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William Wordsworth (1770-1850)
englischer Dichter
Das vollkommene Weib
Ein wonnig Traumbild, stand sie da,
Als sie zuerst mein Auge sah;
Schien auf die Welt gesandt, um rein
Der Schmuck des Augenblicks zu sein.
Die Augen - Sterne dunkelklar,
Wie Dämmerung das dunkle Haar,
Doch Alles, was sie sonst umflossen,
Dem Mai und Morgen schien's entsprossen,
Dies schwebend Bild, umstrahlt von Glück,
Zog blendend, fesselnd an den Blick.
Ich sah sie näher und genau,
So geistig und doch ganz die Frau!
Sah sie in ihrer Häuslichkeit,
Voll jungfräulicher Freudigkeit;
Sah, wie belebten ihr Gesicht
Erinn'rung und Verheißung licht;
Sah ein Geschöpf, nicht zu erhaben
Für jedes Tages Sorg' und Gaben,
Für flücht'gen Kummer und Genuß,
Lob, Tadel, Lächeln, Thrän' und Kuß.
Und klar durchschau' zu dieser Stund'
Ich ihres inner'n Lebens Grund,
Ein Wesen, das mit tiefer'm Sinn
Wallt zwischen Tod und Leben hin;
Voll Willenskraft, und klar von Blick,
Voll Duldung, Vorsicht, Kraft, Geschick,
Vollkommen weiblich, herbeschieden,
Zu warnen, trösten, zu gebieten;
Und doch so geistig schön und rein,
Daß fast sie strahlt im Engelsschein.
(S. 193-195)
Übersetzt von Louise von Ploennies (1803-1872)
Aus: Britannia. Eine Auswahl englischer Dichtungen
alter und neuer Zeit
In's Deutsche übersetzt von Louise von Ploennies
Mit beigedrucktem Originaltext
Frankfurt a. M.
Verlag der S. Schmerber'schen Buchhandlung 1843
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