Émile Verhaeren (1855-1916)
belgischer Dichter
Trilogie der Liebe
Les Heures Claires 1906
Les Heures d'Après-midi 1905
Les Heures du Soir 1911
"An sie, die an meiner Seite lebt"
I.
Der nächtige Himmel hat sich entfaltet,
Und über der Stille, die träumerisch waltet,
Wacht nun ein zärtlicher Mondenglanz.
Alles ist rings so hell, so rein,
Alles schweigt sanft in die Nacht hinein
Und über den Teichen des traulichen Lands.
Welch süßes Erschrecken, wenn taubeschwingt
Ein Tropfen von rosigem Blatte sinkt
Und in das Schweigen der Fluten verklingt!
Aber ich habe so ganz deine faltenden Hände,
Deinen sicheren Blick, dessen zärtliche Spende
Mich leise in treulichen Banden hält.
Und ich fühle so tief: alle Dinge sind
Mit mir im Frieden, und nichts in der Welt,
Nicht selbst eines Zweifels beschwingtes Berühren
Kann uns, und nur einen Augenblick,
Das Vertrauen entführen,
Dies heilige Glück,
Das in uns ruht wie ein schlafendes Kind.
(S. 95)
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II.
Der Frühling, der hell und gütig erschienen
Und unsern Garten mit Schönheit umflicht,
Durchleuchtet auch unsere Worte und Mienen
Und taucht sie tief in sein läuterndes Licht.
Die Lippen der Blätter, das Wiegen der Winde
Schwätzen vertraulich und fügen gelinde
Unsre Silben wie ihre so leuchtend und schlicht.
Doch unser Bestes hält sich verschwiegen
Und bangt vor den flüsternden Stimmen zurück.
Ein Glück, viel reicher, als Worte es trügen,
Einen wahren Himmel umfängt unser Glück:
Den deiner Seele, auf beiden Knien
Hingebeugt ganz schlicht zu der meinen,
Den meiner Seele, auf beiden Knien
Hingeneigt ganz sanft vor den deinen.
(S. 96)
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III.
Die Stunde, da man die Lampe erhellt,
Wie gut ist sie!
Nichts wagt ihr atmendes Schweigen zu stören.
Man könnte es hören,
Wenn eine Feder zu Boden fällt.
O gute Stunde, da zärtlich und lind
Wie schwebender Rauch, wie wehender Wind
Die Geliebte sich naht:
Noch ist sie zuerst nur Schweben und Schweigen,
Doch ich lausche und lausche
Und höre tiefinnen die Seele rauschen,
Seh ich funkelnd nun auf in die Augen steigen,
Und da beug ich mich nieder
Und küsse stumm ihre schmachtenden Lider.
Die Stunde, da man die Lampe erhellt,
Wie gut ist sie!
Sie verrät,
Wie sehr man tagsüber sich nahe gewesen,
Und läßt des Herzens geheimstes Gebet
Traulich Auge in Auge lesen.
Und man plaudert dann von ganz schlichten Sachen,
Von der Frucht, die man im Garten gepflückt,
Von der Blume, die man zwischen den Winden
Zum ersten Male erblickt,
Und wie man - mit süß erschrecktem Erwachen
Alter Gefühle - in einem Brief,
Der irgendwo im Schrank versteckt
Und vergessen schlief,
Ein vergilbtes Wort der Liebe entdeckt.
(S. 97)
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IV.
So Wundervolles sagtest du in jener Abendneige,
Daß all die Blumen rings uns beide lieben wollten,
Und eine, wohl um uns zu grüßen, vom Gezweige
Plötzlich erglühend über unsre Kniee rollte.
Von unserm Leben sprachst du, das der Jahre Bürde
Wohl bald wie überreife Frucht zur Erde dränge,
Und wie sich unsre Liebe nur verschönern würde,
Je näher ihr der Ruf der dunklen Glocke klänge.
Da tat mir deine Stimme wie ein sanft Berühren:
So heilig schön fühlt ich dein Herz entbrennen,
Daß ich die finstern Wege, die zum Tode führen,
In dieser Stunde lächelnd hätte grüßen können.
(S. 98)
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V.
