Sören Kierkegaard (1813-1855)
Leben und Walten der Liebe
Gebet
Wie sollte man von der Liebe recht reden können, wenn man dich vergäße,
du Gott der Liebe, von dem alle Liebe ist im Himmel und auf Erden! dich,
der nicht kargte, sondern alles in Liebe hingab; dich, der die Liebe
ist, so daß der Liebende was er ist nur dadurch ist daß er in dir ist!
Wie sollte man recht von der Liebe reden können, wenn man dich vergäße;
dich, der offenbarte was Liebe ist; dich, unsern Heiland und Versöhner,
der sich selbst hingab um alle zu erlösen! Wie sollte man recht von der
Liebe reden können, wenn man dich vergäße, du Geist der Liebe; dich, der
nichts von seinem Eigenen nimmt sondern an jenes Opfer der Liebe
erinnert, der den Glaubenden erinnert zu lieben wie er geliebt ist und
seinen Nächsten als sich selbst! Ewige Liebe, die du überall gegenwärtig
bist und dich nie unbezeugt lässest wo du angerufen wirst, laß dich auch
jetzt nicht unbezeugt bei allem was hier von der Liebe oder dem Walten
der Liebe gesagt werden soll! Denn wohl sind es nur etliche Werke,
welche die menschliche Sprache auszeichnet und kleinlich Liebeswerke
nennt; im Himmel aber ist es ja so, daß dort kein Tun angenehm ist es
sei denn ein Werk der Liebe: aufrichtig in Selbstverleugnung, im Drang
der Liebe getan, und ebendaher ohne Anspruch auf ein Verdienst!
(S. 3)
Aus: Erste Abteilung
Kap. I. Das verborgene Leben der Liebe, und wie es
an seinen Früchten erkannt wird
Sich selbst um
die Liebe zu betrügen, das ist das Schrecklichste; das ist ein ewiger
Verlust, für den es in Zeit und Ewigkeit keinen Ersatz gibt.
(S. 6)
Woher kommt die
Liebe? wo hat sie ihren Ursprung und ihre Herkunft? wo ist die Stätte da
sie wohnt, von wo sie ausgeht? Ja, diese Stätte ist verborgen oder im
Verborgenen. Es gibt eine Stätte im Innersten des Menschen, von da geht
der Liebe Leben aus; denn "vom Herzen geht das Leben aus". Aber sehen
kannst du diese Stätte nicht; wie weit du auch hineindringst, der
Ursprung verzieht sich in die Ferne und Verborgenheit; selbst wenn du am
tiefsten hineindringst, der Ursprung ist gleichsam immer noch ein Stück
weiter drinnen, wie ja die Quelle an ihrem Ursprung nur zum Vorschein
kommt. Von da geht die Liebe aus.
(S. 9-10)
Das geheime
Leben der Liebe ist im Innersten, unergründlich, und so wieder in einem
unergründlichen Zusammenhang mit dem ganzen Dasein. Wie der stille See
tief unten in dem vor Menschenaugen verborgenen Springquell seinen Grund
hat, so hat des Menschen Liebe ihren Grund in Gottes Liebe, und diese
ist ein noch tieferer Grund. Wäre kein Quell im Grund, wäre Gott nicht
die Liebe, so gäbe es keinen stillen See, so wäre auch im Menschen keine
Liebe. Wie der stille See dich wohl zum Beschauen einlädt, seine dunkle
Tiefe aber, indem sie sich an der Oberfläche widerspiegelt, sich dem
Auge zugleich verbirgt, so verwehrt uns auch der geheimnisvolle Ursprung
den die Liebe in Gottes Liebe hat, daß wir ihr auf den Grund sehen: wenn
du ihn zu sehen meinst, so ist es das Spiegelbild das dich trügt als
wäre es der Grund, während es doch den tieferen Grund bloß verdeckt.
