Philosophische Vorlesungen

für empfindsame Seelen

Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792)
 


Franz Marc (1880-1916)
Liebespaar

 


Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen

Schönheit- ein Wort das sich nicht umschreiben läßt: es muß empfunden werden, doch wollt ich es wagen durch ein ander deutsches Wort viel Licht auf diesen einfachen Begriff zu werfen: Übereinstimmung.
Die Schönheit ist entweder objektiv, die höchste Übereinstimmung der Theile untereinander zu ihrem eigenen Ganzen, oder subjektiv, Übereinstimmung dieser Theile zu dem Ganzen des sie erkennenden Subjekts. Jenes möcht ich ideale, dieses die homogene Schönheit nennen.

Sie sehen aus dieser Erklärung, daß die ideale Schönheit zugleich nothwendig und unveränderlich seyn müße, weil sie ihren Grund in sich selber hat: die homogene aber sich nach dem sie erkennenden Subjekt richte. Sie sehen ferner, daß wir von der homogenen zur idealen Schönheit übergehen können, wann wir unser Ich so weit erheben, daß das schöne und nothwendige Ganze ausser uns, auf unser Ganzes die gehörigen Eindrücke macht, das heißt vollkommen damit übereinstimmt.

Die höchste ideale Schönheit ist Gott - und das erkennen wir aus der Welt, die er geschaffen, worin jeder Theil mit dem andern und zum Ganzen aufs harmonischste stimmt, wir schliessen also von der Wirkung auf die Ursache. Ich sage, wir erkennen; wir schliessen, - um anzuzeigen, was geschehen sollte - nicht was geschieht.

Die homogene Schönheit aber ist in der idealen enthalten wie ein Theil im Ganzen: denn jeder Theil dieses um uns her aufs vollkommenste geordneten Ganzen hat für ein oder anderes Subjekt eine individuelle, mit ihm besonders zusammenstimmende, das heißt homogene Schönheit.

Alle Schönheit erregt ein Ergetzen, ein Wohlgefallen, welches in Wunsch, und wenn dieser Wunsch fortgesetzt wird, in Neigung und Bestreben übergeht. Verschieden müssen aber diese Bestrebungen sein, nach dem diese beiden Arten von Schönheit verschieden sind. Hier, meine Herren! spannen Sie ihre Aufmerksamkeit: Ich will Sie auf die Wegscheide von Glück und Elend führen. - Die homogene Schönheit reizt zur Vereinigung, die ideale zur Nachahmung.

Wir haben eine Konkupiscenz, das Streben nach Vereinigung, die Begier: sie ist Gottes Gabe und nöthig zu unsrer Glückseligkeit, denn wie können wir glücklich sein, ohne zu geniessen und wie können wir geniessen ohne begehrt zu haben. (...)
Alles was in der Welt ist, hat einzeln genommen mit uns einen Grad homogener Schönheit, macht also Anspruch auf einen Grad unsers Genusses. Kein Ding, das unsern Sinnen oder Geistes Kräften gegenwärtig werden kann, ist vergeblich für uns erschaffen, keines, auch das häßlichste nicht (...).
Am homogensten aber unter allen erschaffenen Dingen mit uns, ist der Mensch, daher interessiert er uns am meisten, am vollkommensten homogen unter den Menschen sind sich die beiden Geschlechter, Mann und Weib, hier thut die homogene Schönheit also ihre völlige Wirkung, sie reizt, zieht, zwingt zur Vereinigung. Mögen die Geschlechter also zu einander streben, sich vereinigen, eins sein, es ist ihre Bestimmung - aber nicht einander beruhen.
(...)

Supplement zur vorhergehenden Abhandlung

(...)
Wenn Gott aus dem Menschen bloß ein denkendes und empfindendes Wesen hätte machen wollen, so würde ers bei den Schatten, die er um ihn her pflanzte, bei dem blauen Himmel, mit dem er ihn bedeckte und der schönen Dekoration des Paradieses haben bewenden lassen. Aber er wollte ihn auch handelnd, nicht bloß leidend. Der Mensch sollte freilich einen Blick der Gottheit ins schöne Weltall thun, und alles übereinstimmend empfinden: aber er sollte auch frei, ein kleiner Schöpfer, der Gottheit nachhandeln. Die Triebfeder unserer Handlungen ist die Konkupiscenz, ohne Begier nach etwas bleiben wir ruhig, und da Handeln die größte aller menschlichen Realitäten ist, wie sträflich wär es den Keim unserer Thätigkeit aller unserer Vortrefflichkeit zu ersticken.

