Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)


Julie

oder

Die Neue Heloise

Aus den Briefen zweier Liebenden

 

 




(...)
Leben Sie wohl, allzu schöne Julie, leben Sie ruhig und werden Sie wieder heiter und froh; von morgen an werden Sie mich nicht wieder sehen.
Aber seien Sie überzeugt, daß die heiße, reine Liebe, von welcher ich für Sie entbrannt bin, in meinem Leben nicht verlöschen wird, daß mein Herz, erfüllt von einem so würdigen Gegenstande, sich hinfort nie wird erniedrigen können, daß es immerdar nächst Ihnen nur der Tugend huldigen wird und daß keine andere Flamme jemals den Altar entweihen wird, auf welchem Julie verehrt wurde.

Erste Abtheilung 3. Brief (An Julie)
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Seit dem ersten Tage, an welchem ich das Unglück hatte, dich zu sehen, fühlte ich das Gift, das mir Sinne und Vernunft zerrüttet; ich fühlte es vom ersten Augenblick an, und deine Augen, deine Sinnesart, deine Worte, deine sündhafte Feder machen es jeden Tag tödtlicher. (...)
Ich flehe vergebens den Himmel an, der Himmel ist taub für die Gebete der Schwachen. Alles nährt die Glut, die mich verzehrt; Alles weist mich auf mich selbst an, oder vielmehr Alles liefert mich dir aus; die ganze Natur scheint mit dir verschworen zu sein; alle meine Anstrengungen sind vergeblich, ich verehre dich wider meinen Willen. Wie könnte mein Herz, das in seiner ganzen Kraft nicht hat widerstehen können, jetzt nur zur Hälfte nachgeben?
Wie könnte dieses Herz, das nichts verheimlichen kann, den Rest seiner Schwäche vor dir verbergen?
Ach! den ersten Schritt, der am schwersten ist, den hätte ich nicht thun müssen: wie könnte ich jetzt die übrigen zurückhalten? Nein, mit diesem ersten Schritte fühle ich mich dahingerissen in den Abgrund und du kannst mich so unglücklich machen, als du willst.
So schrecklich ist der Zustand, in welchem ich mich finde, daß ich zu keinem Andern weiter Zuflucht nehmen kann als zu Dem, der mich hinein versetzt hat, und daß zu meiner Rettung vom Verderben du mein einziger Beschützer gegen dich sein mußt. (...)
Welcher Reiz in der süßen Vereinigung zweier reinen Seelen!
Der Sieg über deine Begierden wird die Quelle deines Glückes sein und die Freuden, die du schmecken wirst, werden des Himmels selbst würdig sein.

Erste Abtheilung 4. Brief (Von Julie)
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Himmlische Mächte! Ich hatte eine Seele für den Schmerz, gebt mir eine für die Seligkeit, Liebe, des Lebens Seele, komm, stärke die meine, denn ich fühle, sie vergeht. Unaussprechlicher Zauber der Tugend, unüberwindliche Macht der Stimme der Geliebten, Glück, Freude, Entzücken, o wie scharf sind eure Pfeile! wen durchbohrten sie nicht! Oh, wie widersteh' ich diesem Strom von Wonne, der mein Herz überflutet? Wie büße ich die Herzensangst einer schüchternen Geliebten? Julie ... nein! meine Julie auf Knieen! meine Julie Thränen vergießend! Sie, der das Weltall huldigen müßte, zu dem Mann, der sie anbetet, flehend, daß er sie nicht beschimpfe, nicht sich selbst entehre! Wenn es mir möglich wäre, dir zu zürnen, so thäte ich es um deine Befürchtungen, die uns erniedrigen. Erkenne besser, reine, himmlische Schönheit, welcher Art deine Herrschaft ist. Siehe! Wenn ich deine persönlichen Reize anbete, ist es nicht vorzüglich um des Abdrucks dieser fleckenlosen Seele willen, die in ihnen lebt und deren göttlichen Stempel alle deine Züge tragen? (...)
Laß mich, o laß mich schwelgen in dem ungeahnten Glück, geliebt zu sein ... geliebt von Der ... Weltenthron, wie tief liegst du unter meinen Füßen! Lesen, tausendmal wiederlesen, den anbetungswürdigen Brief, in welchem deine Liebe und dein gefühlvolles Herz mit Flammenzügen geschrieben stehen, in welchem ich, bei allem Sturme des bewegten Herzens, mit Entzücken sehe, wie in einer keuschen Seele auch den lebhaftesten Leidenschaften noch das heilige Gepräge der Tugend aufgedrückt bleibt. (...)
Ach vertraue doch der Glut, die du in mir entzündest und die du so schön zu läutern weißt; glaube mir, es reicht hin, daß ich dich anbete, um ewig das kostbare Pfand, das du meiner Obhut übergeben hast, in Reinheit zu bewahren. Oh, welch ein Herz soll mein sein! Wahres Glück, Ruhm dessen, das man liebt, Triumph einer Liebe, die sich selbst ehrt, wie viel mehr bist du werth, als alle ihre Freuden!