Denke dir ein Geheimfach in einem Kasten: damit es nicht entdeckt werde
hat es einen sinnreichen Deckel der wie der Boden des Kastens aussieht;
so ist's mit dem Urgrund der allem zugrunde liegt; was täuschend
aussieht als wäre es der Grund der Tiefe, verdeckt nur die tiefste
Tiefe.
So ist das Leben der Liebe verborgen; aber ihr verborgenes Leben ist in
sich Bewegung und hat die Ewigkeit in sich. Wie der stille See, so ruhig
er auch daliegt, doch eigentlich fließendes Wasser ist, das von der
sprudelnden Quelle im Grunde aufsteigt, so ist die Liebe, obgleich
stille in ihrer Verborgenheit, doch stets in Bewegung. Aber der stille
See kann vertrocknen, wenn einmal die Quelle versiegt; das Leben der
Liebe dagegen fließt unversieglich aus einem ewigen Born. Keine Kälte
kann es erstarren machen, dazu hat es zuviel Wärme in sich; keine Wärme
macht es matt, dafür ist es zu frisch in seiner Kühle. Aber verborgen
ist es; und wir sollen es in seiner Verborgenheit ungestört sich selbst
überlassen. Nur in seinen Früchten soll es offenbar werden, nicht sollen
wir es durch Selbstbeobachtung und Selbstbespiegelung ans Licht ziehen
wollen: das würde ja nur den Geist betrüben und das Wachstum der Liebe
aufhalten.
An den Früchten aber wird dieses verborgene Leben der Liebe erkannt; und
es ist der Liebe ein Bedürfnis, sich durch Früchte zu erkennen zu geben.
O wie schön ist es doch, daß ein und dasselbe Wort zugleich die tiefste
Armut und den höchsten Reichtum bezeichnet! Das Bedürfen entspringt ja
dem Mangel, der Not; und doch können wir von dem Dichter oder Redner
nichts Höheres sagen als daß es ihm ein Bedürfnis sei zu dichten oder zu
reden; von dem Liebenden nichts Höheres sagen als daß es ihm ein
Bedürfnis sei zu lieben. Wie arm, wie bettelarm ist doch ein Mensch der
ein solches Bedürfnis nicht kennt! Das ist ja des Mädchens höchster
Reichtum daß sie des geliebten bedarf; das ist des Frommen höchster und
wahrer Reichtum daß er Gottes bedarf. Frage sie, frage das Mädchen, ob
es sich ebenso glücklich fühlen würde wenn es des Geliebten ebenso
missen könnte; frage den Frommen, ob er es versteht oder wünscht daß er
ebenso gut Gottes entbehren könnte! So ist's auch der innere Reichtum
der Liebe, der es ihr zum Bedürfnis macht sich in Früchten der Liebe zu
offenbaren.
(S. 10-12)
O
ihr stillen Märtyrer unglücklicher Liebe, wohl blieb es ein Geheimnis,
was ihr littet indem ihr eine Liebe aus Liebe verbergen mußtet; sie
wurde nie bekannt, so groß war gerade eure Liebe die dieses Opfer
brachte; und dennoch wurde eure Liebe an den Früchten erkannt! Ja,
vielleicht wurden eben diese Früchte die kostbarsten, sie, die im
stillen Brand geheimen Schmerzes gereift wurden.
(S. 12)
Man sagt bei
gewissen Gewächsen, sie müssen Herz ansetzen; das gilt auch von des
Menschen Liebe: soll sie wirklich Frucht bringen und also kenntlich
werden an der Frucht, so muß sie zuerst Herz ansetzen.
Denn allerdings geht die Liebe vom Herzen aus; wir dürfen aber darüber
nicht hastig dieses Ewige vergessen daß die Liebe Herz ansetze.
Unbestimmte, flüchtige Herzensrührungen hat wohl jeder; aber in diesem
Sinne, von Natur, Herz zu haben ist unendlich verschieden von dem, im
Sinne der Ewigkeit Herz anzusetzen. Und wie selten ist vielleicht gerade
das, daß das Ewige eine rechte Macht über den Menschen gewinnt, so daß
die Liebe in ihm sich ewig zu festigen oder Herz anzusetzen vermag.