Dämmer und Frühe, Licht und Sterne in den Räumen,
All was die Welt verschleiert oder halb erschließt,
Nimmt teil an unsres Wesens heißem Überschäumen,
Denn Ewigkeit erlebt, wer voll der Liebe ist.
Und mögen Kluge spotten oder Beifall winken
Und hoch, von hohen Port der Wächtertürme her
Mit klaren Lichtern sie zurück zum Hafen blinken,
Sie bleiben stets die Wandrer über Meer und Meer.
Viel weiter, als die dunklen Ozeane blauen,
Sehn sie den Tag, wie er von Strand zu Strand sich schwingt,
Die schwanke Hoffnung und das eherne Vertrauen
Sind eins dem Blick, der sie mit gleicher Glut durchdringt.
Glücklich und froh, glauben sie ohne Wank und Zagen,
Und mit der Inbrunst, die ihr Herz so heiß erhellt,
Erleuchten sie die Stirn der letzten Lebensfragen,
Und blicken sie in sich, so kennen sie die Welt.
So gehn sie ihren Weg, den sie sich selbst erwählten,
Der Wahrheit folgend, die ihr eignes Herz sie wies,
Selige Pilger, schlicht und morgendlich Beseelte,
Und nur für sie allein klingt noch das Paradies.
(S. 99)
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VI.
Nun die Flimmer von Schnee auf unser Dach
Diamanten hinwehen,
Hör ich geschäftig im Nebengemach,
Geliebte, dich gehen.
Den Spiegel nimmst du vom Fensterbrette,
Und in pendelndem Gang
Streift deine baumelnde Schlüsselkette
An den Buchenschrank.
Und jetzt, ich hör es, wie du die Brände
Im Kamine erneust
Und sorgsam um die schweigende Wände
Das Schweigen der Stühle hinreihst,
Und wie du von der gebrechlichen Vase
Den Staub wegfegst
Und mit streifendem Ring an einem Glase
Ein Klingen erweckst.
Und ich bin beglückt, bin es heut wie noch nie
Von deiner Nähe.
Du, die ich fühle und höre und die
Ich doch nicht sehe.
(S. 100)
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VII.
Dich nur zu geben, will dir nie genügen,
Du schenkst dich ganz, Geliebte, und verschwendest dich,
Und deine Inbrunst schwingt in wilden Flügen
Bis in der Liebe allerhöchsten Himmel sich.
Ein Händedruck, ein Blick schon läßt dich glühen,
Und du erscheinst mir immer dann so schön, so rein,
Daß ich - wie oft! - vor deinen Lippen fliehe
Aus Furcht, so großer Liebe nicht mehr wert zu sein.
O Glut, o Glut, zu schön für eine Seele,
Die nur ein irdisch armes Herz ihr eigen nennt,
Ein Herz, bedrückt von Schuld, verwirrt von Fehle,
Das, um zu danken, nichts als seine Tränen kennt!
(S. 101)
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VIII.
Vielleicht,
Dereinst in meiner letzten Stunde,
Vielleicht,
Daß dann - und wär's nur für eine Sekunde! -
Ein wenig Sonne, zaghaft und leicht
Über die dunkelnden Fenster schleicht.
Dann würden meine Hände, die entfärbten, armen,
Von ihrer Glut noch einmal golden reifen,
Ihr letzter leiser Kuß mit ihrer warmen
Begütigung mir Stirn und Lippen streifen,
Und meine Augen könnten, eh sie stolz verglühen,
Dankbar so großes Leuchten widersprühen.
Sonne, wie hab ich deine helle Kraft geliebt!
All meine Kunst, die störrische und milde,
Zwang dich hinein ins heiße Herz meiner Gedichte,
Und wie ein goldnes Feld, das Sommerwind durchstiebt,
So feiert dich mein Werk in vielem Ebenbilde.
O Sonne du, die du entfaltest und befreist,
Gewaltiger Freund, der du den Stolz entzündest,
Laß es geschehn, daß in der Stunde, da mein Geist
Sich noch verwirrt vor der zu neuen Prüfung findet,
Daß du in jener dunklen und gebieterischen Stunde
Mir Beistand, Bruder und Begleiter seist.
