Sören Kierkegaard (1813-1855) - Leben und Walten der Liebe


Wassily Kandinsky (1866-1944) - Improvisation 19




Sören Kierkegaard (1813-1855)

Leben und Walten der Liebe



Gebet
 

Wie sollte man von der Liebe recht reden können, wenn man dich vergäße, du Gott der Liebe, von dem alle Liebe ist im Himmel und auf Erden! dich, der nicht kargte, sondern alles in Liebe hingab; dich, der die Liebe ist, so daß der Liebende was er ist nur dadurch ist daß er in dir ist! Wie sollte man recht von der Liebe reden können, wenn man dich vergäße; dich, der offenbarte was Liebe ist; dich, unsern Heiland und Versöhner, der sich selbst hingab um alle zu erlösen! Wie sollte man recht von der Liebe reden können, wenn man dich vergäße, du Geist der Liebe; dich, der nichts von seinem Eigenen nimmt sondern an jenes Opfer der Liebe erinnert, der den Glaubenden erinnert zu lieben wie er geliebt ist und seinen Nächsten als sich selbst! Ewige Liebe, die du überall gegenwärtig bist und dich nie unbezeugt lässest wo du angerufen wirst, laß dich auch jetzt nicht unbezeugt bei allem was hier von der Liebe oder dem Walten der Liebe gesagt werden soll! Denn wohl sind es nur etliche Werke, welche die menschliche Sprache auszeichnet und kleinlich Liebeswerke nennt; im Himmel aber ist es ja so, daß dort kein Tun angenehm ist es sei denn ein Werk der Liebe: aufrichtig in Selbstverleugnung, im Drang der Liebe getan, und ebendaher ohne Anspruch auf ein Verdienst! (S. 3)

 


Aus: Erste Abteilung
Kap. I. Das verborgene Leben der Liebe, und wie es
an seinen Früchten erkannt wird
 


Sich selbst um die Liebe zu betrügen, das ist das Schrecklichste; das ist ein ewiger Verlust, für den es in Zeit und Ewigkeit keinen Ersatz gibt. (S. 6)



Woher kommt die Liebe? wo hat sie ihren Ursprung und ihre Herkunft? wo ist die Stätte da sie wohnt, von wo sie ausgeht? Ja, diese Stätte ist verborgen oder im Verborgenen. Es gibt eine Stätte im Innersten des Menschen, von da geht der Liebe Leben aus; denn "vom Herzen geht das Leben aus". Aber sehen kannst du diese Stätte nicht; wie weit du auch hineindringst, der Ursprung verzieht sich in die Ferne und Verborgenheit; selbst wenn du am tiefsten hineindringst, der Ursprung ist gleichsam immer noch ein Stück weiter drinnen, wie ja die Quelle an ihrem Ursprung nur zum Vorschein kommt. Von da geht die Liebe aus. (S. 9-10)



Das geheime Leben der Liebe ist im Innersten, unergründlich, und so wieder in einem unergründlichen Zusammenhang mit dem ganzen Dasein. Wie der stille See tief unten in dem vor Menschenaugen verborgenen Springquell seinen Grund hat, so hat des Menschen Liebe ihren Grund in Gottes Liebe, und diese ist ein noch tieferer Grund. Wäre kein Quell im Grund, wäre Gott nicht die Liebe, so gäbe es keinen stillen See, so wäre auch im Menschen keine Liebe. Wie der stille See dich wohl zum Beschauen einlädt, seine dunkle Tiefe aber, indem sie sich an der Oberfläche widerspiegelt, sich dem Auge zugleich verbirgt, so verwehrt uns auch der geheimnisvolle Ursprung den die Liebe in Gottes Liebe hat, daß wir ihr auf den Grund sehen: wenn du ihn zu sehen meinst, so ist es das Spiegelbild das dich trügt als wäre es der Grund, während es doch den tieferen Grund bloß verdeckt. Denke dir ein Geheimfach in einem Kasten: damit es nicht entdeckt werde hat es einen sinnreichen Deckel der wie der Boden des Kastens aussieht; so ist's mit dem Urgrund der allem zugrunde liegt; was täuschend aussieht als wäre es der Grund der Tiefe, verdeckt nur die tiefste Tiefe.