(S. 13-14)
Es gibt kein
Wort in der menschlichen Sprache, auch nicht ein einziges, nicht das
heiligste, von dem wir sagen könnten: wenn ein Mensch dies Wort
gebraucht, so ist damit unbedingt bewiesen daß Liebe in ihm ist. Im
Gegenteil ist es gerade so, daß in dem Munde des einen Menschen dies
Wort, in dem Munde des anderen Menschen das entgegengesetzte Wort uns
überzeugen kann daß Liebe in ihm ist; so daß ein und dasselbe Wort uns
überzeugen kann, in dem einen der das Wort sagte wohne die Liebe, nicht
aber in dem andern, der doch dasselbe Wort aussprach.
Es gibt keine Tat, nicht eine einzige, nicht die beste, von der wir
sagen dürfen: wer dies tut, beweist damit unbedingt Liebe. Es kommt
darauf an, wie die Tat getan wird. (…)
Also die Art wie die Worte gesagt werden, und vor allem wie sie gemeint
sind; die Art wie die Tat getan wird: sie ist das entscheidende Moment,
auf das geachtet werden muß wenn die Liebe an den Früchten erkannt
werden soll. Hier gilt aber wiederum, daß es kein, kein "So" gibt, von
dem man unbedingt sagen kann daß es das Dasein der Liebe unbedingt
beweist oder unbedingt widerlegt.
(S. 14-15)
Das letzte, das
seligste, das unbedingt überzeugende Kennzeichen der Liebe bleibt darum:
die Liebe selbst, die von der Liebe in einem andern erkannt und wieder
erkannt wird. Das Gleiche wird nur vom Gleichen erkannt: nur wer in der
Liebe bleibt kann sich von der Liebe des andern überzeugen; nur wer in
der Liebe bleib kann den andern von seiner Liebe überzeugen.
(S. 17-18)
Aus: Erste Abteilung
Kap. II a. Du "sollst" lieben
Zu lieben ist
eine Pflicht. (…)
Wenn die Liebe die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur
Pflicht wurde, so hat sie Beständigkeit gewonnen. (…) Die Liebe die bloß
besteht, so glücklich, so holdselig, so zuversichtlich, so poetisch sie
auch ist, sie muß doch mit den Jahren ihre Probe erst bestehen; aber die
Liebe die die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht
wurde, sie hat Beständigkeit gewonnen. (…)
Also, nur wenn die Liebe Pflicht ist, nur dann ist die Liebe ewig
gesichert. Diese Versicherung, die die Ewigkeit ausstellt, treibt alle
Angst aus und macht die Liebe vollkommen, vollkommen sicher.
(S. 34-35)
Zugleich ist
die Liebe durch dieses "du sollst" gegen jede Wandlung ewig gesichert.
Denn die Liebe die bloß existiert kann Veränderungen erleiden; eine
Veränderung durch welche sie in sich selbst anders wird, oder eine
Veränderung durch welche sie von sich selbst abkommt. (…)
Die wahre Liebe, die die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur
Pflicht wurde, wandelt sich nie; sie ist einfältig, sie liebt nur, haßt
nie, haßt niemals den Geliebten.
(S. 37)
Die Liebe die
die Ewigkeit in sich aufnahm indem sie zur Pflicht wurde kennt keine
Eifersucht; sie liebt nicht bloß so wie sie geliebt wird, sondern sie
liebt, hat also weder Veranlassung noch Zeit über Liebe und Gegenliebe
abzurechnen.
(S. 38)
Wenn die Liebe
die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde, so
kennt sie keine Gewohnheit; diese kann nie Macht über sie gewinnen. (…)
Das Ewige wird nie alt und nie Gewohnheit.
