Von der inneren Schönheit
von Maurice Maeterlinck (1862-1949)
Es gibt nichts auf Erden, das nach Schönheit begieriger wäre und sich
leichter verschönte, als eine Seele. Es gibt nichts auf Erden, das sich
natürlicher erhöbe und schneller veredelte. Es gibt nichts auf Erden,
das gewissenhafter den reinen und edlen Befehlen gehorchte, die ihm
zuteil werden. Es gibt nichts auf Erden, das sich folgsamer der
Herrschaft eines Gedankens unterzöge, der höher ist als andere. Darum
widerstehen auch sehr wenige Seelen auf Erden der Herrschaft einer
Seele, die sich der Schönheit hingibt.
Man könnte in der Tat sagen, daß die Schönheit die einzige Nahrung
unserer Seele ist; sie sucht sie allerorten, und selbst im niedrigsten
Leben stirbt sie nicht Hungers. Denn es gibt keine Schönheit, die völlig
unbemerkt vorüberginge. Vielleicht wird sie immer nur unbewußt
vorübergehen, aber ihre Wirkung ist bei Nacht ebenso stark, wie am
hellen Tage. Dort ist die Freude, die sie hervorruft, minder greifbar,
und das ist der einzige Unterschied. Man prüfe die gewöhnlichsten
Menschen, wenn ein Hauch von Schönheit ihre Finsternis streift. Sie sind
beisammen, gleichgültig, wo; und sobald sie sich vereinigt finden,
scheint ihre erste Sorge - warum, weiß man nicht - die zu sein,
zuvörderst die großen Tore des Lebens zu schließen. Und doch hat jeder
von ihnen, solange er allein war, mehr als einmal seiner Seele gemäß
gelebt. Er hat vielleicht geliebt und ohne Zweifel gelitten. Auch hat er
unvermeidlich die "Klänge des fernen Landes voller Glanz und Schrecken"
vernommen und sich so manchen Abend schweigend vor Gesetzen gebeugt, die
tiefer sind als das Meer. Aber wenn sie beisammen sind, so ziehen sie es
vor, sich an niedrigen Dingen zu berauschen. Sie haben ich weiß nicht
welche seltsame Furcht vor der Schönheit; und je zahlreicher sie sind,
desto mehr Furcht haben sie davor, wie sie vor dem Schweigen oder einer
zu reinen Wahrheit Furcht haben. Und das ist so wahr, daß wenn es
geschähe, daß einer von ihnen am Tage etwas Heldenmütiges getan hätte,
so würde er versuchen, es zu entschuldigen, indem er seiner Tat elende
Beweggründe unterschiebt, Beweggründe, die er der niedrigen Sphäre
entnehmen würde, in der sie beisammen sind. Man höre indessen zu: ein
hohes und stolzes Wort ist gesprochen worden und hat gleichsam die
Quellen des Lebens aufgedeckt. Eine Seele hat gewagt, sich für einen
Augenblick so zu zeigen, wie sie in der Liebe, im Schmerze, angesichts
des Todes, oder in der Einsamkeit im Anblick der nächtlichen Gestirne
ist. Sogleich entsteht Unruhe, die Gesichter blicken erstaunt oder
lächeln. Aber empfindet man in diesen Augenblicken nicht, mit welch
einmütiger Kraft alle Seelen bewundern und auch die schwächste in der
Tiefe ihres Kerkers in unaussprechlicher Weise das Wort billigt, das sie
als ihresgleichen erkannte? Sie leben plötzlich in ihrem ursprünglichen
und eigentlichen Dunstkreise auf; und wenn wir die Ohren von Engeln
hätten, so hörten wir, des bin ich sicher, allmächtigen Beifall im
Reiche des wunderbaren Lichtes, in dem sie untereinander leben. Glaubt
man nicht, daß wenn ein entsprechendes Wort allabendlich fiele, auch die
furchtsamsten Seelen mehr Mut fassen und die Menschheit wahrhaftiger
leben würde? Es braucht nicht einmal ein entsprechendes Wort
wiederzukehren. Etwas Tiefes hat stattgefunden und wird sehr tiefe
Spuren zurücklassen. Die Seele, die dieses Wort ausgesprochen hat, wird
von ihren Schwestern jeden Abend wieder erkannt werden; und ihre bloße
Gegenwart wird von nun an in die gleichgültigsten Reden etwas Erhabenes
legen. Auf alle Fälle hat eine Veränderung stattgefunden, die sich nicht
näher bestimmen läßt. Die niedrigen Dinge haben nicht mehr die gleiche
ausschließliche Gewalt, und die erschrockenen Seelen wissen, daß es
irgendwo eine Zuflucht gibt . . .