(S. 102)
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Die königlichen Rhythmen
Les Rhythmes
Souveraines 1910
Les Poèmes Ardents 1913
Der irdische Rhythmus
(Adam und Eva)
I.
Tage der Glorie, Tage der Weihe,
O Tage, ihr fernen und wunderbaren,
Da die Blüten, die Menschen, die Engelscharen
Und des ganzen Paradieses blauschimmerndes Land
Noch in Gottes Hand
Selig beglückt und geborgen waren!
Nach tausend und abertausend Jahren
Beschwört ihr mit eurer Verlockung mich,
Du, taufeuchte Rose des ersten Morgens,
Du, Mittag, heißatmend und jugendlich
Wie eine gespannte Athletenbrust,
Und du, du kühlende Veilchengirlande,
Mit der zum allererstenmal
Der Abend träumrisch die Wälder umspannte!
Schauer von Klarheit liefen längs der Blumenhecken,
Tausend Insekten schwirrten durch die Luft wie Splitter Glas,
In dem Gewirk des Wassers, auf den Teppichen von Gras
Spielte der Wind mit blauer Lilien Schatten froh Verstecken.
Ein Löwe schlummerte unter der Blumen Augen,
Der Hirsch zog unbesorgt mit Panthern seinen Pfad,
Und Pfaue spreizten grell ihr feuerfarbnes Rad
Zwischen dem roten Phlox und weißen Lilienstauden. -
Gott war des Himmels und der Welt alleiniger Gebieter,
Adam war rings von göttlichem Gebot umstellt,
Eva lauschte naiv den leisen Quellenliedern,
In ihren schönen Augen barg das Lächeln sich der Welt.
Ein sanfter Erzengel war ihr besorglicher Begleiter,
Und Nacht für Nacht, wenn durch das Dunkel Sterne glommen,
Stand er - damit der Schlaf sie milde überkomme -
Mit ausgespannten Flügeln schirmend ihr zur Seite.
Mit süßem Tau auf ihrer Brüste Paar
Erwachte Eva unschuldig aus ihrem Traume,
Und sorglich trocknete mit seinem Flügelsaume
Der Engel ihr das wallend aufgelöste Haar.
Der Schatten löste sich aus der Umarmung los der Rosen,
Die noch ein wenig in den Morgen träumen wollten,
Und vor der beiden frohem Schritt entrollte
Der heilige Garten seine strahlende Apotheose.
Wie gestern und wie immer spielten ohne feindliche Gedanken
Die Tiere sorglos auf den sonnesatten Wiesenflächen,
Der Wind umschlang mit Gold den Arm der Efeuranken,
Und wieder spreiteten die Pfaue ihren bunten Fächer.
Die gelben Tiger rührten an die Blumenkelche
Mit ihren Nüstern sorgsam, um sie nicht zu knicken,
Und in dem warmen Moose paarten sich die Elche,
Ohne zu bangen vor der Löwen nahen Blicken.
Nichts hatte sich am Glanz von gestern heut verringert,
Der gleiche große Rhythmus war's des Glücks, der Gnade,
Gleich war das Wunder, gleich die reine Ordnung aller Dinge,
Und gleich war Gottes ruhende Allgegenwart.
(S. 155-156)
II.
Doch Eva fühlte eines Tags, nach manchem Jahre
Windstillen, monotonen Glücks ein ungestüm Bedauern,
Daß sie nur ewig Blume ohne Frucht und Liebe war. -
Am Himmel standen Wolken von Gewittern,
Als sie Gelüst befiel, vor ihrem Blitz zu schauern.
Jäh überfloß den Körper ein sehr süßes Zittern,
Und an das Herz preßte die Hände sie, die kühlen,
Um es bis tief in ihre Brust zu fühlen.
Der Erzengel befragte täglich ihren Schlummer
Und das Erwachen, das sie schreckhaft überkam,
Was sie so quälte mit geheimem Kummer.
Doch Eva schwieg und blieb unmitteilsam.