So ist das Leben der Liebe verborgen; aber ihr verborgenes Leben ist in sich Bewegung und hat die Ewigkeit in sich. Wie der stille See, so ruhig er auch daliegt, doch eigentlich fließendes Wasser ist, das von der sprudelnden Quelle im Grunde aufsteigt, so ist die Liebe, obgleich stille in ihrer Verborgenheit, doch stets in Bewegung. Aber der stille See kann vertrocknen, wenn einmal die Quelle versiegt; das Leben der Liebe dagegen fließt unversieglich aus einem ewigen Born. Keine Kälte kann es erstarren machen, dazu hat es zuviel Wärme in sich; keine Wärme macht es matt, dafür ist es zu frisch in seiner Kühle. Aber verborgen ist es; und wir sollen es in seiner Verborgenheit ungestört sich selbst überlassen. Nur in seinen Früchten soll es offenbar werden, nicht sollen wir es durch Selbstbeobachtung und Selbstbespiegelung ans Licht ziehen wollen: das würde ja nur den Geist betrüben und das Wachstum der Liebe aufhalten.

An den Früchten aber wird dieses verborgene Leben der Liebe erkannt; und es ist der Liebe ein Bedürfnis, sich durch Früchte zu erkennen zu geben.
O wie schön ist es doch, daß ein und dasselbe Wort zugleich die tiefste Armut und den höchsten Reichtum bezeichnet! Das Bedürfen entspringt ja dem Mangel, der Not; und doch können wir von dem Dichter oder Redner nichts Höheres sagen als daß es ihm ein Bedürfnis sei zu dichten oder zu reden; von dem Liebenden nichts Höheres sagen als daß es ihm ein Bedürfnis sei zu lieben. Wie arm, wie bettelarm ist doch ein Mensch der ein solches Bedürfnis nicht kennt! Das ist ja des Mädchens höchster Reichtum daß sie des geliebten bedarf; das ist des Frommen höchster und wahrer Reichtum daß er Gottes bedarf. Frage sie, frage das Mädchen, ob es sich ebenso glücklich fühlen würde wenn es des Geliebten ebenso missen könnte; frage den Frommen, ob er es versteht oder wünscht daß er ebenso gut Gottes entbehren könnte! So ist's auch der innere Reichtum der Liebe, der es ihr zum Bedürfnis macht sich in Früchten der Liebe zu offenbaren.
(S. 10-12)



O ihr stillen Märtyrer unglücklicher Liebe, wohl blieb es ein Geheimnis, was ihr littet indem ihr eine Liebe aus Liebe verbergen mußtet; sie wurde nie bekannt, so groß war gerade eure Liebe die dieses Opfer brachte; und dennoch wurde eure Liebe an den Früchten erkannt! Ja, vielleicht wurden eben diese Früchte die kostbarsten, sie, die im stillen Brand geheimen Schmerzes gereift wurden. (S. 12)



Man sagt bei gewissen Gewächsen, sie müssen Herz ansetzen; das gilt auch von des Menschen Liebe: soll sie wirklich Frucht bringen und also kenntlich werden an der Frucht, so muß sie zuerst Herz ansetzen.
Denn allerdings geht die Liebe vom Herzen aus; wir dürfen aber darüber nicht hastig dieses Ewige vergessen daß die Liebe Herz ansetze. Unbestimmte, flüchtige Herzensrührungen hat wohl jeder; aber in diesem Sinne, von Natur, Herz zu haben ist unendlich verschieden von dem, im Sinne der Ewigkeit Herz anzusetzen. Und wie selten ist vielleicht gerade das, daß das Ewige eine rechte Macht über den Menschen gewinnt, so daß die Liebe in ihm sich ewig zu festigen oder Herz anzusetzen vermag.
(S. 13-14)



