|
David Mallet (1700-1765)
englischer Dichter
Wilhelm und Gretchen
Zur Stunde still und feierlich,
Wo Nacht und Tag sich grüßen,
Glitt Gretchens Schreckgespenst herein
Und stand zu Wilhelms Füßen.
Ihr Antlitz war wie Frühlingstag
In schneeigem Gewande,
Und eiskalt ihre Lilienhand,
Die's Sterbekleid umspannte.
So sieht das lieblichste Gesicht,
Wenn Jahr' und Jugend schwanden;
So zeigt der Fürst sich, dem im Tod
Die Krone kam abhanden.
Einst glich der Frühlingsblume sie,
Die Silberthau umsprühet;
Und ihre Wangen sproßten auf,
Wie Röschen halb erblühet.
Doch Liebe bracht' ihr, wie der Wurm
Der Blüthe, früh Verderben;
Die Wangen bleich, die Röschen fort,
Mußt' vor der Zeit sie sterben.
Sie sprach: "Wach auf! Treuliebchen ruft,
Kam Mitternachts vom Grabe;
Wein' um die Maid, der du versagt
Der Liebe Rettungsgabe.
Jetzt ist die düstre Stunde, wo
Verrathne Seelen jammern:
Es klafft das Grab, die Todten ziehn
Zu der Verräther Kammern.
An deinen Meineid, Wilhelm, denk',
An deine Schuld mit Reue!
Gieb mir mein jungfräulich Gelübd'
Zurück und meine Treue.
Was schworest du mir Liebe zu,
Ohn' ehrlich es zu meinen?
Und schworst auf meiner Augen Glanz,
Und ließest sie verweinen?
Was nanntest du mein Antlitz schön,
Und hast mich doch verlassen?
Gewannst dir mein jungfräulich Herz,
Und hast es brechen lassen?
Und sprachst, vor meinen Lippen süß
Müßt' sich der Scharlach schämen?
Und ich, ich thöricht Mädchen, mußt'
Den Trug für Wahrheit nehmen?
Die Lippen, ach! sind nicht mehr roth,
Und nicht mehr schön die Wangen;
Das Auge, schwarz, verschloß der Tod,
Die Reize sind vergangen.
Die Würmer nenn' ich Schwestern nun,
Das Grabgewand ich trage,
Und kalt und träge schleicht die Nacht
Bis zu dem jüngsten Tage.
Doch horch! der Hahnruf scheucht mich fort;
Magst letzten Gruß noch haben:
Komm, Falscher, sieh! wie tief sie liegt,
Die Liebe zu dir begraben."
Die Lerche singt, der Morgen lacht,
Vom ros'gen Roth beschienen,
Und Wilhelm bebt und stehet auf,
Bleich, mit verstörten Mienen.
Eilt zum verhängnißvollen Platz,
Wo Gretchens Grab sich breitet,
Und wirft sich auf den Rasen, der
Den todten Leib umkleidet.
Dreimal beim Namen ruft' er sie
Und weint' drei bittre Zähren.
Und legt' die Wang ans Grab und läßt
Kein Wort mehr von sich hören.
(S. 327-331)
Übersetzt von Otto Leonhard Heubner (1812-1893)
Aus: Englische Dichter Eine Auswahl englischer Dichtungen
mit deutscher Übersetzung
von O. L. H ...r [Otto Leonhard Heubner]
Leipzig Verlag von Georg Wigand 1856
_____
|