(S. 39-40)
Nur wenn die
Liebe Pflicht ist, nur dann ist die Liebe ewig frei in seliger
Unabhängigkeit. (…) Der in dem die Liebe ein Drang ist fühlt sich gewiß
frei in seiner Liebe; und gerade der welcher sich ganz abhängig fühlt,
so daß er mit dem Geliebten alles verlieren würde, gerade er ist
unabhängig. Doch unter der einen Bedingung, daß er nicht die Liebe mit
dem Besitz des Geliebten verwechselt. Wenn einer sagen wollte: "Entweder
lieben oder sterben", um damit zu bezeichnen daß ein Leben ohne Liebe
nicht lebenswert sei, so müßten wir ihm ganz recht geben. Wenn er aber
unter dem erstern den Besitz des Geliebten verstünde und also meinte:
Entweder die Geliebte besitzen oder sterben; entweder diesen Freund
gewinnen oder sterben: so müßten wir sagen, eine solche Liebe wäre in
unwahrem Sinne abhängig. Sobald die Liebe in ihrem Verhalten zu dem
Geliebten bei aller Abhängigkeit nicht ebenso fest bleibt in der Treue
gegen sich selbst, so ist sie in unwahrem Sinne anhängig, so hat sie das
Gesetz für ihr Dasein außerhalb ihrer selbst und ist somit im
vergänglichen, im irdischen, im zeitlichen Sinne abhängig. Die Liebe
aber welche die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht
wurde, und liebt weil sie lieben soll, ist unabhängig; sie hat das
Gesetz für ihr Dasein in der Beziehung der Liebe zum Ewigen. Die Liebe
kann nur in unwahrem Sinne abhängig werden; denn ist sie abhängig, so
ist sie es nur von der Pflicht, und die Pflicht ist das einzig
Befreiende.
(S. 40-41)
Die Liebe aber
die die Ewigkeit in sich aufgenommen hat indem sie zur Pflicht wurde,
fühlt allerdings einen Drang geliebt zu sein, und dieser Drang bildet
mit diesem "du sollst" einen ewig harmonischen Akkord; sie kann aber,
wenn es sein soll, entsagen, während sie doch selbst unveränderlich
liebt. Ist das nicht Unabhängigkeit? Diese Unabhängigkeit ist bloß
abhängig von der Liebe selbst durch das "du sollst" der Ewigkeit, nicht
von etwas anderem, und daher auch nicht vom Gegenstand der Liebe wenn
dieser etwa sich als ein anderer erweist.
(S. 42)
Sieh, die
Leidenschaft erhitzt, irdische Klugheit kühlt ab; aber weder diese
Hitze, noch diese Kühle, noch die Mischung dieser Hitze und dieser Kühle
ist die reine Luft der Ewigkeit. Diese Hitze ist zugleich schwül, diese
Kühle zugleich scharf, die Mischung unzuverlässig und tückisch wie die
lauen Lüfte des Frühjahrs. Das "du sollst lieben" nimmt alles Ungesunde
fort und bewahrt das Gesunde für die Ewigkeit. So ist es überhaupt;
dieses "du sollst" der Ewigkeit ist das Rettende, das Läuternde, das
Veredelnde. (…)
Du sollst die Liebe bewahren, und du sollst dich selbst bewahren, sollst
indem du dich selbst bewahrst die Liebe bewahren. Wo das bloß
Menschliche den Mut verlieren will, stärkt das Gebot; wo das bloß
Menschliche matt und klug werden will, gibt das Gebot Feuer und
Weisheit. Das Gebot verzehrt und verbrennt das Ungesunde in deiner
Liebe; durch das Gebot aber soll's dir gelingen sie wieder zu
entflammen, wenn sie, menschlich geredet, zusammensinken wollte. Wo du
meinst dir leicht selbst raten zu können, da ziehe das Gebot mit zu Rat;
wo du verzweifelt dir selbst raten willst, da sollst du das Gebot mit zu
Rate ziehen; wo du aber keinen Rat weißt, soll das Gebot Rat schaffen
daß doch alles noch gut wird.
