parkanlagen frisierter Wiesen und
wohlerzogene Bäume zwischen hochmütigen kühlen Göttinnen und scherzenden
Marmoramoretten. Es sind die steifen, grün tapezierten Empfangssäle
avancierter holder Gärten und ihrer Brüder noch urwüchsiger, unberührter
Erstnatur. Wild rauscht ihr wuchtiges Verlangen nach der Flamme; der
dröhnende Donner legt um die Rinde seine glühende Zackenhand. Nur noch
wenige Menschen erinnern sich an das Paradies, an unsere durchlichtete
Welt; durch jeden Tautropfen grünte die Erleuchtung. Nun verweilen wir im
dunkel gewordenen Eden, die meisten der Menschen in den Kellern ihrer
Herzen. Und vielen unter ihnen geht nie ein Funke auf, auch nur die
blasseste Liebe zu Gott und ihren Nebenmenschen. Und nicht beschämt sie
die Morgenröte, die ihren Glanz aus der Himmelskuppel verschwenderisch
über die Erde breitet. Diesen Menschen entspringt von Geschlecht zu
Geschlecht der armselige Mensch der Unwelt, der beiträgt, neues Aufglimmen
paradiesischen Zustand, zu verhindern.
Ich träumte und sah viele Menschen auf einem Erdenfleck, auch treue
Tiere und andächtige Bäume und einen kleinen durchsichtigen Kiesel
herabrollen vom Fels, und sich mit Mensch und Tier und Baum vereinen, und
nach Gott ausschauen. Aber die unsichtbare Schnur, der leuchtende Docht,
der uns mit dem Herrn der Welt verbindet, frei im Weltenraum, beginnt sich
zu lockern, aber auch die unzeitliche Bandschnur, die die Völker und ihre
Menschen vereinte, von Gott geknotet. Der Sehnsucht innige Verschmelzung
erfüllt sich nur noch trübe im fahlen Lichtverfall. Und stark und stand
hielt nur der durchleuchtende Lichtparagraph, das Gesetz der Seele; ihm zu
gehorchen, heisst: Weltordnung.
Liebreiche Weltordnung lässt keine Not ein.
In unserer Finsternis gelüstet es den Menschen, den Nebenmenschen
zu ergreifen, nicht etwa zu schirmen oder zu umarmen. Totschlag und
Todesschwärmerei werden Leib und Seele, kaum jemand, der den Funken seines
Lebens noch vor Verdunkelung retten möchte. Er stolpert über Mensch und
Tier und Blume, rücksichtslos und verständnislos über das Herz der Welt.
Ueber Mutter und Kindesliebe, über den Frieden der Völker und ihrer Lande;
erstickt im Keim schon und entweiht spriessendes Licht. Drohende Arme sind
keine Leuchter auf dem Altar, das liebende Licht der Seele zu halten. Wo
sich das nicht erhebt, erkaltet der Erdfleck. Vergebens suche ich nach
einem einzigen erhaltenen Paradiesbeet. Ja die Welt geht unter; kein
Messias kommt, das Weltenantlitz wieder zu erleuchten, die Welt in uns,
uns in der Welt. Mit der Herrlichkeit Seines ersten Menschen süsste der
Gestalter das Mannah der Schöpfung. Aus Paradies bestand das Wesen des
ersten Menschen. Aus dem gefälschten züngelt die Dämonie. Des gottreinen
Menschen Kinder und Kindeskinder möchten sich auch heute noch sammeln in
allen Landen.
Wir blicken all zu einem Himmel auf . . .
missgönnen uns das Land?
Vor der Flamme, der Blume des Lichts habe ich mich immer gebeugt; vor der
erwachten Seele, vor dem weitaufgetanen Auge der Liebe. Ob es leuchtet
zwischen Mutter und Kind, zwischen Geschwistern, oder zwischen
Spielgefährten indianisch wetterleuchtete! Böses Wachen und böser Schlaf
frisst an der Seele; bleibt sie blütenlos, ist tot ihr Mensch. Und gleich
dem starren leblosen Kerzenleuchter auf meinem Tisch, bevor ich seine
Kerze, seine Seele anzünde. Undurchleuchtet sind wir Menschen tot; das
Licht bewegt uns - und wir schädigen uns, indem wir unsern kostbarsten
Schatz vernachlässigen, unsere Seele! Nimmermehr bedeutet das Licht Gott
Selbst, Seine raulose zeitlose ewige Seelengestalt, die aus der Nische
Eigengedunkel hervortrat und "Sich entdunkelte", bevor Sie das
Weltparadies erschuf. Also vollzog der Allmächtige an Sich: Urchemie. Man
verwechsle nicht die strahlende Glorie in Ihm mit des Ewigen Selbst. Sein
erleuchteter Odem ist in keine Formel zu fassen. Aber nach dem stärkenden
Ewigkeitstrunk dürstet immer von Neuem den erleuchteten Menschen. Mit
diesem weisen weissen Weine zog der Schöpfer die Erde gross. Es gipfelten
die Felsen, es erwachte das Geschmeide glitzernd im Gestein. Der Amethist,
der Hyazinth, der rätselhafte Smaragd, aber es lichtete sich auch jedes
Weizenkorn auf dem Feld; und der Herr küsste die Kornblume! Und über die
Wasser sandte Er eine Taube - Seiner Seele schimmerndes Licht. Aber auch
seines flammenden Odems gewaltige Adlerschwinge treibt die Welle hoch zum
Mondschein.
Wir wollen uns versöhnen die Nacht
wenn wir uns herzen sterben wir nicht . . .