Erste Abtheilung 5. Brief (An Julie)
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Alles, was Sie von dem Glücke unserer gegenwärtigen Lage sagen, ist unbestreitbar; ich fühle, daß wir glücklich sein sollten, und dennoch bin ich es nicht. Die Vernunft hat durch Ihren Mund gut reden, die Stimme der Natur ist die stärkere. Sagen Sie, wie soll man ihr widerstehen, wenn sie mit der Stimme des Herzens Eins ist? Außer Ihnen und Ihnen allein sehe ich nichts auf dieser Erde, was würdig wäre, meine Seele und meine Sinne zu beschäftigen; nein! ohne Sie ist die Natur mir nichts mehr; aber ihre Gewalt ist in Ihren Augen und da, da ist sie unüberwindlich. (...)
Ja, theure Geliebte, es scheint mir, daß meine Liebe ebenso vollkommen ist wie ihr anbetungswürdiger Gegenstand; alle Begierden, die von Ihren Reizen entzündet werden, löschen aus in den Vollkommenheiten Ihrer Seele; ich sehe diese so still, so friedlich, daß ich es nicht wage, ihre Ruhe zu trüben. So oft ich versucht bin, Ihnen die kleinste Liebkosung zu stehlen, wenn dann die Gefahr, Sie zu erzürnen, mich zurückhält, hält mich noch mehr mein Herz zurück durch die Furcht, ein so reines Glück zu stören; die Güter, nach denen ich strebe, schätze ich nur nach dem, was es Sie kosten würde, sie hinzugeben; und da ich nicht mein Glück und das Ihrige in Übereinstimmung bringen kann, sehen Sie, wie ich liebe, so habe ich auf das meinige verzichtet.
Welche unauflöslichen Widersprüche in den Gefühlen, die Sie mir einflößen! Ich bin zu gleicher Zeit unterwürfig und keck, ungestüm und zurückhaltend; ich kann nicht die Augen zu Ihnen aufschlagen, ohne daß ich Kämpfe mit mir selbst zu bestehen habe. Ihre Blicke, Ihre Stimme gehen ans Herz, mit der Liebe, dem rührenden Reiz der Unschuld; ein himmlischer Reiz ist das, den man um Alles nicht zerstören möchte. Wenn ich meine Wünsche bis zu dem Äußersten schweifen lasse, so ist das nur in Ihrer Abwesenheit; meine Begierden wagen sich nicht bis zu Ihnen, wenden sich nur an Ihr Bild, und an dem räche ich mich für die Scheu, die ich gegen Sie zu beobachten gezwungen bin.
Indessen schmachte ich hin und vergehe; Feuer strömt durch meine Adern; nichts kann es löschen oder dämpfen, und ich entfache es heftiger, indem ich es zu bändigen versuche. Ich soll glücklich sein, ich bin es, das gestehe ich ein; ich beklage mich nicht über mein Loos; so wie es ist, würde ich nicht mit den Königen der Erde tauschen. Jedoch ist es ein wirkliches Übel, das mich quält, ich suche vergeblich ihm zu entkommen; ich möchte nicht sterben, und doch sterbe ich, ich möchte leben für Sie, und Sie nehmen mir das Leben.

