Europäische Liebeslyrik

(in deutscher Übersetzung)

Edward Charles Halle (1846-1914) - Die Musik

 


Thomas Latto (1818-?)
schottischer Dichter


Der Kuß hinter der Thür

O welch' Genuß in einem Kuß,
'S thut's wahrlich nicht die Zahl,
Allein den Kuß der Henker hol',
Den hinter der Thür ich stahl.

"O, Lieber, still! in solcher Angst
War ich noch nie zuvor.
Der Kuß, den hinter der Thür Du nahmst,
Traf wohl der Mutter Ohr."
""Die Mau'r ist dick, sei ohne Furcht,
Und spotten ja sie los,
So sag' ich, 's flog ein Propfen auf,
Und schied's auf's rost'ge Schloß.""

Wir traten ein und Gretchen glüht
Wie eine Kohle noch,
Und ich, ich wär' gekrochen gern
In ein Kaninchenloch.
Die Mutter blickt - o welch ein Blick!
Die Mütter sind aufgebracht,
Und auf 'nen Kuß hinter der Thür,
Wie geben sie da acht!

Der gute Vater da saß doch;
Als hätt' er gesessen in Rom,
Saß er am Feuer und schmaucht' die Pfeif'
Und rührt keinen Finger drum.
Doch kichernd standen im Winkel da
Die albern'n Schwestern vier;
Ich wollt', sie hätten 'ne Winternacht
Gestanden hinter der Thür.

Wie dürft' ihr's wagen, so kühn zu sein,
Die Mutter da begann.
Da lachen die vier Schwestern auf,
Und ich lauf', was ich kann.
Ein Besen fuhr mir vorbei am Ohr,
Und Scheuerlappen dazu,
Ich küsse nie wieder hinter der Thür,
Wie gern ich's sonst auch thu'.

O welch' Genuß in einem Kuß,
'S thut's wahrlich nicht die Zahl.
Allein den Kuß der Henker hol',
Den hinter der Thür ich stahl.

übersetzt von Eduard Fiedler (1817-1850)

Aus: Geschichte der volksthümlichen schottischen
Lieder-Dichtung von Eduard Fiedler
Zweite Ausgabe Erster und zweiter Band
Leipzig 1858 Verlag von Wilhelm Violet (Band 2 S. 190-191)

_____



Die Blume von Ayr

Aus ging ich, als Nacht auf die Fluren sich legte,
Als Glutschein nur zögernd noch spielt auf der See;
Der Wald war so still, kein Zephyr sich regte,
Und der Lerche Gesang war verstummt in der Höh'.
Vor dem thörichten Lärm in der Stadt floh ich eilig,
Wie weit, das zu fragen, fiel nimmer mir ein.
Die Nacht war so friedlich, die Stunde so heilig,
Mit dem Geist der Natur da war ich allein.

Ich dachte, der Tag', da ich wandelt' mit Gretchen,
Wenn Vögel süß sangen am Ufer des Ayr,
Als meine Hoffnungen all' ich entdeckt meinem Mädchen,
Und das Leben floh froh wie ein Sommer einher.
Schwer war mir um's Herze, denn wieder durch Scenen
Ich wandelt', wo früher viel Freuden ich fand,
An die Sommerabende dacht' ich mit Thränen,
Als am Busen mir ruhend, sie mein sich genannt.

Das Bächlein war da noch, mit Farnkraut umgeben,
Das Ufer, wo sie auf den Knieen mir saß,
Die Birkenlaub' auch steht noch einsam daneben,
Wo zärtlich in ihren Augen ich las.
Doch wo ist mein Mädchen? o wo ist mein Gretchen?
O grausames Echo! nicht spotte mein mehr!
Kein Sonnenschein wärmt mich, kein Sturmwind mehr härmt mich,
Ach daß ich doch läg' bei der Blume von Ayr.

übersetzt von Eduard Fiedler (1817-1850)

Aus: Geschichte der volksthümlichen schottischen
Lieder-Dichtung von Eduard Fiedler
Zweite Ausgabe Erster und zweiter Band
Leipzig 1858 Verlag von Wilhelm Violet (Band 2 S. 191)

_____


 

 


zurück zum Verzeichnis

zurück zur Startseite