Das Licht ist auserkoren im Kelch der Seele sich ganz in Liebe zu
entfalten.
Nach dem Erdenleben sind nicht alle Menschen tot, Ableben bedeutet
nicht immer Gestorbensein. Aber unzählige Menschen sind schon tot im
Leben, es sind diejenigen, die sich in ihrer Dunkelheit verirrten, Sünder
nennt der Mensch sie, die noch nachträglich Mitschuldigen an der
Verdunkelung der Welt, am Verlust des Paradieses. Erleuchtete Menschen
schreiten über gelichtete Wegewigkeiten.
Der edle Nazarener sagte zu seinem Jünger Philippus: "Lass die
Toten die Toten begraben, und folge mir." Nie waren Menschen mit Menschen
vereinter und verbundener wie die Pflanzen es untereinander sind. Die
Lindenmutter mit ihren kleinen Ablegern, die Blume Mohn mit ihrem roten
Springinsfeld, die Palme mit ihrem Goldkind. Schon vor dem Aufschiessen
eines Baumes, verknüpften sich inniglich seine Fasern mit den
Wurzelbändern, den starken sichtbaren und unsichtbaren seiner säuselnden
Baummama. Wir schreiten ahnungslos über den lieblichen, aber auch
unendlichen Vorgang hinweg. Munter springt das spielende Wild, leider oft
gejagt über den zärtlichen Wiesenfleck. Weiss es vom lächelnden Geheimnis
des Baums und seinem Bäumlein? Zwei Liebende, zwei Brennende setzen sich
nieder ins Gestäuch und - küssen sich . . . Mag nur die mürrische, letzte
verdrossene, ausgetobte Aprilwolke den Weg allen Verderbens gehen,
gehorsam schliesslich wie ihr Freund, der draufgängerische Wirbelwind. Die
Verantwortung seines kurzen Kreisellebens überlässt er höherer Macht.
Ringelrei mit der Luft, erlebte er die Welt am Gängelband vom Weltall
gehalten. Und ebenso ergehts allen Elementen, aber auch dem Tiere vom
Kleinsten bis zum Elefanten, selbst der Riese geht noch in die Schule der
Schöpfung, hackt mit seinem Rüssel am Docht des Universums. Das Schicksal
des ungelösten Daseins teilen mit ihnen gemeinsam die Wälder und ihre
hohen Kiefern und Tannen und alle die blattlaubigen Bäume, aber auch das
Gestein und die Meereswasser und Flüsse und Bäche, noch verwachsen mit
ihren Uferranden, mit der Schöpfung. Nur der Mensch macht eine rühmliche
Ausnahme, er der Eingeborene, das gänzlich ausgetragene, erkorene Ebenbild
Gottes, bewegt sich abgelöst vom Weltkörper, frei, sich geschenkt zwischen
noch nicht Ausgegorenem. Er vermag sich nicht mehr hineinzuversetzen in
den Zustand des Halbbewußtsein der Tierwesen und gipfelnden Bergspitzen
und schützt sich höchstens vor den brausenden Chören der Stürme. Warum
enttäuschen wir immer wieder das Vertrauen des an Seinen Menschen
glaubenden und hangenden Herrn und warum widerspiegeln wir Sein allgütiges
Antlitz entgottet? Nie würden die Wasser übertreten, die Vesuve ihre Feuer
auf die Herde der Aecker speien, mit ihrer Hefe blühenden Städte und
Dörfer überschütten, bewegte die Welt sich noch im Gleichgewicht und
ebenbildlichen Gleichgesicht zwischen Gott und Mensch. Es stehen sich
gegenüber: Tier, Pflanze, Stein: Imwerdenbegriffene, unausgetragene, nicht
für sich verantwortliche - und: der Mensch: ausgetragene, für sich
verantwortliche, zur Verantwortung gezogene Schöpfung. Aber auch in der
noch nicht gänzlich ausgetragenen Pflanzenheit geschehen Wunder. Ich weiss
von einer kleinen Fichte, "vorwitzigen, altklugen", titulieren sie die
verknorpelten greislaubigen Tanten, da ihre lichtgrüne Nichte kurzen
Prozess machte, sich abriss vom Gängelbande der noch göttlichen Hand. Aus
der Ungezähmtheit, des kreiselnden, brausenden Lassospiels der Wetter und
blitzenden Horizonten, flammt zuweilen noch andächtiger Funke des
Paradieses auf unsere verfinsterte verlorene Paradieswelt. Wer möchte das
Paradies nicht wiederfinden und in ihm sich?
Erleuchte meine Seele, Herr,
Und löte sie an mich!
Nicht Gott, auch nicht Seine lichte Welt ist tot, aber das Paradies deines
Wesens verfinsterte sich.
Draussen singen ahnungslos Kinder: "Freut euch des Lebens, so lange
noch ein Lämpchen glüht . . ."
Hör, Gott, wenn du nur etwas lieb mich hast,
Send mir aus deinen lichten Reichen,
Das Licht der Liebe mir zu Gast.
Bei meiner weissen Kerze glaubt ich fast,
Die Grenze der Erleuchtung zu erreichen.
Es wachsen alle Sterne hoch am Wolkenast
Und wurden strahlende Geschwister, Gott, in deinem Zeichen . . .
Nur unsere Erde ist erblasst -
- Und ihre Seele schreit zu dir aus Leichen.
Aus: Else Lasker-Schüler Werke und Briefe Kritische Ausgabe
Band 4: Prosa 1921-1945 Nachgelassene Schriften
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001
(S. 284-289)
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