Europäische Liebeslyrik

(in deutscher Übersetzung)

Edward Charles Halle (1846-1914) - Die Musik

 

 

Hans Christian Andersen (1805-1875)
dänischer Dichter



Liebe

Die Sonne flammet so liebeshehr!
Sie legt ihr Haupt auf das blaue Meer.
Wer aber schilderts mit Worten recht?
Anbetend schweigt der Menschen Geschlecht,
Die Blumen nur nicken im Winde!
Und küssen sich traulich und linde.

Dort in der Bucht, wo das Schilf sich hebt,
Ein liebend Paar im Schaukeltakt schwebt;
Im ew'gen Blau, im Aug' und im Meer,
Ja überall prangen die Himmel so hehr.
Doch preis' ich im ganzen Erdengewimmel,
Vor allem des Menschen-Auges Himmel!

Ich sehe das Auge im süßesten Blau,
Wo ich gleich Sternen Gedanken schau,
In Geistes Reiche dringe ich ein!
Bin Mann und darf doch Kind noch sein!
Und wenn ich hinauf in die Lüfte mich schwinge,
Dann fühl' ich mich eins mit dem Schöpfer der Dinge!

übersetzt von Edmund Lobedanz (1820-1882)

Aus: Album Nordgermanischer Dichtung
von Edmund Lobedanz
Erster Band: Album Dänisch-Norwegischer Dichtung
Leipzig 1868 Verlag von Albert Fritsch (S. 159-160)

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Die Schneekönigin

Hoch liegt der weiße Schnee auf dem Feld,
Durch ein Licht ist die trauliche Hütte erhellt;
Dort wartet das Mägdlein beim Lampenschein
Auf den Liebsten sein.

In der Mühle ist's still, ei, sie steht fürwahr!
Der Bursche glättet sein blondes Haar.
Bald hüpft er froh ohne Sorg und Weh
Ueber Eis und Schnee!

In die Wette jodelt er mit dem Wind.
Wie schön seine Wangen geröthet sind!
Schneekön'gin auf schwarzem Wolkenroß
Uebers Feld sich ergoß.

"Du bist so schön in des Schneemeers Glanz!
Dir schenk ich für ewig der Liebe Kranz!
Komm mit in mein Schloß, in Himmelshöh'n,
Ueber Berg und Seen."

Die Flocken fallen so dicht und schwer!
"Meine Blumen umgarnen dich mehr und mehr,
Wo sich der Haufe hebt auf dem Feld,
Ist's Brautbett bestellt!"

Das Licht in der stillen Hütte erlischt,
Im Wirbel umtanzt ihn des Schneemeers Gischt,
Eine Sternschnuppe blitzt unter Wolken dort,
Nun ist sie fort! -

Am Himmel erglänzt die Sonne so hehr,
Doch er in dem Brautbett erwacht nicht mehr!
Sein Lieb in der Mühle ihn grüßen will,
Doch das Rad steht still.

übersetzt von Edmund Lobedanz (1820-1882)

Aus: Album Nordgermanischer Dichtung
von Edmund Lobedanz
Erster Band: Album Dänisch-Norwegischer Dichtung
Leipzig 1868 Verlag von Albert Fritsch (S. 160-161)

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Märzveilchen

Der Himmel wölbt sich rein und blau;
Der Reif stellt Blumen aus zur Schau.

Am Fenster prangt ein flimmernder Flor,
Ein Jüngling steht, ihn betrachtend, davor.

Und hinter den Blumen blühet noch gar
Ein blaues, ein lächelndes Augenpaar.

Märzveilchen, wie jener noch keine gesehn,
Der Reif wird, angehaucht, zergehn.

Eisblumen fangen zu schmelzen an -
Und Gott sei gnädig dem jungen Mann.


