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Unbekannter Dichter
Tagelied (alba)
In einem Garten, unter'm Weißdornzelt
Ist die Geliebte mit dem Freund gesellt,
Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt.
"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"
"Blieb' es doch Nacht, o Gott, wenn das geschäh',
Der traute Freund nicht sagen dürft': Ade!
Der Wächter auch nicht Tag noch Morgen säh'.
Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh."
"Schön süßer Freund, gehn wir die Wies' entlang,
Uns dort zu küssen bei der Vöglein Sang;
Der Eifersücht'ge mach' uns nimmer bang.
Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh."
"Schön süßer Freund, ein neues Spiel uns winkt
Im Garten dort, wo manch ein Vöglein singt,
Wohlauf denn, eh' des Wächters Pfeife klingt.
Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh."
"Ein sanfter Luftzug, der sich eben rührt,
Hat dort vom Freund, den Lust und Anmuth ziert,
Des Odems süßen Trank mir zugeführt.
Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh."
Hold ist die Frau, mit jedem Reiz geschmückt;
Von ihrer Schönheit ist die Welt entzückt;
Sie fühlt sich nur durch treue Lieb' beglückt.
"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh."
Nachgedichtet von Friedrich Diez
Aus: Die Poesie der Troubadours
Nach gedruckten und handschriftlichen Werken
derselben dargestellt von Friedrich Diez
Zwickau 1826 (S. 151-152)
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(Unbekannte Dame)
Alba
Es weilt in Gartens Hagedorneshain
Mit ihrem Freunde die Gebieterin sein.
Der Wächter ruft: Ich seh' den Morgenschein!
O Gott, o Gott, der Morgen kommt so früh!
Gefiel' es Gott, die Nacht entwiche nicht,
Und schaut' ich stets des Freundes Angesicht,
Und säh' der Wächter nie das Morgenlicht!
O Gott, o Gott, der Morgen kommt so früh!
Laßt Küss' und tauschen, Liebster, ihr mit mir!
Die Vögel singen auf dem Anger hier.
Trotz denn der Eifersucht! Was sorgen wir?
O Gott, o Gott, der Morgen kommt so früh!
Ein neues Spiel, mein Freund, begonnen sei,
Hier, wo die Vögel singen frank und frei,
Bevor der Wächter stößt in die Schalmei!
O Gott, o Gott, der Morgen kommt so früh!
Durch süße Luft, die mich von dort bestrich
Von ihm, der lieb und hold und adelich,
Zog seinen süßen Athem ich in mich.
O Gott, o Gott, der Morgen kommt so früh!
Hold ist und lieblich die Gebieterin!
Ob ihrer Schönheit schaun Viel' auf sie hin,
Und treu und liebend ist ihr Herz und Sinn.
O Gott, o Gott, der Morgen kommt so früh!
Nachgedichtet von Karl Ludwig Kannegießer (1781-1861)
Aus: Gedichte der Troubadours
im Versmaaß der Urschrift übersetzt
von Karl Ludwig Kannegießer
Tübingen 1852 (S. 454-455)
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