Erste Abtheilung 10. Brief (An Julie)
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Mein Freund, ich fühle, daß ich mich mit jedem Tage inniger an Sie schließe, ich kann mich nicht mehr von Ihnen trennen; die kleine Abwesenheit ist mir unerträglich und ich muß Sie sehen oder Ihnen schreiben, damit ich unaufhörlich mit Ihnen beschäftigt bin.
So wächst meine Liebe mit der Ihrigen; denn ich erkenne jetzt, wie sehr Sie mich lieben, an der wirklichen Furcht, die Sie haben, mir zu missfallen, während Sie sie erst nur zum Scheine hatten, um besser zu Ihrem Ziele zu gelangen. Ich kann ganz gut in Ihnen die Herrschaft, welche sich das Herz über Sie erworben hat, von dem Rausche einer erhitzten Einbildungskraft unterscheiden und ich finde hundert Mal mehr Leidenschaft in dem Zwange, den Sie sich anthun, als in Ihrer ersten stürmischen Heftigkeit. Ich weiß auch wohl, daß Ihr Zustand, wie lästig er sein möge, nicht ohne Genuß ist. Es ist Dem, der wahrhaft liebt, etwas Süßes, Opfer zu bringen, die ihm alle angerechnet werden und deren keines im Herzen der Geliebten verloren ist. (...)
Unsere Seelen haben sich, so zu sagen, an allen Punkten berührt und wir haben überall dieselbe Cohärenz empfunden (verbessern Sie, Freund, wenn ich Ihre physikalischen Lehren falsch anwende). Das Schicksal wird uns wohl trennen, aber nicht uns von einander lösen können. Wir werden nur noch die nämlichen Freuden und Leiden haben; und gleich jenen Magneten, von denen Sie mir sagten, die, wie es heißt, an verschiedenen Orten dieselben Bewegungen machen, werden wir an den beiden Enden der Welt die gleichen Gefühle haben.

Erste Abtheilung 11. Brief (Von Julie)
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Ich habe immer geglaubt, daß das Gute nichts Anderes ist als das Schöne in Handlung gesetzt, daß das Eine eng mit dem Andern zusammenhängt und daß sie beide in der wohl geordneten Natur ihre gemeinschaftliche Quelle haben. Es folgt aus diesem Gedanken, daß sich der Geschmack durch dieselben Mittel vervollkommnet wie die Weisheit und daß eine Seele, welche von den Reizen der Tugenden recht eingenommen ist, auch nach Verhältniß für jede andere Art von Schönheit empfänglich sein muß. Man übt sich im Sehen wie im Fühlen, oder vielmehr ein gebildetes Auge ist nichts weiter als ein feines und zart entwickeltes Gefühl. So begeistert sich ein Maler beim Anblick einer schönen Landschaft oder vor einem schönen Gemälde an Gegenständen, welche ein gewöhnlicher Zuschauer nicht einmal bemerkt. Wie viele Dinge giebt es nicht, die man nur mit dem Gefühle wahrnimmt und über welche es unmöglich ist Rechenschaft zu geben! Wie viel Unsagbares stößt uns immerfort auf, worüber der Geschmack entscheidet! Der Geschmack ist in gewissem Maße das Mikroskop der Urtheilskraft; er ist es, der ihr das Kleinste erreichbar macht, und seine Wirksamkeit beginnt, wo die ihrige aufhörte. Was ist also nöthig, um ihn zu bilden? Nichts als daß man sich übe zu sehen wie zu fühlen und das Schöne mittelst der Anschauung wie das Gute mittelst des Gefühls zu beurtheilen. O, ich behaupte, daß nicht einmal das allen Herzen gegeben ist, beim ersten Anblick Juliens bewegt zu werden. (...)
Ich habe aus Rücksicht auf Ihre unzertrennliche Cousine einige leichte Literatur mit aufgenommen, die ich Ihretwegen nicht aufgenommen hätte. Außer Petrarca, Tasso, Metastasio und den Meistern der französischen Schaubühne, hab ich ganz gegen den Brauch, den man bei Ihrem Geschlecht einzuhalten pflegt, weder Dichterwerken noch Liebesgeschichten eine Stelle eingeräumt. Was sollen wir über die Liebe in diesen Büchern lernen? Ach, Julie, unser Herz sagt uns mehr als sie, und die nachgeahmte Sprache der Leidenschaft in den Büchern ist gar kalt für Den, der selbst in Leidenschaft ist. Ueberdies entnerven dergleichen Studien die Seele, verweichlichen sie und rauben ihr alle ihre Federkraft. Dagegen die wirkliche Liebe ist ein verzehrendes Feuer, das allen übrigen Empfindungen Wärme mittheilt und sie mit neuer Kraft belebt. Deswegen hat man gesagt, die Liebe mache Helden. Glücklich wäre Der zu preisen, dem das Schicksal diese Bahn eröffnete und der Julien zur Geliebten hätte!