Es gibt kein Wort in der menschlichen Sprache, auch nicht ein einziges, nicht das heiligste, von dem wir sagen könnten: wenn ein Mensch dies Wort gebraucht, so ist damit unbedingt bewiesen daß Liebe in ihm ist. Im Gegenteil ist es gerade so, daß in dem Munde des einen Menschen dies Wort, in dem Munde des anderen Menschen das entgegengesetzte Wort uns überzeugen kann daß Liebe in ihm ist; so daß ein und dasselbe Wort uns überzeugen kann, in dem einen der das Wort sagte wohne die Liebe, nicht aber in dem andern, der doch dasselbe Wort aussprach.
Es gibt keine Tat, nicht eine einzige, nicht die beste, von der wir sagen dürfen: wer dies tut, beweist damit unbedingt Liebe. Es kommt darauf an, wie die Tat getan wird. (…)
Also die Art wie die Worte gesagt werden, und vor allem wie sie gemeint sind; die Art wie die Tat getan wird: sie ist das entscheidende Moment, auf das geachtet werden muß wenn die Liebe an den Früchten erkannt werden soll. Hier gilt aber wiederum, daß es kein, kein "So" gibt, von dem man unbedingt sagen kann daß es das Dasein der Liebe unbedingt beweist oder unbedingt widerlegt.
(S. 14-15)



Das letzte, das seligste, das unbedingt überzeugende Kennzeichen der Liebe bleibt darum: die Liebe selbst, die von der Liebe in einem andern erkannt und wieder erkannt wird. Das Gleiche wird nur vom Gleichen erkannt: nur wer in der Liebe bleibt kann sich von der Liebe des andern überzeugen; nur wer in der Liebe bleib kann den andern von seiner Liebe überzeugen. (S. 17-18)



 


Aus: Erste Abteilung
Kap. II a. Du "sollst" lieben
 


Zu lieben ist eine Pflicht. (…)
Wenn die Liebe die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, so hat sie Beständigkeit gewonnen. (…) Die Liebe die bloß besteht, so glücklich, so holdselig, so zuversichtlich, so poetisch sie auch ist, sie muß doch mit den Jahren ihre Probe erst bestehen; aber die Liebe die die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, sie hat Beständigkeit gewonnen. (…)
Also, nur wenn die Liebe Pflicht ist, nur dann ist die Liebe ewig gesichert. Diese Versicherung, die die Ewigkeit ausstellt, treibt alle Angst aus und macht die Liebe vollkommen, vollkommen sicher.
(S. 34-35)



Zugleich ist die Liebe durch dieses "du sollst" gegen jede Wandlung ewig gesichert. Denn die Liebe die bloß existiert kann Veränderungen erleiden; eine Veränderung durch welche sie in sich selbst anders wird, oder eine Veränderung durch welche sie von sich selbst abkommt. (…)
Die wahre Liebe, die die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, wandelt sich nie; sie ist einfältig, sie liebt nur, haßt nie, haßt niemals den Geliebten.
(S. 37)



Die Liebe die die Ewigkeit in sich aufnahm indem sie zur Pflicht wurde kennt keine Eifersucht; sie liebt nicht bloß so wie sie geliebt wird, sondern sie liebt, hat also weder Veranlassung noch Zeit über Liebe und Gegenliebe abzurechnen. (S. 38)



Wenn die Liebe die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, so kennt sie keine Gewohnheit; diese kann nie Macht über sie gewinnen. (…) Das Ewige wird nie alt und nie Gewohnheit. (S. 39-40)