Sicherlich sind die natürlichen, ursprünglichen Beziehungen von Seele zu
Seele Beziehungen der Schönheit. Die Schönheit ist die einzige Sprache
unserer Seelen. Sie verstehen keine andere. Sie haben kein anderes
Leben; sie können nichts anderes hervorbringen und an nichts anderem
Anteil nehmen. Und darum zollt jedem Gedanken, jedem Worte, jeder Tat,
die groß und schön sind, auch die bedrückteste und niedrigste Seele
Beifall, wenn anders es erlaubt ist, zu sagen, daß es niedrige Seelen
gibt. Sie hat kein Organ, das sie mit einem anderen Elemente verknüpfte,
und vermag auch nur nach der Schönheit zu urteilen. Das sieht man
täglich und stündlich im Leben; und wer die Schönheit mehr als einmal
verleugnet weiß es ebenso gut wie Der, welcher sie unaufhörlich, in
seinem Herzen sucht. Wenn Du eines Tages das tiefe Bedürfnis nach einem
anderen Wesen hast, wirst Du dann zu Dem gehen, der mit erbärmlichem
Lächeln lächelte, als die Schönheit vorbeiging? Wirst Du zu Dem gehen,
der eine hochherzige Tat oder einfach eine reine Bestrebung mit
Kopfschütteln besudelt hat? Vielleicht gehörst Du zu Denen, die es
billigten; aber in diesem ernsten Augenblicke, wo die Wahrheit an Deine
Tür klopft, wirst Du Dich jenem Anderen zuwenden, der sich zu beugen und
zu lieben wußte. Deine Seele hat in ihren Tiefen geurteilt, und dieses
schweigsame und unfehlbare Urteil taucht vielleicht nach dreißig Jahren
an die Oberfläche und führt Dich einer Schwester zu, die mehr Du selbst
bist, als Dein ganzes Ich, da sie der Schönheit näher stand.
Es ist so wenig nötig, um die Schönheit in einer Seele zu ermutigen, so
wenig, um die eingeschlafenen Engel aufzuwecken. Man braucht vielleicht
nicht einmal aufzuwecken, es genügt einfach, nicht einzuschläfern.
Vielleicht ist es nicht das Aufsteigen, sondern das Absteigen, was
Kräfte erfordert. Bedarf es nicht einer Anstrengung, um angesichts des
Meeres oder der Nacht an mittelmäßige Dinge zu denken? Und welche Seele
weiß sich nicht immerfort am Meere und angesichts einer ewigen Nacht?
Wenn wir die Schönheit minder fürchteten, so gelangten wir dahin, nichts
anderes mehr im Leben zu finden. Denn in Wirklichkeit ist unter allem,
was sichtbar ist, nur dies vorhanden. Alle Seelen wissen das und sind
bereit; aber wo sind die, welche ihre Schönheit nicht verbergen? Und
doch bedarf es nur einer von ihnen, die "den Anfang macht". Warum nicht
die zu sein wagen, die "den Anfang macht"? Alle anderen harren begierig
rings umher, wie kleine Kinder vor einem Zauberschlosse. Sie drängen
sich auf der Schwelle, sie flüstern und blicken durch die Ritzen, aber
sie wagen nicht, die Tür zu öffnen. Sie warten, bis ein Erwachsener
kommt, um zu öffnen. Aber der Erwachsene kommt fast nie vorbei.