(S. 46)
Aus: Erste Abteilung
Kap. V. Unsere Pflicht, in der Liebe Schuld
gegeneinander zu bleiben
Wir wollen mit
einem kleinen Denkexperiment beginnen. Wenn ein Liebender für den
Geliebten etwas, menschlich geredet, so Außerordentliches, so
Hochherziges, so Aufopferndes getan hätte, daß wir Menschen sagen müßten:
"das ist das Höchste was nur ein Mensch für den andern tun kann", so
wäre das ja schön und gut. Angenommen aber, er fügte hinzu: "sieh, nun
habe ich meine Schuld abgezahlt": wäre das nicht ein liebloses, kaltes
und strenges Wort? wäre es nicht, wenn ich so sagen darf, eine
Unanständigkeit, die man niemals hören sollte, die auch in der guten
Gesellschaft der wahren Liebe unerhört ist! Wenn dagegen der Liebende
nach seiner hochherzigen, aufopfernden Tat erklären würde: "ich habe
jetzt noch eine Bitte, laß mich dir verpflichtet bleiben": wäre das
nicht ein liebes Wort? Oder wenn der Liebende mit jedem Opfer den Wunsch
des Geliebten willfahrte und dazu noch sagte: "es ist mir ein Vergnügen
hiermit ein wenig an meiner Schuld abzutragen, in der ich doch gerade zu
verbleiben wünsche": wäre das nicht ein liebes Wort? Oder wenn er rein
verschwiege daß es ihn ein Opfer kostete; lediglich weil er den
verwirrenden Gedanken fernehalten wollte, es könnte einen Augenblick wie
ein Abtrag an der Schuld erscheinen: wäre das nicht ein Gedanke
wirklicher Liebe? Wenn dem so ist, so ist ja damit ausgedrückt daß in
einem Verhältnis der Liebe ein eigentliches Rechnen und Zählen
undenkbar, unerträglich ist. Eine Abrechnung läßt sich nur anstellen wo
das Verhältnis ein endliches ist; denn das Verhältnis des Endlichen zum
Endlichen läßt sich ausrechnen. Der Liebende aber kann nicht rechnen.
Wenn die linke Hand nie zu wissen bekommt was die rechte tut, so läßt
sich unmöglich eine Rechnung abschließen; ebensowenig, wenn die Schuld
unendlich ist. Mit einer unendlichen Größe kann man nicht rechnen, denn
berechnen heißt gerade verendlichen.
Der Liebende wünscht also um seiner selbst willen in der Schuld zu
bleiben; er wünscht nicht von irgendeinem Opfer entbunden zu werden,
durchaus nicht. Willig, unbeschreiblich willig (wie es ein tätiges,
schäftiges Ding um die Liebe ist) will er alles tun und fürchtet nur das
eine, er könnte alles so tun daß er aus der Schuld käme. Das ist, recht
verstanden, die Furcht; der Wunsch ist, in der Schuld zu bleiben; und
das ist zugleich die Pflicht, die Aufgabe. Ist die Liebe in uns Menschen
nicht so vollkommen daß dies unser Wunsch ist, so soll die Pflicht uns
dazu behilflich sein daß wir in der Schuld verbleiben.
Wenn es Pflicht ist daß wir in der Liebe Schuld gegeneinander bleiben,
so müssen wir früh und spät, ja ewig wachsam sein, daß die Liebe nie bei
sich selbst verweile oder sich mit der Liebe in anderen Menschen
vergleiche oder sich mit ihren eigenen Leistungen vergleiche, die sie
vollbracht hat.
(S. 186-187
Das Element der
Liebe aber ist Unendlichkeit, Unerschöpflichkeit, Unermeßlichkeit.
Willst du daher deine Liebe bewahren, so achte darauf, daß sie, durch
die Unendlichkeit der Schuld zu Freiheit und Leben gefangen, beständig
in ihrem Element bleibe; sonst siecht sie hin und erstirbt, nicht über
kurz oder lang, sondern sofort: was eben ein Zeichen für diese ihre
Vollkommenheit ist daß sie allein in der Unendlichkeit leben kann.