Nur wenn die Liebe Pflicht ist, nur dann ist die Liebe ewig frei in seliger Unabhängigkeit. (…) Der in dem die Liebe ein Drang ist fühlt sich gewiß frei in seiner Liebe; und gerade der welcher sich ganz abhängig fühlt, so daß er mit dem Geliebten alles verlieren würde, gerade er ist unabhängig. Doch unter der einen Bedingung, daß er nicht die Liebe mit dem Besitz des Geliebten verwechselt. Wenn einer sagen wollte: "Entweder lieben oder sterben", um damit zu bezeichnen daß ein Leben ohne Liebe nicht lebenswert sei, so müßten wir ihm ganz recht geben. Wenn er aber unter dem erstern den Besitz des Geliebten verstünde und also meinte: Entweder die Geliebte besitzen oder sterben; entweder diesen Freund gewinnen oder sterben: so müßten wir sagen, eine solche Liebe wäre in unwahrem Sinne abhängig. Sobald die Liebe in ihrem Verhalten zu dem Geliebten bei aller Abhängigkeit nicht ebenso fest bleibt in der Treue gegen sich selbst, so ist sie in unwahrem Sinne anhängig, so hat sie das Gesetz für ihr Dasein außerhalb ihrer selbst und ist somit im vergänglichen, im irdischen, im zeitlichen Sinne abhängig. Die Liebe aber welche die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, und liebt weil sie lieben soll, ist unabhängig; sie hat das Gesetz für ihr Dasein in der Beziehung der Liebe zum Ewigen. Die Liebe kann nur in unwahrem Sinne abhängig werden; denn ist sie abhängig, so ist sie es nur von der Pflicht, und die Pflicht ist das einzig Befreiende. (S. 40-41)



Die Liebe aber die die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, fühlt allerdings einen Drang geliebt zu sein, und dieser Drang bildet mit diesem "du sollst" einen ewig harmonischen Akkord; sie kann aber, wenn es sein soll, entsagen, während sie doch selbst unveränderlich liebt. Ist das nicht Unabhängigkeit? Diese Unabhängigkeit ist bloß abhängig von der Liebe selbst durch das "du sollst" der Ewigkeit, nicht von etwas anderem, und daher auch nicht vom Gegenstand der Liebe wenn dieser etwa sich als ein anderer erweist. (S. 42)



Sieh, die Leidenschaft erhitzt, irdische Klugheit kühlt ab; aber weder diese Hitze, noch diese Kühle, noch die Mischung dieser Hitze und dieser Kühle ist die reine Luft der Ewigkeit. Diese Hitze ist zugleich schwül, diese Kühle zugleich scharf, die Mischung unzuverlässig und tückisch wie die lauen Lüfte des Frühjahrs. Das "du sollst lieben" nimmt alles Ungesunde fort und bewahrt das Gesunde für die Ewigkeit. So ist es überhaupt; dieses "du sollst" der Ewigkeit ist das Rettende, das Läuternde, das Veredelnde. (…)
Du sollst die Liebe bewahren, und du sollst dich selbst bewahren, sollst indem du dich selbst bewahrst die Liebe bewahren. Wo das bloß Menschliche den Mut verlieren will, stärkt das Gebot; wo das bloß Menschliche matt und klug werden will, gibt das Gebot Feuer und Weisheit. Das Gebot verzehrt und verbrennt das Ungesunde in deiner Liebe; durch das Gebot aber soll's dir gelingen sie wieder zu entflammen, wenn sie, menschlich geredet, zusammensinken wollte. Wo du meinst dir leicht selbst raten zu können, da ziehe das Gebot mit zu Rat; wo du verzweifelt dir selbst raten willst, da sollst du das Gebot mit zu Rate ziehen; wo du aber keinen Rat weißt, soll das Gebot Rat schaffen daß doch alles noch gut wird.
(S. 46)


 


Aus: Erste Abteilung
Kap. V. Unsere Pflicht, in der Liebe Schuld
gegeneinander zu bleiben
 

