Europäische Liebeslyrik

(in deutscher Übersetzung)

Edward Charles Halle (1846-1914) - Die Musik

 


Fernand Severin (1867-1931)
belgischer Dichter



Märchen

Laß atmen mich den Duft der Blüten meiner Matten
In dieser Ruh! Doch horch! Die Stimmen welcher Schatten?
O meine Amme, hörst du meiner Schwäne Lied?

Geweissagt wurde mir der Tod beim Schwanensange.
Ein königlich Geschick! Nicht fragen darf ich lange.
So viele scheiden hier, bevor die Kindheit schied!

Ein Märchen wunderbar und traurig, wie man's gerne
Abends erzählen hört! . . . Sterben, dem Welken ferne,
Wie eine Lilie stirbt, die nie ein Auge sah!

O Märchenprinz, dem einst mein Morgenrot erglommen,
Du sprachst: "Auf Wiedersehn!" Doch bist du wiederkommen?
Wie selig war das Meer, das dich entführte da!

Über sein Lenzgewog tanzte im Windestosen
Musik daher, zurück noch blickten die Matrosen,
Doch du, der einsam stand, träumtest von goldnem Vließ.

Doch stiehl ein Leuchten dir, mein Herz, das noch mir tage!
Als mich sein Auge floh, was war ich, daß ich klage?
Was bin ich, daß ich nun noch glaub', was er verhieß?

Und wenn er dennoch käm'? . . . O meine Amme, Rosen!
Doch nein! Dies Hoffen täuscht allein der Hoffnungslosen
Ein falscher Abend vor . . . Laß mich! Es ist vollbracht!

Ein kleines Kind, ganz so, wie er mich einst verlassen,
Sterb' ich durch ihn, allein, doch ohne Groll und Hassen . . .
Und sieh! die Nacht ist nah, das Schweigen und die Nacht . . .
(S. 137-138)
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An die Erwartete

O du, die zu mir kommt aus ferner Hoffnungsflur
In Liliengärten, wo ich dich erharr' mit Küssen,
O sag mir Worte dann voll Traum und Abend nur,
Die meine Fieberglut, die alte, stillen müssen!

Und deine Liebe sei mir ein gewolltes Grab,
Das mich auf einen Pfühl von welken Rosen bahre,
Noch auf der Stirn den Kuß, den die Geliebte gab,
Und also schwinde hin die Blüte unsrer Jahre!

Nur was wir schweigen, lebt dann wahrhaft im Gemüt,
Und daß die Gegenwart zur Ewigkeit uns werde,
Sterbe in Knospen schon der Strauß, der uns erblüht,
Und berge seinen Duft vor jedem Hauch der Erde!

Gatten voll Überdruß und Liebende voll Gram,
Der Seele nun beraubt in ihrer Sinnensätte,
Sie nahen unsrem Thor, doch gehn, wie jedes kam,
Und ahnen nimmermehr den Frieden dieser Stätte.

Wir sehn sie weiterziehn, von ihrem Kreuz bedrückt,
Unendlich Mitleid füllt die Augen uns mit Thränen
Und läßt ein Lächeln sie, die Liebe noch beglückt,
In jene strahlen, schon so matt von totem Sehnen.

Und ihrer keines ahnt, wer ihnen dies beschert
Und daß es Liebe war, die so auch sie durchdrangen,
Und wenn ihr alter Durst, ihr Hunger wiederkehrt,
Verfluchen sie den Tag, vom Abgrund tief verschlungen.
(S. 139)
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übersetzt von Otto Hauser (1876-1944)

Aus: Die belgische Lyrik von 1880-1900
Eine Studie und Übersetzungen von Otto Hauser
Verlegt bei Baumert & Ronge in Großenhain 1902



 

 


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