übersetzt von Adelbert von Chamisso (1781-1838)

Aus: Album Nordgermanischer Dichtung
von Edmund Lobedanz
Erster Band: Album Dänisch-Norwegischer Dichtung
Leipzig 1868 Verlag von Albert Fritsch (S. 165)

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Das kranke Herz

Die Mutter
Willst Du denn nicht zur Kirche gehn,
Mein Sohn! Willst Du das Fest nicht sehn?
Die kleine Gerte wird getraut.
Wie bist Du bleich?! Dein Augen schaut
So trüb, wie Du mit finstrem Muth
Im kühlem Grase einst geruht.
Ein giftig Thier stach Deinen Fuß,
O Gott, ich jetzt noch weinen muß!
Und Todesschmerz im Antlitz stand,
Ich doppelt ihn mit Dir empfand.
Ich grub den Fuß in Erde ein,
Die sollte Heilung ihm verleihn.
Die Erde nahm alsdann das Gift;
So that der Herr auf grüner Trift.

Der Sohn
Die Erde, Mutter, half mir gut,
Doch jetzt das Gift im Herzen ruht;
Erbarm dich Gott im Himmelshaus,
Die Erd' nur saugt das Gift heraus.
Das kranke Herz, o grabt es ein,
Das nur wird Friede ihm verleihn.

übersetzt von Heinrich Zeise (1822-1914)

Aus: Das Buch der Liebe
Eine Blütenlese aus der gesammten Liebeslyrik
aller Zeiten und Völker
In deutschen Übertragungen
Herausgegeben von Heinrich Hart und Julius Hart
Zweite Auflage Leipzig Verlag von Otto Wigand 1889 (S. 381)
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Der Spielmann

Im Städtchen giebt es des Jubels viel,
Da halten sie Hochzeit mit Tanz und mit Spiel;
Den Fröhlichen blinket der Wein so roth,
Die Braut nur gleicht dem getünchten Tod.

Ja todt für den, den nicht sie vergißt,
Der doch beim Fest nicht Bräutigam ist;
Da steht er inmitten der Gäste im Krug
Und streichet die Geige, lustig genug!

Er streichet die Geige, sein Haar ergraut,
Es springen die Saiten gellend und laut;
Er drückt sie ans Herz und achtet es nicht,
Ob auch sie in tausend Stücke zerbricht.

Es ist gar grausig, wenn Einer so stirbt,
Wann jung sein Herz um Freude noch wirbt;
Ich mag und will nicht länger es seh'n -
Das möchte den Kopf mir schwindelnd verdreh'n.

Wer heißt Euch mit Fingern zeigen auf mich?
O Gott! bewahr' uns gnädiglich,
Daß Keinen der Wahnsinn übermannt; -
Bin selber ein armer Musikant.

übersetzt vom Adelbert von Chamisso (1781-1838)

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Erster Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 12)

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Avis aux lectrices

Und wenn Du schiltst und wenn Du tobst,
Ich werd' es geduldig leiden;
Doch wenn Du meine Verse nicht lobst,
Laß ich mich von Dir scheiden.
H. Heine

Mir fehlt etwas! wie sag' ich, was ich meine? -
So was Besondres ist es eben nicht;
Mir fehlt - nun ja - nur eine hübsche Kleine . . .
Ach, Gott! jetzt lacht man mir noch in's Gesicht!
Darf ich denn niemals schwärmen, niemals lieben?
Wie? Bin ich denn nicht alt genug dazu?
Ich will ja Niemand kränken, noch betrüben,
Nein, lieben möcht' ich nur in guter Ruh'.

Ein jeder Dichter, ja selbst jeder Laie
Hat eine Braut; - es ist nun so der Brauch;
Man seufzt, man spricht von ew'ger Lieb' und Treue;
Dies Alles will ich nun versuchen auch.
Fort gäb' ich gern mein Herz als gute Beute,
Nur fehlt zum Lieben mir ein Gegenstand;
Für meine Lieder schwärmt' ich nur bis heute,
Doch für ein Mädchen, wär' doch gar charmant!