Wir wollen mit einem kleinen Denkexperiment beginnen. Wenn ein Liebender für den Geliebten etwas, menschlich geredet, so Außerordentliches, so Hochherziges, so Aufopferndes getan hätte, daß wir Menschen sagen müßten: "das ist das Höchste was nur ein Mensch für den andern tun kann", so wäre das ja schön und gut. Angenommen aber, er fügte hinzu: "sieh, nun habe ich meine Schuld abgezahlt": wäre das nicht ein liebloses, kaltes und strenges Wort? wäre es nicht, wenn ich so sagen darf, eine Unanständigkeit, die man niemals hören sollte, die auch in der guten Gesellschaft der wahren Liebe unerhört ist! Wenn dagegen der Liebende nach seiner hochherzigen, aufopfernden Tat erklären würde: "ich habe jetzt noch eine Bitte, laß mich dir verpflichtet bleiben": wäre das nicht ein liebes Wort? Oder wenn der Liebende mit jedem Opfer den Wunsch des Geliebten willfahrte und dazu noch sagte: "es ist mir ein Vergnügen hiermit ein wenig an meiner Schuld abzutragen, in der ich doch gerade zu verbleiben wünsche": wäre das nicht ein liebes Wort? Oder wenn er rein verschwiege daß es ihn ein Opfer kostete; lediglich weil er den verwirrenden Gedanken fernehalten wollte, es könnte einen Augenblick wie ein Abtrag an der Schuld erscheinen: wäre das nicht ein Gedanke wirklicher Liebe? Wenn dem so ist, so ist ja damit ausgedrückt daß in einem Verhältnis der Liebe ein eigentliches Rechnen und Zählen undenkbar, unerträglich ist. Eine Abrechnung läßt sich nur anstellen wo das Verhältnis ein endliches ist; denn das Verhältnis des Endlichen zum Endlichen läßt sich ausrechnen. Der Liebende aber kann nicht rechnen. Wenn die linke Hand nie zu wissen bekommt was die rechte tut, so läßt sich unmöglich eine Rechnung abschließen; ebensowenig, wenn die Schuld unendlich ist. Mit einer unendlichen Größe kann man nicht rechnen, denn berechnen heißt gerade verendlichen.
Der Liebende wünscht also um seiner selbst willen in der Schuld zu bleiben; er wünscht nicht von irgendeinem Opfer entbunden zu werden, durchaus nicht. Willig, unbeschreiblich willig (wie es ein tätiges, schäftiges Ding um die Liebe ist) will er alles tun und fürchtet nur das eine, er könnte alles so tun daß er aus der Schuld käme. Das ist, recht verstanden, die Furcht; der Wunsch ist, in der Schuld zu bleiben; und das ist zugleich die Pflicht, die Aufgabe. Ist die Liebe in uns Menschen nicht so vollkommen daß dies unser Wunsch ist, so soll die Pflicht uns dazu behilflich sein daß wir in der Schuld verbleiben.

Wenn es Pflicht ist daß wir in der Liebe Schuld gegeneinander bleiben, so müssen wir früh und spät, ja ewig wachsam sein, daß die Liebe nie bei sich selbst verweile oder sich mit der Liebe in anderen Menschen vergleiche oder sich mit ihren eigenen Leistungen vergleiche, die sie vollbracht hat.
(S. 186-187

 


Das Element der Liebe aber ist Unendlichkeit, Unerschöpflichkeit, Unermeßlichkeit. Willst du daher deine Liebe bewahren, so achte darauf, daß sie, durch die Unendlichkeit der Schuld zu Freiheit und Leben gefangen, beständig in ihrem Element bleibe; sonst siecht sie hin und erstirbt, nicht über kurz oder lang, sondern sofort: was eben ein Zeichen für diese ihre Vollkommenheit ist daß sie allein in der Unendlichkeit leben kann. (S. 189)