Erste Abtheilung 12. Brief (An Julie)
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Seit sich in meinem Herzen der Durst nach Liebe regte und ich in mir das Bedürfniß empfand, mich auf ewig hinzugeben, seit dem ersten Augenblicke fleht ich den Himmel an, nicht einen liebenswürdigen Mann, wohl aber einen Mann von schöner Seele mir zu verbinden; denn ich fühle wohl, daß es unter allen Annehmlichkeiten, die man besitzen kann, diese ist, an der man am wenigsten den Geschmack verliert, und daß Redlichkeit und Ehrliebe alle Gefühle, denen sie sich beigesellen, verherrlichen. Und weil ich recht gewählt hatte, so erhielt ich, wie Salomo, zu dem, was ich gebeten hatte, auch was ich nicht gebeten hatte. Ich sehe die Erfüllung dieses Wunsches als gute Vorbedeutung für die Erfüllung meiner übrigen Wünsche an, und ich verzweifle nicht daran, mein Freund, Sie eines Tages so glücklich machen zu können, als Sie es zu sein verdienen.

Erste Abtheilung 13. Brief (Von Julie)
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Was hast du gethan! Ach, was hast du gethan, meine Julie! Du wolltest mich belohnen und du hast mit zu Grunde gerichtet. Ich bin trunken, nein, ich bin unsinnig. Meine Sinne sind mir verrückt, alle meine Lebenskräfte in Aufruhr durch diesen tödtlichen Kuß. Du wolltest meine Pein lindern! Grausame, du steigerst sie. Gift habe ich von deinen Lippen gesogen; es siedet, es verbrennt mein Blut; es bringt mich um, und dein Erbarmen mordet mich.
O unvergängliches Andenken dieses Augenblicks voll Täuschung, Wahn, Zauberei! nie, nie wirst du meiner Seele entschwinden, und so lange in ihr Juliens Reize eingedrückt sein werden, so lange dieses zitternde Herz Empfindungen und Seufzer hergeben wird, wirst du die Marter und die Wonne meines Lebens sein. (...)
Als wir uns dem Gebüsche näherten, bemerkte ich nicht ohne ein inneres Zittern, daß ihr einander zuwinktet, lächeltet und daß deine Wangen sich höher färbten. Wir traten ein; mit Erstaunen sah ich deine Cousine zu mir treten und mit komisch bittender Miene einen Kuß fordern. Ohne zu wissen, was dahinter steckte, umarmte ich die anmuthige Freundin, und so liebenswürdig, so reizend sie ist, habe ich doch niemals mehr gefühlt, daß die sinnlichen Empfindungen nichts sind, als was das Herz aus ihnen macht.
Aber wie ward mir, als einen Augenblick darauf ich fühlte . . . . . die Hand zittert mir . . . . einen süßen Schauder . . . . deinen Rosenmund . . . .  Juliens Mund auf den meinen gelegt, gepreßt, meinen Leib umspannt von deinen Armen. Nein! das Feuer vom Himmel ist nicht verzehrender, nicht rascher als jenes, das mich im Augenblick in lichte Flammen setzte. Mein ganzes Ich floß in Einen Punkt zusammen bei dieser himmlischen Berührung. Die Glut strömte mit unsern Seufzern von den brennenden Lippen, und mein Herz war erdrückt von Wollust . . . . da sah ich dich plötzlich erbleichen, deine schönen Augen schließen, dich auf deine Cousine stützen und in Ohnmacht sinken. So löschte der Schreck die Lust aus und mein Glück war nur ein Blitz.