Und was wäre gleichwohl nötig, um der Erwachsene zu werden, den man
erhofft? Fast nichts. Die Seelen sind nicht anspruchsvoll. Ein nahezu
schöner Gedanke, den Du nicht aussprichst, und den Du in diesem
Augenblicke nährst, erleuchtet Dich wie ein durchsichtiges Gefäß. Sie
sehen es und werden Dich auf ganz andere Weise aufnehmen, als wenn Du
daran dächtest, Deinen Bruder zu täuschen. Man erstaunt, wenn uns
gewisse Menschen sagen, sie hätten noch nie eine wahre Häßlichkeit
angetroffen und wüßten noch nicht, was eine niedrige Seele ist. Aber daß
ist nicht erstaunlich. Sie hatten "den Anfang gemacht". Weil sie selbst
zuerst schön waren, lockten sie jede vorübergehende Schönheit an, wie
ein Leuchtturm die Schiffe von allen vier Himmelsrichtungen anzieht. Es
gibt Menschen, die sich zum Beispiel über die Frauen beklagen und nicht
bedenken, daß bei der ersten Begegnung mit einer Frau ein einziges Wort
genügt, ein Gedanke, der die Schönheit und Tiefe verneint, um ihr Dasein
für ewig in der Seele der Frau zu vergiften. "Was mich betrifft," sagte
mir ein Weiser, "so habe ich keine einzige Frau gekannt, die mir nicht
etwas Großes gebracht hätte." Er war zuerst groß, das war sein
Geheimnis. Es gibt nur ein Ding, das die Seele nicht verzeiht, das ist,
gezwungen gewesen zu sein, eine Handlung, ein Wort oder einen häßlichen
Gedanken mit anzusehen, zu berühren oder zu teilen.
Sie kann es nicht verzeihen, denn hier verzeihen hieße sich selbst
verneinen. Und doch heißt für die meisten Menschen genial, stark und
geschickt sein soviel wievor allem seine Seele von seinem Leben
fernhalten und sorgfältig alle zu tiefen Strebungen brachlegen. Sie
handeln derart bis in die Liebe hinein, und darum hat auch die Frau, die
der Wahrheit noch näher steht, fast nie einen Augenblick wahrhaften
Lebens mit ihnen. Man könnte sagen, daß sie Furcht haben, ihre Seele
einzuholen, und daß sie sich Mühe geben, tausend Meilen von ihrer
Schönheit entfernt zu bleiben. Im Gegenteil müßte man versuchen, über
sich hinauszugehen. Denke oder sprich in diesem Augenblick Dinge, die zu
schön sind, um in Dir wahr zu sein; und morgen schon werden sie wahr
sein, wenn Du versucht hast, sie heute abend zu denken oder zu sagen.
Versuchen wir nur, schöner als wir selbst zu sein; wir werden unsere
Seele nicht überholen. Man irrt niemals, wenn es sich um schweigende und
verborgene Schönheit handelt. Überdies ist es von dem Augenblick an, wo
die innere Quelle ganz klar rinnt, ziemlich gleichgültig, ob ein Wesen
sich irrt oder nicht. Aber wer denkt auch nur daran, die geringste
Anstrengung zu machen, die man nicht sieht! Und doch befinden wir uns
hier in einem Bereiche, wo alles Wirkung hat, weil alles wartet. Alle
Tore sind geöffnet, man braucht sie nur zu öffnen, und das Schloß ist
voll von gefesselten Königinnen. Oft genügt ein einziges Wort, um Berg
von Kehricht fortzufegen. Warum nicht den Mut haben, einer niedrigen
Frage eine edle Antwort entgegenzusetzen? Glaubt man, sie ginge völlig
unbemerkt vorüber oder weckte nur Staunen? Glaubt man nicht, dies
brächte uns der natürlichen Zwiesprache zweier Seelen näher? Man weiß
nicht recht, was dadurch ermutigt oder befreit wird. Selbst Der, welcher
diese Antwort zurückweist, macht wider Willen einen Schritt auf seine
eigene Schönheit zu. Etwas Schönes stirbt nicht, ohne etwas geläutert zu
haben. Es gibt keine Schönheit, die sich verlöre. Man braucht sich nicht
zu scheuen, sie am Wege zu verstreuen. Sie wird dort Wochen und Jahre