Gott wollte also unsere Konkupiscenz in Bewegung setzen, das konnte nur durch ein Verbot geschehen.

Es ist unwiedersprechlich, daß in der ganzen Natur alle Kräfte nur entgegen wirken. Alle Aktion ist Reaktion, wir erfahren dies täglich, wo kein Stoß da keine Bewegung, wo kein primus movens und agens, da bleibt alles ruhend und leidend - auf diesem Weg allein konnten die vernünftigen Geschöpfe zur Idee einer Gottheit kommen. Die Materie ist nur beweglich nach dem Maaß der Kraft, die  sie hat zu wiederstehen. Die Geister haben nur nach dem Maaß ihrer grössern Kraft zu wiederstehen, eine größere Beweglichkeit. Und Gott um unserer Konkupiscenz den höchsten Schwung zu geben, uns zur Handlung zu determiniren, mußte verbieten. (...)

Zweites Supplement

(...) Also - das Gesetz studiert - und das Evangelium ausgeübt - das giebt glückselige Menschen - nach dem Verhältniß glückseliger, nachdem sich ihre Handlungen über das Gesetz, über die Regel des Rechts erheben.

Unverschämte Sachen

(...) Die Allgemeinheit und die Stärke dieses Triebs selbsten, die zwey Klippen, an die unsere Vernunft immer stößt, wenn sie die göttliche Vorsehung über die Austheilung desselben rechtfertigen will, sollten uns aufmerksam machen.
Es scheint, als ob dieser Trieb ein Institut sey, das die ganze Natur umfängt, um alles was lebet, glücklich zu machen. Bis auf den geringsten Wurm hat jedes seine Freude, jedes seinen Grad von Genuß und Glückseligkeit. In Wahrheit ein Institut, das eines allgütigen Schöpfers würdig ist. Seine Sonne von beseeligender und beglückender Güte bis in die allerdunkelsten Hölen der geringsten Raupenseele dringen zu lassen, welch ein Schöpfer! welch ein Vater!

Ferner scheint dieses Institut noch eine höhere und edlere Absicht zu haben, (vielleicht noch hundert, denn bey Gott ist alles Absicht und wer hat in des Herrn Rath gesehen?) nämlich diejenige, die Geschöpfe, die vermöge der in ihnen lebenden Kraft geneigt waren, sich von einander zu entfernen, hie und da herum zu irren, alle Momente den Ort zu verändern, vermöge der sich in ihnen äussernden Beweglichkeit, die der Grundtrieb aller lebenden Geschöpfe ist und ihre Hauptglückseligkeit ausmacht, diese Geschöpfe einander zu nähern, sie mit einem gemeinschaftlichen Bande wieder zu verbinden, das stark genug sein mußte um jenen Trieb bisweilen zu überwinden und das unruhig herumschweifende Thier auf gewisse Zeitlang auf einen Ruhepunkt zu fixieren. (...)

Um kurz von der Sache zu kommen, der Geschlechtertrieb ist die Mutter aller unserer Empfindungen. Zerstreut und verschwendet diesen Schatz, und ihr werdet kalte und leere Geschöpfe, Kinder ohne Dankbarkeit und Pietät, Ehegatten ohne Zärtlichkeit und eheliche Treue, Väter ohne Freude an eurem multiplizirten Selbst werden, kalt, kalt, kalt - o ich weiß keine schrecklichere Benennung eines trostlosen und verzweiflungsvollen Zustandes. Alsdenn kommen die kalten unfreundlichen Leidenschaften wie sieben böse Geister und nehmen den Platz eurer Liebe ein, die anstatt in der Schale des Geschlechtertriebes zu den herrlichsten Früchten zu gedeihen, schon frühzeitig im Keim erstarb. Dann kommt Hochmuth und Ehrgeiz und spornen euch ohne Ruhe Felsen an, dann kommt Kleinmuth und Furcht mit allen den kriechenden Passionen hinter sich, Neid, Geiz, Tücke und Schadenfreude, und pressen euch unaufhörlich bis in euer Grab hinab, wo Würmer an eurer Seele fressen.