Kaum weiß ich, wie mir seit jenem verhängnißvollen Augenblick geschehen ist. Der tiefe Eindruck, den er mir hinterlassen hat, ist unverlöschlich. Eine Gunst! . . . . o grausame Qual . . .  Nein, behalte deine Küsse; ich kann nicht ertragen . . . . sie sind zu scharf, zu durchdringend; sie durchbohren, sie brennen bis ins Mark . . . sie würden mich zur Raserei bringen. Ein einziger, ein einziger schon hat mich in ein Irresein gestürzt, von dem ich nicht wieder zu mir kommen kann. Ich bin nicht mehr der Nämliche, du scheinst mir nicht die Nämliche mehr. Ich sehe dich nicht mehr wie sonst verweisend und strenge vor mir; sondern ich fühle und fasse dich unaufhörlich an meinen Busen geschmiegt, wie du einen Augenblick warst. O Julie, welches Schicksal mir das tobende Gefühl, das ich nicht mehr bemeistern kann, ankündige, welche Behandlung deine Strenge mir bestimme, ich kann nicht mehr in dem Zustand leben, in welchem ich bin, und ich fühle, daß ich endlich zu deinen Füßen meinen Geist aushauchen muß . . . . . oder in deinen Armen.

Erste Abtheilung 14. Brief (An Julie)
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Ich habe Ihr Geschenk angenommen, ich bin abgereist, ohne Sie zu sehen, nun bin ich schon weit von Ihnen: hat nun Ihre Tyrannei genug, und habe ich meinen Gehorsam hinlänglich bewiesen?
Ich kann Ihnen von meiner Reise nichts sagen; kaum weiß ich, wie ich sie gemacht habe. Ich habe drei Tage gebraucht, um zwanzig Lieues zurückzulegen; jeder Schritt, der mich von Ihnen entfernte, trennte meinen Leib von meiner Seele und gab mir einen Vorschmack des Todes. (...)
Ich habe in mein Exil nur den kleinsten Theil meines Selbst mitgeschleppt: was von Leben in mir ist, das wohnt unaufhörlich dort bei Ihnen. Ungestraft schweift es über Ihre Augen, Ihre Lippen, Ihren Busen, alle Ihre Reize hin, dringt überall ein, wie ein feiner Aether, und ich bin Ihnen zum Trotz glücklicher, als ich je mit Ihrem Willen war.

Erste Abtheilung 18. Brief (An Julie)
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O meine Julie, wie viele unvorhergesehene Ereignisse können nicht in acht Tagen die süßesten Bande von der Welt auf ewig zerreißen! Ich denke mit Zittern, daß es für mich nur ein einziges Mittel giebt, glücklich zu sein, und Millionen, elend zu werden. Julie, hätten Sie mich schon vergessen? Ach, das ist die schrecklichste meiner Befürchtungen! Ich kann meine Standhaftigkeit auf jedes andere Unglück gefaßt machen, aber alle Kräfte meiner Seele verlassen mich bei dem bloßen Gedanken an diese eine Möglichkeit. (...)
Hundert Mal habe ich bei Romanen über die frostigen Klagen getrennter Liebenden gelacht. Ach, ich wußte damals nicht, wie unerträglich mir eines Tages die Trennung von Ihnen sein würde. Ich fühle jetzt, wie wenig eine ruhige Seele geeignet ist, über Leidenschaften zu urtheilen, und wie unsinnig es ist, über Gefühle zu lachen, die man nicht erfahren hat.