D'rum wünsch' ich mir - wie sag ich, was ich meine -
Ein Liebchen, dann beruhigt sich mein Sinn;
Nur eine Gute, Liebe, wenn auch Kleine, -
Denn meine Größe reicht für beide hin.
O, seh' doch Eine gnädig auf mich nieder,
Denn Liebe steht den Leuten gar zu gut!
Doch loben mußt Du alle meine Lieder,
Sonst ist es aus mit meiner Liebesglut.


übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Erster Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 18-19)

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Der Herzensdieb

Das Herz mag stehen vorn, das Herz mag stehen hinten:
Ein Dieb bleibt doch ein Dieb, das muß ein Jeder finden.
Wessel

Amor, der Schalk - man kennt ihn weit und breit,
Und hat ihn wie ein Kind abconterfeit,
Mit Pfeil und Bogen und mit großen Schwingen; -
Wie eine Fabel scheint das ja zu klingen; -
Wer glaubte je, daß er so angethan?
Nein, Gott bewahre, er hat Kleider an;
Und wo er wen zu neuem Bund verpflichtet,
Hat er sein Kleid stets darauf eingerichtet.
Die Mädchen sehen ihn am Liebsten hier
Gekleidet als Student und Officier,
Und diese - nun, das kann ein Kind verstehen -
Als Mädchen ihn am allerliebsten sehen.
Von Kopf zu Fuß und jeden Augenblick
Ist er ein Dieb, der längst verdient den Strick.
Als ich zum ersten Male ihn entdeckte,
War ich ein Knäblein, das noch in dem Jäckchen steckte.
Mit andern Buben spielt' ich da Versteck;
Ein Rosenstrauch wuchs an der Gartenheck';
Ich kroch hinein und saß ganz still darinnen;
Mich findet Niemand, wie sie's auch beginnen;
Da seh ich plötzlich Nachbars Lieschen hier
Und unsern Gast, den hübschen Officier.
Nicht weiß ich, was sie sprachen und beschickten,
Doch sah ich, wie die Rosen alle nickten,
Und mitten in der einen, auf die Flur
Hinüberhängend - Leute, denkt's Euch nur! -
Da saß ein Officierchen, nichts geringer,
- Wie wunderlich! - doch groß kaum wie ein Finger,
Mit Schnurrbart, Säbel, Mütze; ja fürwahr,
Der war dem andern ähnlich auf ein Haar.
Die Rose sah ich schwanken in dem Winde
Und Lieschens Wange treffen gar geschwinde;
Der große Officier brach nun das Röschen ab,
Doch Lieschen wurde roth, als er es jetzt ihr gab.
Schnell flog ein Schmetterling heraus mit bunten Schwingen,
Der Amor war's - und winkt' vor allen Dingen
Mir zu, was ich erschaut, nicht zu gestehn:
Es ward geküßt, und ich hatt' es gesehn.
Wir trafen uns seitdem gar oft, wir Beide;
Bald trug er Bauertracht, bald reiche Seide;
Doch, selbst nun älter, wurd' ich schnell gewahr,
Daß, was er that, so fein nicht eben war;
Darum gelobt' ich mir, was mir auch würd' geschehen,
Mich solle nie der Schelm in seinen Händen sehen;
Das schwur ich laut - ich ging just in's Examen
Zum Pfarrer. - Hört, wie doch die Dinge anders kamen.
- In unser'm Dorfe, bei des Pfarrers Haus,
Da breiten sich die Haselbüsche aus;
Am Boden Erdbeerpflanzen, welch Gewimmel!
Heut kam ich hin - hoch war die Sonn' am Himmel;
Tief in den Büschen dort ein Bauerknabe stand,
Der sich Erdbeeren pflückte; was er fand,
Auf einen Grashalm zog; ich pflückte selbst und aß;
Der Kleine zeigte mir, wie voll sein Gras,
Und da ich an dem Anblick mich geweidet,
Wird's mir, als ob man mir das Herz zerschneidet.
Mir war ganz wunderlich - er lacht laut in die Luft -
Der Bauernknabe war der kleine Schuft.
Nicht Beeren hatte er - bewahre, nein!
Auf seinem Grashalm - lauter Herzchen klein.
Das sah ich nun und unter diesen Herzen
Mein armes eig'nes Herz mit tausend Schmerzen.
Ich lugte, weinte, bat; er lacht' mich aus
Ich brachte Nichts als "Ja" von ihm heraus.
"Sieh diese Herzen wurden heut' mein eigen,
Deins ist das Letzte; laß mich dir es zeigen."
Am hellsten lacht' er, als er sprach dies Wort.
Der arge Schalk, und lief dann eilig fort.
Ich lief, so gut ich konnte, hinterdrein
Und fing aus vollem Halse an zu schrein;
Doch ich verlor ihn rasch aus dem Gesicht.
Nun - denk' ich mir - nun zieht der Bösewicht
Von Thür zu Thür mit den gestohl'nen Herzen,
Und was mich muß am allermeisten schmerzen,
Mich bietend dieser oder jener feil.
Nun muß ich auch eins stehlen für mein Theil,
Wenn mir nicht Eine will das Ihre geben,
Denn ohne Herz: da kann ich ja nicht leben.

übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Erster Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 20-23)

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Die Rosenknospe

Rosenknospe, zart und rund,
Lieblich wie ein Mädchenmund!
Küß' ich dich als meine Braut
Wirst du schöner stets geschaut.
Laß noch einen Kuß dir geben,
Fühl' mein Beben!

Ich will beichten, wie man's muß:
Nie noch gab ich einen Kuß!
Keine Maid erwartet mich,
Rose, ich muß küssen dich!
Du nur bist mein Glück, mein Leben;
Fühl' mein Beben!

Geb' ein Lied dir, wenn du küßt,
Und wenn einst du Staub dann bist,
Ruft mein Lied dir laut noch zu:
Keine küßte mich. Nur du
Hast mir Küsse je gegeben -
Fühl' mein Beben!

Dänmarks Mädchen, wenn ich schied,
Sagen wohl bei jedem Lied:
"Küssen möcht' ich ihn dafür!"
Schön gesagt, was nützt es mir?
Müßt mir d'rum bei meinem Leben
Küsse geben!


übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Erster Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 26-27)

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Der Dichter und Amor

Liebe wirket dieses
Alles und noch mehr.
Wieland

Dichter
Meine Lieb' muß ich verschweigen,
Oh, das thut dem Herzen weh!
Ihr kann ich sie nimmer zeigen,
Denn es trennt uns Land und See.

Amor
Auf! Kein Dichter je verzage!
Er hat Perlen, Silber, Gold!
Und der Geist siegt alle Tage,
Amor ist dem Dichter hold!

Dichter
Ach! ich kann sie ja nicht sehen,
Lauschen ihrer Stimme Klang,
Kann nicht, wo sie weilet, gehen,
Flattern, wie das Vöglein bang.

Nähren meiner Hoffnung Triebe,
Schauen tief ihr in das Herz;
Nun vergißt sie meine Liebe,
Nun vergißt sie meinen Schmerz.

Amor
Stärke deinen Muth nur wieder!
Wer ist glücklicher, als Du?
Sagen kannst du ja durch Lieder,
Was dir trübt des Herzens Ruh'.

Kannst der ganzen Welt vertrauen,
Was die Theure längst gewußt;
Niemand doch wird dich durchschauen,
Sie nur blickt dir in die Brust.

Alles kannst du drucken lassen;
"Sind nur Lieder" - sagt man sich;
Doch bei ihr - kannst du es fassen,
Wie beglückt du bist? - sprech' ich! -


übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Erster Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 47-48)

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Die zwei Vögel

Es nistet ein Vöglein mir tief in der Brust,
So fern vom blühenden Haine;
Das singt in Schmerzen und seltsamer Lust,
Denn, ach! es ist so alleine.
Nur an Gott im Himmel es fest sich hält
Und schaut durch mein Auge hinaus in die Welt!

