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Heinrich Howard Graf von Surrey
(1516-1547)
englischer Dichter
Frühlingssonett
Die süsse Zeit, die Knosp' und Blüthen bringt,
Hat Thal und Hügel neu mit Grün umgossen,
Die Nachtigall nun neubefiedert singt,
Die Taube schwatzt mit ihren Nestgenossen.
Der Lenz ist da, denn Alles keimt und springt.
Sein alt Geweih der Hirsch hat abgestossen,
Der Winterpelz der Bock zur Hecke bringt.
Es schwimmt der Fisch mit neugewachs'nen Flossen;
Die Natter aus der alten Haut sich ringt:
Den Fliegen kommt die Schwalbe nachgeschossen,
Das ems'ge Bienchen seinen Honig wringt.
Kein Winter hält die Blüthen mehr verschlossen,
Und doch, ob Alles lacht und Freude winkt:
Aus meiner Brust hervor der Kummer dringt.
(S. 80)
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Liebesgluth
Bringt hin mich, wo die Sonn' das Grün zerglüht,
Oder auch wo ihr Strahl abprallt vom Eise;
In mäss'ge Wärme, wo man sie fühlt und sieht;
Bringt mich zu Völkern, thöricht oder weise:
Stellt mich in hohen oder niedern Rang,
In längste Nächte oder kürz'ste Tage,
In hellsten Aether, dicksten Wolkenhang,
In frische Jugend oder Altersplage:
Schafft mich in Himmel, Erd', zur tiefsten Höll',
Berg oder Thal, in wilde Wasserfluthen:
Sclav' oder frei, gesund, krank, wo zur Stell'
Ich lebend bin, im bösen Ruf, im guten,
Gehör' ich ihr, und der Gedank' allein
Genügt mir, mag mein Loos auch elend sein.
(S. 81)
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Übersetzt von Johann
Gottlieb Regis (1791-1854)
Aus: England und Amerika Fünf Bücher englischer
und amerikanischer Gedichte
von den Anfängen bis auf die Gegenwart
In deutschen Übersetzungen
Chronologisch geordnet mit litterarhistorisch-kritischen
Notizen und einer Einleitung
von Julius Hart
Minden i. W. J. C. C. Brun's Verlag 1885 (S. 78-79)
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