Europäische Liebeslyrik

(in deutscher Übersetzung)

Edward Charles Halle (1846-1914) - Die Musik

 


Wilhelm (Vilmos) Györy (1838-1885)
ungarischer Dichter


Einem kleinen Mädchen

Eine kleine, zarte Blume
Wuchs in eines Thales Schooss.
Nur wer blind, sah nicht, dass schön sie
Einst, wenn sich ihr Kelch erschloss.

Und sehr schön wär' sie geworden,
Jene Blume, klein und zart,
Aber ach! sie traute früh schon
Falscher Schmeichler Lügenart.

Kaum noch war der Lenz erschienen,
Länger blieb er fern, als je,
Noch gabs keinen milden Regen,
Flocken nur und flücht'gen Schnee.

Nur erst ein paar falsche Strahlen
Drängten durch sich hier und dort,
Nur erst ein paar falsche Lüftchen
Flüsterten ihr falsches Wort.

Falscher Strahl und falsches Lüftchen
Sind verliebte Wichte ja,
Wie sie schmeicheln, wie sie flüstern,
Einer hier, der Andre da.

Die verschämten kleinen Blumen
Hielten sich zurück ganz still;
Und auf jener losen Wandrer
Worte keine hören will.

Aber diese, leichten Sinnes,
Flogen flink zu andern fort,
Bis das eine falsche Lüftchen
Fand die eine Blume dort.

Oeffn', o schöne kleine Blume -
Sprach der List'ge jetzt gewandt -
Dich - o sieh', es hat der Frühling
Mich zum Liebsten dich gesandt.

Lieb' ist aller Welt Bestimmung,
Warum sollten zögern wir?
Reich', o reich', du holde Blume,
Deine Lipp' zum Kusse mir.

Sei die erste deiner Schwestern,
Staunen soll ob dir die Welt,
Werde du mir als Geliebte,
Süsse Blume, zugesellt!

Und die Blume, klein und thöricht,
Glaubte, ach! dem falschen Wort,
Wusste nicht, dass Schmeichlerstimmen
Lockend täuschen fort und fort.

Und sie hob das schöne Köpfchen,
Bot die Lippe dar zum Kuss,
Und das Lüftchen sog begierig
Kuss auf Kuss ohn' Ueberdruss.

Ward zuletzt des Spiels doch müde,
Und mit Lachen flog's davon,
Trauernd sah's die Blum' - doch nahte
Bald ein Strahl sich, kühner schon.

Auch der Strahl er küsst' und koste,
Und die Blume litt es gern,
Hielt den Schein für gold'ne Wahrheit,
Bis gar bald auch er blieb fern.

Als die Falschen kaum entflohen,
Kam noch Wintersturm getost,
Und berührt die Wahnbethörte
Unverseh'ns mit seinem Frost.

O wie weinte da und flehte
Die betrogne Blum' - allein
All' umsonst, denn Schneegestöber,
Wind und Sturm, sie sprachen: Nein!

Raubten ihr die schönsten Reize,
Immer trüber ward ihr Sinn;
Frühling kam - die andern Blumen
Blühten, doch sie welkte hin.

Und die früh verblühte Blume
Hielt nun ferner Niemand werth,
Jeder mied sie, bis am Ende
Gram und Kummer sie verzehrt.

D'rum, du kleines, zartes Mädchen,
Lass' die Lieb' noch aus dem Spiel,
Hast, ihr süsses Glück zu kosten,
Zeit genug noch, - ja zu viel.

Denn der Himmel gab die Liebe
Uns als theuren Schatz, fürwahr,
Diesen Schatz früh zu vergeuden
Lasst uns meiden die Gefahr!

Wenn Unwürd'gen wir ihn geben,
Bleibt für Würd'ge nichts zurück,
Und so wird zum Quell der Schmerzen,
Was bestimmt zu unserm Glück.

Unser Losungswort beim Lieben
Sei darum niemals: je eh'r!
Sondern sorgt, dass unsre Liebe
Heiss sich, wahr und treu bewähr'!


übersetzt von Gustav Steinacker (1809-1877)

Aus: Ungarische Lyriker
von Alexander Kisfaludy bis auf die neueste Zeit (die letzten 50 Jahre)
In chronologischer Reihenfolge metrisch übertragen
und mit literar-historischer Einleitung
und biographisch-kritischen Notizen versehen
von Gustav Steinacker
Zweite Ausgabe Leipzig Joh. Ambr. Barth Buda-Pest
Grill'sche (vormals Geibel'sche) Buchhandlung 1874 (S. 415-418)

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