Vergeblich frug die Winde er, die Vogelscharen,
Die ihr Gespielinnen am Rand der Quellen waren,
Er frug die Wasser, die doch ihren Spiegel zeigten,
Was für Gedanken sie so düster werden ließen. -
Und eines Abends, als er über sie sich neigte,
Um frommen Fingers ihre Lider zu verschließen,
Entfloh sie jäh der Schwinge, die er schirmend aufgespannt.
O schöne Torheit, die so fruchtbar und verheißend war
Und die der Engel allzu reinen Herzens nicht verstand!
Eva entfloh. Und er hielt offen noch sein Schwingenpaar,
Als sie schon ihren Leib, den nun kein Schleier mehr bedeckte,
Nackt und ekstatisch zu dem Sternenfeuer reckte.
So sah sie Adam, und sein Herz erschrak.
Sonst, wenn er müde mit dem müden Tag
Von seinen Wanderungen einsam wiederkam,
Fand er sie spielend an der Bäche Rand,
Wie sie die Bläschen, die die Strömung sprühend
Nach oben warf, einfangen wollte mit der losen Hand.
Und oft betraf er sie, ganz in Entzücken glühend,
Wie sie die Gräser zärtlich in die Finger nahm
Und plötzlich darinnen die glitzernd versteckten
Kleinen Insekten
Aufleuchten und emsig sich rührend fand.
Eva war damals nur ein sorglos schönes Kind.
Indessen er, der Mann, am Abend oft und gerne
Von einem andern Leben träumte,
Das ungezwungen und frei
Dort hinter den Bergen und Wäldern der Ferne
Dereinst ihm noch vorbehalten sei.
Eva ersehnte Liebe, Adam die Erkenntnis,
Und wie er sie in Nacht und Glanz erkannte,
Da ahnte er in ihrem Schauer das Bekenntnis
Neuer Gefühle, die ihr Herz verbrannten.
Er nahte ihr - erst leidenschaftlich und verlegen -
Und voll von Angst, daß er ihr süßes Staunen störte.
Von Terebinthen fiel ein warmer Blütenregen,
Und schwül von vielen Düften war ringsum die Erde.
Er nahte sacht und zögerte. Doch Eva sah sein Bangen
Und faßte seine Hand mit einer stolzen Geste,
Küßte sie lange, langsam und wie traumbefangen,
Eh sie liebkosend sie an ihre Brüste preßte.
Heiß lief der Brand von dort die Glieder weiter,
Sein Mund fand ihren Mund, daran sich zu entflammen;
Ihr Haar, von seinen Fingern fiebernd aufgebreitet,
Schlug über ihrer Küsse unzählbarer Glut zusammen.
Nichts war rings wach, als ihre funkelnd heißen Blicke,
Da sie ins weiche Heidekraut sich hin versenkten,
Und Adam fühlte jäh, mit schaurigem Entzücken,
Wie eine neue Kraft aus ihm sich hob und drängte.
An Evas Körper gab es keusch verborgne Stellen,
Zart wie die Moose in des Morgens Tauglanz blicken,
Und willig ließ das Gras sich ringsum von den Wellen
Der ungestümen Liebe morden und erdrücken.
Sich rastlos helfend, fanden beide sie allmählich
Die Wege, die ihr brennendes Begehren einten,
Und ihr Entzücken zuckte auf, so jäh und selig,
Daß sie in dieser Wollust zu vergehen meinten.
Und als die Schauer endlich ihrer Brust entstiebten
Und wie entseelt sie Arm in Arm noch lang verharrten,
Da ließ die Nacht, die kupplerische und verliebte,
Den Wind noch linder sein im Paradiesesgarten.
Plötzlich
Bäumte sich aus der Ferne ein grauer
Schatten wie eine Wolke und schwoll,
Bis sie nur Grauen mehr war und Groll.
Adam preßte Eva an sich
Und besänftigte ihr blasses Erzittern.
Die Wolke nahte mit schwefligem Schauer,
Mit düsterem Donnern ihr Drohen gewitternd.
Und plötzlich entlud
Sich ihre zornige Glut
Auf den Platz, wo die beiden, Arm in Arm
Eben noch ruhten, ein seliges Paar,
Und wo das wuchernde Gras noch warm
Von ihrer ringenden Liebe war.