Es wäre also die Zähmung unsers Geschlechtertriebes nicht unfüglich, wo nicht ihrer innern Wichtigkeit, doch der Zeitfolge nach, der erste Grundsatz in unserer Moral zu nennen, da wir gemeiniglich von dem Laster der Ausgelassenheit und Zügellosigkeit zu allen übrigen stufenweise, wie wohl unvermerkt fortzugehen pflegen. (...)
Aber es ist nicht anders, und jetzt haben wir einiges Licht, warum Gott durch Mose die Ehegesetze mit so scharfen Strafen begleitet, etabliert hat, einiges Licht, warum er die Hurerey, oder die unerlaubte und unordentliche Befriedigung dieses Triebs noch für das künftige Leben zu strafen bedroht; da sie doch in diesem schon ihre Strafe mit sich führt. Wir werden kalt und Empfindungsleer gegen alles, also auch gegen den Urheber dieses Alles, gegen Gott, und verfehlen also ganz und gar unserer Bestimmung, welche Liebe und Glückseligkeit war. (...)
Nichts bleibt uns jetzt übrig, als bei allen diesen Motiven, so herrlich sie sind, und so kräftig sie wirken könnten, wenn wir immer die Augen unserer Vernunft offen behielten und die Leidenschaft nicht blind wäre, uns nach Mittel umzusehen, der Heftigkeit des bloß thierischen Triebes Zügel anzulegen und Einhalt zu thun. Denn wir sehen wohl, daß er nur geleitet, nicht getödtet werden muß, so wenig wir Fug haben, andere thierische Instinkte die zu heilsamen Zwecken in uns gelegt waren, auszurotten. Und dieses Mittel muß von der Art sein, daß es bei allen Fällen und zu allen Zeiten gleich kräftig und probat ist, keine Palliativkur, die im nächsten Augenblick den Schaden nur zweideutiger und den Schmerz heftiger macht, den sie im ersten Augenblick zu stillen schien. Präkautionen, Gebeth, gute Grundsätze und Maximen fleißig und oft sich wiederholt und eingeprägt, (wie wohl auch die mehr aus unsern eigenen Erfahrungen abgezogen als aus Büchern erlernt werden müssen) eine strenge Lebensordnung, Fasten so gar und Enthaltung von erlaubten Vergnügungen, Vermeidung böser Gelegenheit, Flucht - - - alle die Recepte unserer heutigen Moralisten sind gar gut, aber man erlaube mir es zu sagen, sie sind keine Universalmedicin, die für alle Subjekte brauchbar ist, und gemeiniglich äussern diese schönen Rathschläge ihre ganze Kraft erst, oder von uns erst dann in ihrer Heilsamkeit eingesehen, wenn der Schaden schon geschehen, wenn die Stunde der Versuchung schon vorübergegangen ist und wir untergelegen haben. O wie schön können wir alsdann nicht über die Schändlichkeiten dieses Lasters deklamieren, um gleichsam dem Herzenskündiger dadurch unsere eigene Begehung desselben abzubüssen und ihn über unsere schönen Worte unsrer Handlungen vergessen zu machen.
- Es kommt hier also auf eine Medicin an, die ihre Kraft vor der Krankheit äussert, welche sie verhüten soll - und die ist - um einmal kurz zu schliessen, um mit einem Wurf das Ziel zu treffen, nach welchem wir so lange gezielt haben - weil doch unsere Seele von der Natur ist, daß sie nicht gern ein Vergnügen aufgiebt, wenn nicht auf der Stelle ein anders wieder da ist, es zu ersetzen - Die empfindsame Liebe.
Seht ihr einen Gegenstand, der euern Geschlechtertrieb rege macht, versucht ob ihr ihn lieben könnt, etwas liebenswürdiges wird er immer haben, und ein weit reicheres Maaß von Vergnügen werdet ihr ernten, als euch der letzte Genuß geben könnte. Die rechten Verhältnisse und Grade in der Liebe zu finden, dazu habt ihr die Vernunft, Gottesgabe und vollkommenstes Gesetz.
Sela!

Aus: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen
Frankfurt und Leipzig 1780
[Der Autor ist hierbei nicht genannt]


 

 




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