Es singet für sie seinen Schmerz, seine Lust
Durch Nächte und schimmernde Tage;
Und sie trägt ein Vöglein in ihrer Brust,
Das zwinget das meine zur Klage.
Es hat durch das Blau ihrer Augen geseh'n -
Doch will's nicht mein bittendes Vöglein versteh'n!

Es singet mein Vöglein all Das, was es weiß:
Mein Sinnen, mein Träumen, mein Leben;
Verrathen hat's selbst meine Liebe heiß -
Das tönte im schüchternen Beben.
Es singet sein tiefes Weh, seine Lust -
Doch stumm ist das Vöglein in ihrer Brust.

Das schauet still durch ihr Auge dort,
D'rum wird mir so weh und so bange.
Verdienet mein Vöglein kein Trosteswort
Nach des Herzens glüh'ndem Gesange? -
Und ist mein Vöglein auch noch so arm,
Es fühlt wie der glänzendste Vogel so warm!

Das singet und trauert gewiß sich zu Tod -
Die Braut führt ein Andrer zum Feste;
Und sie - sie vergißt meines Vögleins Noth,
Und das ist am End' auch das Beste!
Sie paßten wohl nicht für einander, die Zwei,
Nun stirbt das eine - was ist dabei?!

übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Zweiter Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 16-17)

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Treue Liebe

Der Liebende
(Unter einem Baume)
Vöglein kehrt aus Süden wieder,
Hell ertönen seine Lieder,
Wenn von Zweig zu Zweig es springt; -
Vöglein meine Liebe singt.

Horch! mein holdes Liebchen kennt es!
Tausend Mal den Namen nennt es!
Freudig hoff' ich jetzt auf's Neu',
Denn ich weiß, sie blieb mir treu.

Das Vögelchen
Armer, Du hast falsch verstanden!
Ich kehr' nach den heim'schen Landen,
D'raus mich Winterfrost vertrieb;
Am Altar stand heut Dein Lieb.

Der Liebende
Von der Holden bringt es Kunde,
O, der seel'gen schönen Stunde!
Immer hat sie mein gedacht,
Schaute mich im Traum der Nacht.

Das Vögelchen
Braut und Bräut'gam, Hochzeitsgäste
Sah ich schmausen froh beim Feste;
Von der Treue sprach man dort,
Doch von Dir kein Sterbenswort.

Der Liebende
Gott! Du gabst sie mir, Dir weih' ich
Meinen Dank, Dich benedei' ich.
Mein im Zeitenwechsel blieb
Sie, des Herzens erste Lieb'!

Vöglein! hebe froh die Schwingen,
Meine Grüße ihr zu bringen.
Wenn Dein Lied von Treue schallt,
Dann versteht sie Dich alsbald!

übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Zweiter Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 43-44)

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Mai

"Du lehrtest mich, Du schöner Mai,
Daß Poesie die Liebe sei!"

Ein jeder aus der Monden Reih'
Hat sein besondres Wesen:
Als junger Dichter ward der Mai
Vom Jahre auserlesen.
Mai hauchet Lieb' und Lebenslust
Und Poesie in jede Brust!

Von oben strömt der Lebenstrieb
Im milden Strahl der Sonne;
Das Herz erfreuet Duft und Lieb'
Und frische Lebenswonne.
Der Wand'rer singt schon in der Früh'
Von Liebeslust und Poesie.

Im Thal ein Sehnsuchtsseufzer klingt
Und rauscht im grünen Walde;
Ein Lied von treuer Minne dringt
Herab von Berges Halde.
Von Liebe singt als Troubadour
Die ganze blühende Natur.

In diesem grünen Waldessaal'
Kam Odin einst geschritten,
Traf Freya hier zum ersten Mal',
In hoher Buchen Mitten.
Hier pflanzten sie im Morgenschein
Den südlich-frischen Rosenhain.