liegen bleiben, aber sie wird sich ebensowenig auflösen, wie ein
Diamant, und endlich wird einer vorübergehen, der sie glitzern sieht,
aufhebt und beglückt von dannen trägt. Warum also in sich selbst ein
schönes und hohes Wort zurückhalten, weil man glaubt, von Anderen nicht
verstanden zu werden? Warum einen Augenblick höherer Güte im Entstehen
hindern, weil man glaubt, daß unsere Umgebung keinen Nutzen daraus
ziehen könnte? Warum einen unwillkürlichen Aufschwung der Seele nach den
Höhen unterdrücken, weil man unter Leuten des Tales ist? Verliert denn
ein tiefes Gefühl in der Finsternis seine Kraft? Hat ein Blinder keine
anderen Mittel als die Augen, um Die, welche ihn lieben, von Denen zu
unterscheiden, welche ihn nicht lieben? Braucht die Schönheit verstanden
zu werden, um zu bestehen; und glaubt man nicht vielmehr, daß es in
jedermann etwas gibt, das weit über das hinaus versteht, was es zu
verstehen scheint, und weit auch über das hinaus, was es zu verstehen
wähnt? "Selbst den Elendesten," sagte mir eines Tages das höchste Wesen,
das ich zu kennen das Glück habe, "selbst den Elendesten habe ich nie
den Mut besessen, etwas Häßliches oder Mittelmäßiges zu antworten." Und
ich habe gesehen, daß dieses Wesen, das ich lange im Leben verfolgt
habe, eine unerklärliche Macht über die düstersten, verschlossensten,
blindesten und aufrührerischesten Seelen hatte. Denn kein Mund nennt die
Macht einer Seele, die sich bestrebt, in einem Dunstkreise von Schönheit
zu leben und die Schönheit in sich zu betätigen. Und ist es nicht auch
die Art dieser Betätigung, die das Leben erbärmlich oder göttlich macht?
Könnte man den Dingen auf den Grund gehen, wer weiß, ob man da nicht
entdecken würde, daß es die Macht einiger schöner Seelen ist, welche die
anderen am Leben erhält? Ist nicht die Vorstellung, die jeder sich von
einigen erwählten Wesen macht, die einzige lebendige und wirksame Moral?
Aber welchen Anteil hat an dieser Vorstellung die erwählte Seele und die
des Wählenden? Vermischt sich das nicht sehr geheimnisvoll, und berührt
diese Moral der Vorbilder nicht Tiefen, welche die Moral der schönsten
Bücher, nie wird streifen können? Es gibt hier einen Einfluß von einer
Ausdehnung, deren Grenzen schwer zu bestimmen sind, und eine
Kraftquelle, aus der jeder von uns täglich mehr als einmal trinkt.
Vermindert ein Fehlgreifen in einem dieser Wesen, die man für vollkommen
angesehen und im Bereiche der Schönheit geliebt hat nicht unmittelbar
unser Zutrauen zur allgemeinen Größe der Dinge und unsere Bewunderung
für sie?
Und andererseits glaube ich nicht, daß etwas auf Erden eine Seele
unmerklicher und natürlicher verschönte, als die Versicherung, daß es
irgendwo, nicht fern von ihr, ein reines und schönes Wesen gibt, das sie
ohne Hintergedanken lieben kann. Wenn sie sich wirklich einem solchen
Wesen genähert hat, so hört die Schönheit auf, eine schöne tote Sache zu
sein, die man den Fremden zeigt; sie bekommt plötzlich ein
gebieterisches Leben, und ihre Tätigkeit wird so natürlich, daß nichts
mehr Widerstand leistet. Darum beherzige man dies; der Mensch ist nicht
allein; Guten müssen wachen.
Im achten Buche seiner fünften Enneade schließt Plotin, nachdem er von
der intelligiblen - d.h. göttlichen - Schönheit gesprochen hat, wie
folgt: "Was uns betrifft, so sind wir schön, wenn wir uns selbst
angehören, und häßlich, wenn wir zu einer niedrigere Natur herabsinken.
Auch sind wir schön, wenn wir uns kennen, und häßlich, wenn wir uns
nicht kennen."