(S. 189)
So auch mit der
Liebe. Willst du die Liebe bewahren, mußt du sie in der Unendlichkeit
der Schuld bewahren. Hüte dich darum vor dem Vergleichen! Wer den
kostbarsten Schatz der Welt bewacht, braucht nicht so ängstlich darüber
zu wachen daß niemand etwas davon erfahre; denn du mußt zugleich darüber
wachen, daß du nicht durch Vergleichen selbst etwas von der Liebe zu
wissen bekommest. Hüte dich vor den Vergleichen! Das Vergleichen ist die
unseligste Verbindung in die die Liebe eintreten kann; das Vergleichen
ist die gefährlichste Bekanntschaft die die Liebe machen kann; das
Vergleichen ist die schlimmste aller Verführungen. (…) Hüte dich daher
in deiner Liebe vor dem Vergleichen!
Ist aber das Vergleichen das einzige das der Liebe gefährlich werden
könnte, indem es sie aus der Schuld bringt, so bleibt sie, wenn sie dem
Vergleichen entgeht, gesund und lebensfrisch in der unendlichen Schuld.
In der Schuld zu bleiben ist ein unendlich hinterlistiger und doch
unendlich treffender Ausdruck für die Unendlichkeit der Liebe.
(S. 194-195)
Ist es Pflicht
in der Liebe Schuld gegeneinander zu bleiben, so ist es nicht ein
schwärmerischer Ausdruck, nicht bloß eine verdeutlichende Vorstellung
von der Liebe, daß man in der Schuld bleibe, sondern ein Handeln; so
verbleibt die Liebe mit Hilfe der Pflicht christlich im Handeln, im Zug
des Handelns, und eben damit in der unendlichen Schuld.
Lieben heißt in eine unendliche Schuld gekommen sein. Der Wunsch in der
Schuld zu bleiben könnte bloß eine Auffassung, eine Vorstellung von der
Liebe, ein letzter, überschwenglichster Ausdruck zu sein scheinen, der
mit dazu gehörte, wie der Kranz bei der Festlichkeit. Denn selbst dem
kostbarsten Becher, mit dem köstlichsten Tranke gefüllt, mangelt noch
etwas: daß er bekränzt werde. Und selbst der liebenswürdigsten Seele in
der reizendsten Frauengestalt mangelt etwas: der Kranz als Krönung ihrer
Lieblichkeit. So mag man auch, wenn man bloß menschlich von der Liebe
redet, sagen: dieser Wunsch, in der Schuld zu bleiben, ist der
Höherpunkt der Festlichkeit, ist der Kranz bei der Festlichkeit, aber
etwas das in gewissen Sinn weder davon noch dazu tut (denn man trinkt
doch wohl nicht den bekränzten Becher; auch wächst der Kranz nicht mit
dem Haupte der Braut zusammen); und gerade darum ist dieser Wunsch der
Ausdruck einer schönen Schwärmerei. Für die bloß menschliche Auffassung
ist schöne Schwärmerei das Höchste.
Das Christentum aber redet nicht schwärmerisch von der Liebe; es sagt,
es sei Pflicht in der Liebe Schuld zu bleiben. (...)
Das Christentum sagt, es sei Pflicht in der Schuld zu bleiben, und sagt
damit daß das ein Handeln sei, kein bloßer Ausdruck in dem sich die
Liebe äußert, keine bloße Ausfassung ihrer selbst, die sie durch
nachträgliches Nachdenken über sich gewinnt. Christlich verstanden hat
kein Mensch in der Liebe das Höchste erfüllt; und selbst wenn dies der
Fall wäre, dieses Unmögliche, so würde sich doch im selben Augenblick,
christlich verstanden, eine neue Aufgabe ergeben. Gibt es aber sofort
eine neue Aufgabe, so kann man unmöglich erfahren ob man das Höchste
getan. Denn der Augenblick in dem man das zu wissen bekommen sollte
steht fest gebannt im Dienste der Aufgabe.
(S. 196-197)
Aus: Sören Kierkegaard Leben und Walten der Liebe
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1924
Übersetzt von Albert Dorner [1842-1926] und
Christoph Schrempf [1860-1944]