Am klaren Bache lag einst da
Das Linnen auf der Bleiche,
Als Signe nach den Schiffen sah,
Am Strand' hier, bei der Eiche.
Hier ward ihr Hagbarths erster Kuß,
Sein Lebewohl, sein Abschiedsgruß.

Die Woge küßt mit sanftem Laut
Die Blumenau' am Strande;
Was sie in fernem Land geschaut,
Das plätschert sie im Sande
Hier, wo in ihres Meermanns Arm
Agnete ruhte liebeswarm.

Sie flüstert: "Wo die Fluth sich bricht
An Grönlands Eisgestaden,
Wo bei der Sonne mattem Licht
Wallross' und Robben baden:
Auch in des Eskimoen Brust
Am öden Strand wohnt Liebeslust.

Und weiter zog ich ruhevoll
Nach glücklich'ren Gefilden.
Musik erklang, die Trommel scholl
Im Palmenland der Wilden.
Von Lieb' der Indianer sang,
Als jubelnd er im Tanze sprang."

So schwatzt die Welle mit dem Rain
In kosendem Geflüster;
Mich aber treibt der Sonnenschein
Hin in des Waldes Düster.
Die Lerche steigt zum Himmelsblau
Vom Brautbett auf der grünen Au.

Am Teich, aus breiter Blätter Reif,
Den weißen Kelch ich breche.
Der Fisch schlägt munter mit dem Schweif,
Und sonnt sich auf der Fläche,
Taucht schweigend und schwimmt stille fort;
Der Liebe fehlet oft das Wort!

Es zieht ein Wölkchen über's Feld,
Beschattet halb die Auen;
Doch doppelt ist die Stadt erhellt:
Was will man dort erbauen?
Wozu der Baum mit Flaggen? sag'!
- "Es ist  ja heut' Walpurgistag!"

Der Bauerbursch', am Hut ein Band,
Auf's Pferd sich fröhlich schwinget:
Den Sommer reitet er in's Land;
Horch! die Musik erklinget.
Die Melodie ist einfach, alt,
Der Burschen Lied gar lieblich schallt:

"Im Frühlingsschmuck prangt die Natur,
Was wir erfleh'n, gewähr' uns!
Schenk Obst dem Baum und Gras der Flur;
Der Liebe Gott, erhör' uns!

D'rum tragen wir zur Stadt den Mai:
Was wir erfleh'n, gewähr' uns!
Des Himmels Herr gelobet sei!
Der Liebe Gott, erhör' uns!

Laß Hopfen, laß das Korn gedeih'n,
Was wir erfleh'n, gewähr' uns!
Daß wir des Segens uns erfreu'n;
Der Liebe Gott, erhör' uns!

Behüt' vor Noth das Vaterland,
Was wir erfleh'n, gewähr' uns!
Den König schütz' mit gnäd'ger Hand;
Der Liebe Gott, erhör' uns!

Das, was uns frommt, bekannt ist's Dir:
Was wir erfleh'n, gewähr' uns!
In Jesu Namen beten wir:
Der Liebe Gott, erhör' uns!"

"O, holder Mai, sei uns gegrüßt!"
Die Mädchen Antwort sagen.
Zum Tanze Paar an Paar sich schließt,
Wer wird den Kranz wohl tragen?
- Erröthend tritt sie aus der Schaar,
Den Kranz in dem gelösten Haar.

Spiel' nur die alte Melodie,
O Greis! zum frohen Tanze,
Denn heut' wird Alles Poesie
Im Maiensonnenglanze.
Du lehrtest mich, Du schöner Mai,
Daß Poesie die Liebe sei!

übersetzt vom Dichter

Aus: Gesammelte Gedichte
von H. C. Andersen (Dritter Theil)
Leipzig Verlag von Carl B. Lorck 1847 (S. 51-55)

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