Nun aber wollen wir nicht vergessen, daß wir hier auf Bergen sind, wo
sich kennen nicht einfach soviel heißt, als wissen, was in uns vorgeht,
wenn wir verliebt oder eifersüchtig, furchtsam oder neidisch, glücklich
oder unglücklich sind. Sich kennen heißt dort, wo wir sind, das
Göttliche, was im Menschen vorgeht, kennen. Wir sind häßlich, wenn wir
uns von den Göttern entfernen, die in uns sind, und in dem Maße, wie wir
sie entdecken, werden wir schön. Aber wir werden das Göttliche in den
Anderen nicht finden, wenn wir ihnen nicht zuerst das Göttliche in uns
selbst zeigen. Einer der Götter muß dem anderen ein Zeichen geben, und
alle Götter antworten auf ein kaum vernehmbares Zeichen. Man kann es
nicht oft genug wiederholen, es bedarf nur eines fast unsichtbaren
Spalts, damit die Wasser des Himmels in unsere Seelen eindringen. Alle
Becher sind den unbekannten Quellen zugeneigt, und wir sind an einer
Stätte, wo man nur an Schönheit denkt. Wenn man einen Engel fragen
könnte, was unsere Seelen in der Finsternis tun, so würde er wohl,
nachdem er vielleicht jahrelang weit über Das hinausgeblickt hat, was
sie in den Augen der Menschen zu tun scheinen, zur Antwort geben: "Sie
bilden die kleinen Dinge, die man ihnen gibt, in Schönheit um."
Ja, man muß gestehen, daß die menschliche Seele einen eigenen Mut hat!
Sie fügt sich darein, ein ganzes Leben lang im Finstern zu arbeiten,
wohin die meisten von uns sie verbannen und wo keiner mit ihr spricht.
Sie tut dort was sie kann, ohne sich zu beklagen, und bemüht sich, den
Kieseln, welche man ihr wirft, den Kern ewigen Lichtes zu entlocken, den
sie vielleicht bergen. Und mitten in ihrer Emsigkeit lauert sie auf den
Augenblick, wo sie einer geliebteren oder zufällig näher stehenden
Schwester ihre mühsam gespeicherten Schätze zeigen kann. Aber es gibt
tausend Wesen, wo keine Schwester sie aufsucht und das Leben sie so
verschüchtert hat, daß sie dahingeht, ohne etwas zu sagen, und ohne sich
ein einziges Mal mit den schlichtesten Steinen ihrer schlichten Krone
geschmückt zu haben …
Und trotzdem wacht sie in ihrem unsichtbaren Himmel über alle Dinge. Sie
warnt, sie liebt, sie bewundert und stößt ab. Bei jedem neuen Ereignis
taucht sie an die Oberfläche auf, in der Erwartung, daß man sie nötige,
wieder hinabzusteigen, da sie für lästig und toll gilt. Sie irrt wie
Kassandra unter der Halle der Atriden. Sie spricht dort unaufhörlich
Worte, deren Wahrheit selbst nur ein Schatten ist, und kein Mensch hört
sie. Wenn wir die Augen erheben, so erwartet sie einen Sonnen- oder
Sternenstrahl, aus dem sie einen Gedanken machen will, oder vielmehr
eine unbewußte, sehr lautere Strebung. Und wenn unsere Augen ihr nichts
übermitteln, so kann sie ihre arme Enttäuschung in etwas
Unaussprechliches verwandeln, das sie bis zum Tode verbergen wird. Wenn
wir lieben, so berauscht sie sich an Licht hinter geschlossenen Türen,
und in ihrem Hoffen und Harren verliert sie nicht die Stunden. Das
Licht, das durch die Spalten dringt, wird für sie zu Güte, Schönheit
oder Wahrheit. Wenn aber die Tür sich nicht öffnet, - und bei wie vielen
Wesen öffnet sie sich überhaupt? - so kehrt sie in ihren Kerker zurück,
und ihr Schmerz wird vielleicht eine höhere Wahrheit sein, als man je zu
Gesichte bekommen wird; denn wir sind an der Stätte unsagbarer
Verwandlungen, und was nicht diesseits der Tür entstanden ist, ist nicht
verloren, sondern vermischt sich nur nicht mit diesem Leben ...