Erste Abtheilung 19. Brief (An Julie)
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Und was für Belehrung, unvergleichliches Mädchen, wolltest du denn in meinem trübseligen, eiteln Wissen schöpfen? Ach! Von Ihnen, Julie, muß man lernen, was nur Gutes, Edles in ein menschliches Herz kommen kann, und vor Allem dieses himmlische Beisammensein von Tugend, Liebe und Natürlichkeit, das sich so noch nirgend wie in Ihnen fand. Nein, es giebt keine gesunde Liebesregung, die nicht in Ihrem Herzen eine Statt hätte, die sich in ihm nicht durch die Zartheit auszeichnete, welche Ihnen eigen ist, und wenn ich mein eigenes Herz auf den rechten Weg leiten will, so sehe ich wohl, ich muß, wie ich alle meine Handlungen Ihrem Willen unterworfen habe, so auch alle meine Gefühle den Ihrigen unterthänig machen.

Erste Abtheilung 21. Brief (An Julie)
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Wenn ich froh bin, so ist es mir unmöglich, allein zu genießen, und damit Sie meine Lust theilen, zaubere ich Sie mir dahin, wo ich bin. So ist es mir auf dieser ganzen Wanderung ergangen; weil mich die Abwechslung der Gegenstände unaufhörlich an mich selbst erinnerte, so nahm ich sie überall mit hin. Ich that nicht einen Schritt, den wir nicht mit einander thaten; ich bewunderte keine einzige Aussicht, ohne sie geschwind Ihnen zu zeigen. Alle Bäume, denen ich begegnete, gaben Ihnen Schatten; jeder Rasen diente Ihnen zum Sitze. Bald an Ihrer Seite betrachtete ich mit Ihnen die Gegenstände umher; bald zu Ihren Füßen betrachtete ich einen der Blicke eines gefühlvollen Menschen würdigeren Gegenstand. Kam ich auf einen schwierigen Pfad, so sah ich Sie darüber hinhüpfen mit der Leichtigkeit eines Rehs, das neben seiner Mutter herläuft. Mußte ich durch einen Gießbach, so erkühnte ich mich, mit meinen Armen die so süße Last zu umschließen; ich ging langsam, langsam durch das Wasser, wonnevoll, und sah mit Trauer, daß wir schon am Ufer waren. Alles erinnerte mich an Sie in diesen stillen, friedlichen Gegenden, und die ergreifenden Schönheiten der Natur, die unwandelbare Reinheit der Luft, die einfachen Sitten der Bewohner, ihr gleichmäßiges, verständiges und festes Wesen, die liebenswürdige Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechts, seine unschuldvolle Anmuth und Alles, was angenehm meine Augen und mein Herz berührte, Alles malte ihnen nur Die ab, die sie beständig suchen.
O meine Julie!  rief ich gerührt aus, warum kann ich nicht meine Tage mit dir an dieser unbekannten Stätte hinbringen, beglückt durch unsere Glückseligkeit und nicht durch die Aufmerksamkeit der Menschen! Warum kann ich nicht hier meine ganze Seele auf dich allein sammeln und auch dir dein Alles sein! Angebetete Reize, dann, dann würdet ihr der Huldigungen genießen, deren ihr würdig seid! Liebeswonne, ohne Ende würden dich unsere Herzen schlürfen! In langer süßer Trunkenheit würden wir der Flucht der Jahre vergessen; und wenn endlich das Alter unsere erste Glut gemildert hätte, würde die Gewohnheit, mit einander zu denken und zu empfinden, an die Stelle ihres Dranges eine nicht minder zärtliche Freundschaft setzen. Alle edeln Gefühle, in der Jugend mit denen der Liebe zugleich genährt würde einst die unendliche Leere ausfüllen; wir würden im Schoße dieses glücklichen Volkes und nach seinem Beispiel alle Pflichten der Menschlichkeit erfüllen; unablässig würden wir unsere Kräfte vereinigen, Gutes zu thun, und würden nicht sterben, ohne gelebt zu haben.
Die Post kommt an; ich muß meinen Brief schließen und nach dem Ihrigen laufen. Wie schlägt mir das Herz, bis ich ihn habe! Ach! ich war so glücklich in meinen Träumen; das Glück flieht mit ihnen; was wird in der Wirklichkeit aus mir werden?