Und die Stimme des Herrn ging über die Erde.
Feuer sprühten aus Büschen und Blüten,
Und längs der verstummenden Wege glühten
Engel mit feurig flammendem Schwerte.
Zu den Sternen grollte der Löwen Gebrüll,
Adlerschreie, kreischend und schrill,
Riefen Unglück, Verderben und Tod.
Die Palmen am Ufer der Seen schwankten
Im gleichen Wind des Zorns und der Wut,
Der Adam und Eva so entsetzlich bedrohte,
Daß sie flüchtend nach vorwärts drängten und wankten
In das Neuland der irdischen Lebensglut.
(S. 156-159)
III.
Der Mann empfand sich bald von den unendlich vielen
Dingen der Welt magnetisch angezogen.
Er ahnte Grund und Zweck, er schuf sich seine Ziele,
Das Wort sprang ihm vom Munde, um die Welt zu loben.
Sein reines Herz, es liebte, ohne es zu wollen,
Der Wasser sanfter Art, der Bäume ernste Strenge,
Die Funken selbst, die aus zersprengten Kieseln stoben.
Sanft lockte ihn die Frucht aus goldenem Gehänge,
Die Trauben, die er rein und lauter von den Reben löste,
Beglückten seinen Durst, noch ehe sie ihn stillten.
Die Jagd, der Kampf, die Tiere, die den Wald erfüllten,
Erweckten die Geschicklichkeit in seinen Händen,
Und aus dem Stolz erwuchs ihm Kraft und Größe,
Sich selbst nun eines Tages sein Schicksal zu vollenden.
Die Frau, viel schöner nun, da sie der Mann
Den wundervollen Schauer ihres Leibs gelehrt,
Lebte im goldenen Wald, von Duft und Glanz umtan,
Die Augen von den künftigen Geschicken tränenschwer.
Mit sanfter Kraft und nie gekannter Angst erschloß
In ihr die erste Seele sich, als ihres Herzens Gluten
Hinströmten zu dem Werdenden in ihrem Schoß.
Und abends, wenn im letzten Sonnenbluten
Der Bäume Stümpfe plötzlich leuchtend werden,
Streckte sie ihren Leib, den schon ihr Traum erfüllte,
Im Grase an der Felsen Mulde auf die Erde.
Die sanft erhobnen Brüste zeichneten auf ihre blasse,
Wie Wasser klare Haut zwei runde Schatten hin,
So daß die Sonne, da sie golden ihren Leib umfaßte,
Die ganze neue Welt in ihr zu reifen schien.
Sie dachte fromm und ernst, mit schmerzbereiter Würde,
Wie durch die Liebe sie der Menschen Los nun tausendfalt
Gemehrt und wie des Willens schöne und heroische Gewalt
Nun bald die Welt und ihren Glanz erschüttern würde.
Ihr alle, Schmerz, Leid und Verzweiflung, überkamt
Die so Verwandelte in jener ernsten Stunde,
Allein im vorhinein empfing und nahm
Eva euch auf und küßte euch mit frommem Munde.
Doch ihr auch, Stolz und Mut und Menschengröße,
Habt damals euch in Flammen in ihr aufgerichtet,
Habt ihres Herzens Garten mit den heißen Opferstößen
Zum Brand entflammt und hell die Ferne ihr gelichtet.
Ihr ganzes Wesen ließ ihr, Wille, Kraft und die Gedanken,
Und du, des Lebens unerschütterliches Selbstvertrauen,
Für ewig sicher sein. Und als sie einst, vom blauen
Himmel gewiegt, froh, unbesorgt und schön
Den Wald durchschritt, sah sie des Paradieses Schranken
Mit einemmal vor ihrem Wege wartend stehn.
Die Tür war aufgetan, einladend war des Engels Blick,
Doch Eva wandte sich. Sie wollte nicht ins Paradies zurück.
(S. 160-161)
_____
Übersetzt von Stefan
Zweig (1881-1942)
Aus: Rhythmen Nachdichtungen ausgewählter Lyrik von
Emile Verhaeren, Charles Baudelaire und Paul Verlaine
S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 1983