John Lowe (1750-1798)
schottischer Dichter
Mariens Traum
Der Mond trat über'm Berg hervor,
Aus dem des Don Gewässer bricht,
Und von des Ostens Gipfel strahlt
Auf Thurm und Baum sein Silberlicht.
Ihr Lager suchte da Marie;
Sie dacht' an Wilhelm, fern im Meer,
Als sanft und leis' 'ne Stimme sprach:
Marie, wein' um mich nicht mehr!
Da hob vom Kissen sie empor
Ihr Haupt zu fragen, wer es wär',
Und zitternd stand Wilhelm vor ihr,
Blaß das Gesicht, das Auge leer.
"Mein kalter Leib, er ruht, Marie,
Tief unterm sturmerregten Meer,
Fern, fern von Dir schlaf' ich entseelt,
Marie, wein' um mich nicht mehr!
Drei grause Nächt' und Tag' hindurch
Flog unser Schiff auf wilder Fluth.
Zwar Jeder für sein Leben rang,
Doch überwand des Sturmes Wuth.
Von Liebe war mein Herz noch voll,
Als Todesschau'r auf mir lag schwer;
Der Sturm hört' auf, ich bin zur Ruh',
Marie, wein' um mich nicht mehr!
O theures Mädchen, sei gefaßt,
Bald sehn wir uns an jenem Strand,
Wo Lieb' ist frei von Kummers Last
Und uns umschlingt ein ew'ges Band."
Laut kräht der Hahn, der Schatten flieht,
Und nichts von Wilhelm sieht sie mehr,
Doch leise klang's noch, wie er schied:
Marie, wein' um mich nicht mehr!
übersetzt von Eduard Fiedler (1817-1850)
Aus: Geschichte der volksthümlichen schottischen
Lieder-Dichtung von Eduard Fiedler
Zweite Ausgabe Erster und zweiter Band
Leipzig 1858 Verlag von Wilhelm Violet (Band 1 S. 123-124)
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