Johannes Ewald (1743-1781)
dänischer Dichter
Klein Gunver
In der Dämmerung wandert klein Gunver hold
Am Meer, ohne Fehl.
Ihr Herz war Wachs und von ächtem Gold
Ihre Kinderseel'.
O hütt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild.
Mit der seid'nen Schnur klein Gunver fischt
Am Meeresstrand,
Da hob sich das Wasser, da braust der Gischt
Wie Höllenbrand!
O, hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild.
Bedeckt mit Schilf aus dem Schwalle stieg
Der Wassermann,
Sein Auge war Lieb', seine Stimme Sieg,
Süß hob er an:
(O hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild!)
"Lieb' Gunver, du marterst mich Tag und Nacht
Mit Liebesglut,
Meine Seele ist matt, mein Herz verschmacht't,
O sei mir gut!"
(O hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild!)
"Komm, reiche mir deinen Arm von Schnee,
Auf Seemannstreu!
Ich drück' ihn dann an mein Herz voll Weh,
Und lebe neu!"
(O hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild!)
"Klein Gunver, dies Herz - hinter schuppiger Hüll'
Ist's zärtlich genug!
Treu ist mein Name und rein mein Will'
Ich verachte Trug!"
(O hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild!)
""Und giebt mein Arm dir so Trost als Ruh
In deinen Sinn,
So komm, o Wassermann, greife zu,
Nimm beide hin!""
O hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild!
Froh zog er sie nieder vom Ufersrand,
Seine List gelang,
Wie Sturm klang sein Lachen - ihren Leichnam fand
Ein Fischer bang.
O, hüt' dich, Kind, vor dem falschen Mannsbild!
übersetzt von Edmund Lobedanz (1820-1882)
Aus: Album Nordgermanischer Dichtung
von Edmund Lobedanz
Erster Band: Album Dänisch-Norwegischer Dichtung
Leipzig 1868 Verlag von Albert Fritsch (S. 28-29)
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