Lucian Siemienski
(1807-1877)
polnischer Dichter
Liebeslieder
1.
Wer hat das Meisterwerk der Uhr erfunden,
Wer hat die Zeit getheilt nach Maß und Stunden?
Gewiß ein kalter, scheuer Menschensohn,
Er zählte wol in Winters Nacht und Sturm
Der Grille Zirpen, Uhus Klageton,
Und wie im Holze pickt der Todtenwurm.
Wer hat des Kusses Süßigkeit entdeckt,
Das Feuer in des Mädchens Mund geweckt?
Der Mann, er hat im Herzen Glut getragen,
Es war gewiß in schönen Frühlingstagen,
Und Blumen gab es, Blumen ohne Zahl
Und Vögelchorgesang im Sonnenstrahl.
2.
Wo eilst du hin in stiller Mitternacht?
Hast aller Blumen Mismuth angefacht;
Die Veilchen beugen sich bestürzt, verdrossen,
Und schamroth sind die Rosen übergossen,
Der Lilie Wangen wurden grabesbleich,
Und alles ächzt und klaget thränenreich.
Ach, goldner Mond, nun bin ich recht belehrt,
Daß auch der Blumen Herz Gefühle nährt.
Die Sünde hält mich zwar in schnöden Banden;
Doch konnt' ich ahnen, daß sie mich verstanden,
Als ich den hellen Sternen dort erzählt,
Welch wilder Liebeswahn mein Innres quält!
3.
Bei des Mondes mildem Scheine
Läßt die Nachtigall im Haine,
Wo der Linde Düfte wallen,
Ihre reichen Lieder schallen.
O Geliebter, an dem Baume
Schwelgen wir im süßen Traume,
Wenn aus grüner Linde Kränzen
Uns des Mondes Blicke glänzen.
Jedem Blatt an ihren Zweigen
Ist die Form des Herzens eigen,
Darum mag zu ihren Füßen
Sich so gern die Liebe grüßen.
Lächeln strahlt von deiner Wange,
Wie im frohen innern Drange!
Was erhoffst du, Freund, erzähle,
Was erheitert deine Seele? -
Lieb, ich will dir nichts verhehlen,
Kein Geheimniß soll uns quälen;
Wisse: bei des Nordwinds Wehen
Glaub' ich schon den Schnee zu sehen.
Pelzumhüllt, im leichten Schlitten
Geht es mit beschwingten Schritten,
Glockenschallen, Peitschenknallen,
Durch des Waldes stolze Hallen.
(S. 300-302)
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Seefahrt
Komm, Geliebte, in die Ferne,
Auf das Meer, das Meer!
Sieh, dort winken neue Sterne
Hoch vom Himmel her.
Laß uns Strand und Häfen fliehen,
Durch die Wolken Pfade ziehen;
Fort vom Lande, fort!
Soll der Geist, von Gott beflügelt,
Kriechen schneckengleich?
Nein, er schwebe ungezügelt
Durch des Weltmeers Reich!
Schweigen herrscht im Flutgetriebe,
Keine Zeugen braucht die Liebe;
Fort vom Lande, fort!
Bringt die Möve auf dem Maste
Uns vom Lande Mär,
Daß der Sturm dort nimmer raste,
Schreckt uns das nicht mehr.
Erdenkummer bleibt uns ferne,
Hier im Aether lächeln Sterne;
Fort vom Lande, fort!
(S. 302-303)
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übersetzt von Heinrich Nitschmann (1826-1905)
Aus: Der polnische Parnaß
Ausgewählte Dichtungen der Polen
Übersetzt von Heinrich Nitschmann
Nebst einem Abriß der polnischen Literaturgeschichte
und biographischen Nachrichten
Vierte sehr vermehrte Auflage
Leipzig F. A. Brockhaus 1875