Maryla Wolska (Ps. D-Moll) (1873-1930)
polnische Dichterin
Ein Augenblick
Ein Duften rings . . . Es schweigt der Grillen Chor,
Es welkt das Heu.
Und linde Winde quellen frisch hervor.
Und strömen herbei.
Ein stiller Geist, in Schweigen tief gehüllt,
Blickt um sich stumm.
Das Glück irrt wie ein flüchtig Wunderbild
Im Felde herum.
In unsren Herzen, heimlich still entfacht,
Ein Wunder loht,
Und über uns stirbt der Tag so sacht
Den glücklichen Tod.
(S. 16)
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Flieder
Es blühen die Flieder! Aus ihren Zweigen
Atmen Düfte. Und Lerchenlieder
Gleich jauchzenden Hymnen himmelwärts steigen;
Sacht fallen die weißen Blüten hernieder,
Als kämen sie heimlich vom Himmel geflogen,
Und schmücken des Baches glitzernde Wogen . . .
Es blühen die Flieder! In diesen Tagen,
Wenn Fliederdüfte überall wehen,
Von zärtlichen Lüften heimlich getragen,
Seltsame Klänge in mir erstehen
Und steigen zum Himmel wie jauchzende Lieder . . .
. . . Immer wenn draußen blühen die Flieder . . .
(S. 17)
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Vor dem Sturm
Die Zeit ist so müde, die Winde wehklagen,
Es schreiten mit Sicheln die Schnitter einher;
Ich habe so manches, so viel dir zu sagen,
So vieles und alles, vielleicht auch noch mehr.
Es naht ein Gewitter, es blitzt in der Höhe,
Ein Sturm wird die Nacht nach den Gluten durchwehn.
Ich möcht in die Seele dir schaun aus der Nähe,
Doch trau ich mich kaum in dein Antlitz zu sehn . . .
Es fallen schon Tropfen. Und rings auf den Auen
Erbeben die Blumen, und müd liegt das Feld.
Und in deinen Augen tief ist zu schauen
Der fernen Verheißungen göttliche Welt.
(S. 18)
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übersetzt von Lorenz
Scherlag (1881-1941)
Aus: Moderne polnische Lyrik
Eine Anthologie deutscher Übertragungen
Herausgegeben von Lorenz Scherlag
Amalthea Verlag Zürich Leipzig Wien 1923