So auch mit der Liebe. Willst du die Liebe bewahren, mußt du sie in der Unendlichkeit der Schuld bewahren. Hüte dich darum vor dem Vergleichen! Wer den kostbarsten Schatz der Welt bewacht, braucht nicht so ängstlich darüber zu wachen daß niemand etwas davon erfahre; denn du mußt zugleich darüber wachen, daß du nicht durch Vergleichen selbst etwas von der Liebe zu wissen bekommest. Hüte dich vor den Vergleichen! Das Vergleichen ist die unseligste Verbindung in die die Liebe eintreten kann; das Vergleichen ist die gefährlichste Bekanntschaft die die Liebe machen kann; das Vergleichen ist die schlimmste aller Verführungen. (…) Hüte dich daher in deiner Liebe vor dem Vergleichen!
Ist aber das Vergleichen das einzige das der Liebe gefährlich werden könnte, indem es sie aus der Schuld bringt, so bleibt sie, wenn sie dem Vergleichen entgeht, gesund und lebensfrisch in der unendlichen Schuld. In der Schuld zu bleiben ist ein unendlich hinterlistiger und doch unendlich treffender Ausdruck für die Unendlichkeit der Liebe.
(S. 194-195)


Ist es Pflicht in der Liebe Schuld gegeneinander zu bleiben, so ist es nicht ein schwärmerischer Ausdruck, nicht bloß eine verdeutlichende Vorstellung von der Liebe, daß man in der Schuld bleibe, sondern ein Handeln; so verbleibt die Liebe mit Hilfe der Pflicht christlich im Handeln, im Zug des Handelns, und eben damit in der unendlichen Schuld.

Lieben heißt in eine unendliche Schuld gekommen sein. Der Wunsch in der Schuld zu bleiben könnte bloß eine Auffassung, eine Vorstellung von der Liebe, ein letzter, überschwenglichster Ausdruck zu sein scheinen, der mit dazu gehörte, wie der Kranz bei der Festlichkeit. Denn selbst dem kostbarsten Becher, mit dem köstlichsten Tranke gefüllt, mangelt noch etwas: daß er bekränzt werde. Und selbst der liebenswürdigsten Seele in der reizendsten Frauengestalt mangelt etwas: der Kranz als Krönung ihrer Lieblichkeit. So mag man auch, wenn man bloß menschlich von der Liebe redet, sagen: dieser Wunsch, in der Schuld zu bleiben, ist der Höherpunkt der Festlichkeit, ist der Kranz bei der Festlichkeit, aber etwas das in gewissen Sinn weder davon noch dazu tut (denn man trinkt doch wohl nicht den bekränzten Becher; auch wächst der Kranz nicht mit dem Haupte der Braut zusammen); und gerade darum ist dieser Wunsch der Ausdruck einer schönen Schwärmerei. Für die bloß menschliche Auffassung ist schöne Schwärmerei das Höchste.
Das Christentum aber redet nicht schwärmerisch von der Liebe; es sagt, es sei Pflicht in der Liebe Schuld zu bleiben. (...)
Das Christentum sagt, es sei Pflicht in der Schuld zu bleiben, und sagt damit daß das ein Handeln sei, kein bloßer Ausdruck in dem sich die Liebe äußert, keine bloße Ausfassung ihrer selbst, die sie durch nachträgliches Nachdenken über sich gewinnt. Christlich verstanden hat kein Mensch in der Liebe das Höchste erfüllt; und selbst wenn dies der Fall wäre, dieses Unmögliche, so würde sich doch im selben Augenblick, christlich verstanden, eine neue Aufgabe ergeben. Gibt es aber sofort eine neue Aufgabe, so kann man unmöglich erfahren ob man das Höchste getan. Denn der Augenblick in dem man das zu wissen bekommen sollte steht fest gebannt im Dienste der Aufgabe.
(S. 196-197)



Aus: Sören Kierkegaard Leben und Walten der Liebe
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1924
Übersetzt von Albert Dorner [1842-1926] und
Christoph Schrempf [1860-1944]


 

 


 

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