Ich sagte soeben, daß sie die kleinen Dinge, die man ihr gibt, in
Schönheit verwandelt. Es scheint sogar, je mehr man darüber nachdenkt,
daß sie keinen anderen Daseinsgrund hat und daß ihre ganze Tätigkeit
darauf beruht, auf dem Grunde unseres Wesens einen Schatz von Schönheit
anzusammeln, der sich nicht beschreiben läßt. Würde sich nicht alles von
selbst in Schönheit verwandeln, wenn wir nicht unaufhörlich die
hartnäckige Arbeit unserer Seele störten? Wird nicht selbst das Böse
kostbar, wenn sie den tiefen Diamanten der Reue daraus gewonnen hat?
Werden nicht zuletzt auch die Ungerechtigkeiten, die Du begangen, die
Tränen, die Du hervorgerufen, in Deiner Seele eines Tages zu Licht und
Liebe? Hast Du in Dir selbst jemals dieses Reich der läuternden Flammen
erblickt? Man tat Dir heute großes Unrecht; die Gebärden waren klein,
die Handlung niedrig und traurig, und Du hast in der Häßlichkeit
geweint. Aber wirf ein paar Jahre später einen Blick in Deine Seele, und
sage mir dann, ob Du nicht unter der Erinnerung an diese Handlung etwas
siehst, das schon reiner ist als ein Gedanke, ich weiß nicht welche
unnennbare Kraft, die keinerlei Beziehung zu den gewöhnlichen Gewalten
dieser Welt hat, ich weiß nicht welche Quelle eines "anderen Lebens",
aus der Du bis zu Deinem letzten Stündlein trinken kannst, ohne sie zu
erschöpfen. Und doch hast Du der unermüdlichen Königin nicht geholfen
und an andere Dinge gedacht, während diese Handlung sich ohne Dein Zutun
im Schweigen Deines Wesens läuterte und das köstliche Wasser dieses
großen Behälters der Wahrheit oder Schönheit mehrte, der nicht bewegt
ist, wie der minder tiefe Behälter der wahren oder schönen Gedanken,
sondern stets vor dem Odem des Lebens geschützt bleibt.
"Es gibt keine Tat, kein Ereignis in unserem Dasein," sagt Emerson, "das
nicht früher oder später einmal seine träge, ihm anhangende Form
verlieren und uns in Erstaunen setzen wird, wenn es sich aus der Tiefe
unseres Leibes zum Feuerhimmel aufschwingt."
Und das ist noch im höheren Sinne wahr, als Emerson vielleicht ahnte,
denn je weiter man in diesen Gegenden vordringt, desto göttlichere
Sphären entdeckt man.
Man weiß nicht zur Genüge, worin diese schweigende Tätigkeit der uns
umgebenden Seelen besteht. Du sprachest ein lauteres Wort zu einem Wesen
und wurdest nicht verstanden; Du hieltest es für verloren und dachtest
nicht mehr daran. Aber eines Tages taucht das Wort zufällig wieder auf
in unerhörter Verwandlung, und man kann die unerwarteten Früchte sehen,
die es im Dunkeln gezeitigt hat; dann fällt alles zurück ins Schweigen.
Aber was schadet das? Man lernt, daß nichts in einer Seele verloren
geht, und daß auch die Kleinsten unter ihnen ihre glänzenden Augenblicke
haben. Man kann sich darüber nicht täuschen; die Unglücklichsten selbst
und die Entblößtesten besitzen, sich zum Trotze, auf dem Grunde ihres
Wesens einen Schatz von Schönheit, den sie nicht erschöpfen können. Es
handelt sich nur um die Gewohnheit, aus ihm zu schöpfen. Es kommt darauf
an, daß die Schönheit nicht ein vereinzeltes Fest im Leben bleibt,
sondern zum täglichen Feste wird. Es bedarf keiner großen Anstrengung,
um unter Die aufgenommen zu werden, "deren Augen die blumenreiche Erde
und den strahlenden Himmel nicht mehr in winzigen Teilen, sondern in
erhabenen Massen wahrnehmen"; und ich spreche von Blumen und Himmeln,
die reiner und dauerhafter sind, als die, welche man sieht. Durch
tausend Kanäle kann die Schönheit unserer Seele bis zu unseren Gedanken
emporsteigen. Vor allem gibt es den wunderbaren Mittelkanal der Liebe.
Liegen nicht in der Liebe die reinsten Elemente der Schönheit, die wir
der Seele bieten können? Es gibt Wesen, die sich derart in der Schönheit
lieben. So lieben, heißt allmählich den Sinn für das Häßliche verlieren,
heißt blind werden gegen alle kleinen Dinge und in den geringsten Seelen
nur noch Frische und Jungfräulichkeit erblicken. So lieben, heißt selbst
des Verzeihens nicht mehr bedürfen, heißt nichts mehr verbergen können,
weil es nichts mehr gibt, das die allzeit gegenwärtige Seele nicht in
Schönheit umformte, heißt das Böse nur noch sehen, um die Nachsicht zu
stählen und zu lernen, daß man den Sünder nicht mehr mit seiner Sünde
verwechsle. So lieben, heißt in sich, alle, die uns umgeben, auf Höhen
heben, wo sie nicht mehr fehlen können, und von wo eine niedrige
Handlung so hoch herabfallen muß, daß sie beim Berühren der Erde trotz
allem ihre diamantene Seele hergibt. So lieben, heißt die kleinsten
Absichten, die um uns wachen, unbewußt in grenzenlose Bewegungen
umwandeln und alles Schöne, was es auf Erden, im Himmel und in der Seele
gibt, zum Fest der Liebe herbeirufen. So lieben, heißt vor einem Wesen
dastehen, wie man vor Gott dasteht, und mit der geringsten Gebärde die
Gegenwart seiner Seele und aller ihrer Schätze beschwören. Dann bedarf
es nicht mehr des Todes, der Unglücksfälle oder Tränen, damit die Seele
erscheint; ein Lächeln genügt. So lieben, heißt die Wahrheit im Glücke
so tief erschauen, wie einige Helden sie in der Klarheit des größten
Leidens sahen. So lieben, heißt die Schönheit, die sich in Liebe
verwandelt, und die Liebe, die sich in Schönheit verwandelt, nicht mehr
unterscheiden, heißt nicht mehr sagen können, wo der Strahl eines Sterns
endet oder der Kuß eines gemeinsamen Gedankens anfängt. So lieben, heißt
Gott so nahe kommen, daß die Engel Besitz von uns nehmen, heißt
miteinander die nämliche Seele verschönen, die allmählich zum einzigen
Engel Swedenborgs wird. So lieben, heißt jeden Tag eine neue Schönheit
an diesem geheimnisvollen Engel entdecken und gemeinsam einer immer
lebendigeren und höheren Güte entgegenschreiten. - Denn es gibt auch
eine tote Güte, die nur aus Vergangenem besteht; aber die wahrhafte
Liebe macht Vergangenes entbehrlich und schafft bei ihrem Nahen eine
unerschöpfliche Zukunft von Güte ohne Unglück und Tränen. So lieben,
heißt seine Seele befreien und so schön werden, wie seine befreite
Seele.
"Wenn Du in der Bewegung, die dieses große Schauspiel Dir verursachen
muß" - sagt bei Gelegenheit entsprechender Dinge der große Plotin, er,
der von allen Geistern, die ich kenne, der Gottheit am nächsten stand,
"wenn Du in dieser Bewegung nicht ausrufst, daß es schön sei, und wenn
Du dann, beim Versenken Deines Blickes in Dich selbst, den Zauber der
Schönheit nicht empfindest, so suchest Du in einem solchen Zustande
vergeblich nach intelligibler Schönheit; denn Du suchest sie nur mit dem
Unschönen und Häßlichen. Darum auch richten sich die Gespräche, die wir
hier halten, nicht an alle Menschen. Wenn Du aber in Dir die Schönheit
erkannt hast, so erhebe Dich zur Erinnerung der intelligiblen Schönheit
…"
Aus: Der Schatz der
Armen.
In die deutsche Sprache übertragen durch Friedrich von
Oppeln-Bronikowski (1873-1936)
Verlag von Eugen Diederichs Florenz Leipzig 1892