Erste Abtheilung 23. Brief (An Julie)
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Als Ihnen die Briefe von Heloise und Abälard in die Hände fielen, Sie erinnern sich, was ich Ihnen über das Lesen derselben und über die Aufführung des Theologen sagte. Ich habe Heloise stets beklagt; sie hatte ein Herz, das für die Liebe geschaffen war; aber Abälard ist mir immer nur wie ein Elender erschienen, der sein Schicksal verdient hat und so wenig die Liebe als die Tugend kannte. Nachdem ich so über ihn geurtheilt, soll ich ihn nachahmen? Wehe Dem, der eine Moral predigt, die er nicht selbst befolgen will! Der, welchen seine Leidenschaft bis zu diesem Punkte verblendet, wird bald in ihr selbst seine Strafe und an den Gefühlen kein Gefallen mehr finden, denen er seine Ehre geopfert hat. Die Liebe ist ihres größten Reizes beraubt, wenn sie aufhört ehrenwerth zu sein: um ihren ganzen Werth zu fühlen, muß sich das Herz in ihr gefallen, und muß uns erheben, indem es den geliebten Gegenstand erhebt. Nehmen Sie das Ideal der Vollkommenheit hinweg, und Sie nehmen alle Begeisterung hinweg; nehmen Sie die Achtung hinweg, und die Liebe ist nichts mehr. Wie könnte eine Frau einen Mann ehren, der sich selbst entehrt? Wie wird er selber Die anbeten können, die keine Scheu getragen hat, sich einem gemeinen Verführer hinzugeben? Sie werden sich also bald gegenseitig verachten; die Liebe wird für sie nichts mehr als ein schändlicher Umgang sein; sie werden die Ehre verloren und nicht das Glück gefunden haben.
So steht es nicht, meine Julie, zwischen zwei Liebenden von gleichem Alter, die beide von derselben Flamme ergriffen sind, die eine gegenseitige Anhängigkeit an einander schließt, die keine anderwertige Fessel bindet, die beide ihrer ursprünglichen Freiheit genießen, und denen kein Recht es verwehrt, einander anzugehören. Die strengsten Gesetze können diesen keine andere Strafe auferlegen als den Preis ihrer Liebe selbst; die einzige Strafe dafür, daß sie sich geliebt haben, ist die Pflicht, sich ewig zu lieben; und wenn es solche unglückselige Himmelsstriche auf der Welt giebt, wo der barbarische Mensch solche Bande der Unschuld zerbricht, so findet er ohne Zweifel seine Strafe in den Verbrechen, welche diese Gewaltthat ausgebiert.

Erste Abtheilung 24. Brief (An Julie)
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Nein, erkennen Sie es endlich, o meine Julie! ein ewiger Beschluß des Himmels hat uns für einander bestimmt; dies ist das vornehmste Gesetz, dem man gehorchen muß; dies die vornehmste Sorge des Lebens, sich demjenigen Wesen zu verbinden, welches es uns versüßen soll.

Erste Abtheilung 26. Brief (An Julie)
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Wie demüthigt mich, wie erniedrigt mich deine Reue! Ich bin also recht verächtlicher Mensch, daß unsere Vereinigung dich dir selbst verächtlich macht, und daß die Wonne meines Lebens die Marter des deinigen ist! Sei gerechter gegen dich, meine Julie! sieh mit weniger befangenem Auge die geheiligten Bande an, welche dein Herz geknüpft hat. Bist du nicht den reinsten Gesetzen der Natur gefolgt? Hast du nicht freiwillig das heiligste Bündniß geschlossen? Was hast du gethan, das nicht die göttlichen und menschlichen Gesetze gutheißen könnten und müßten? Was fehlt dem Bande, das uns vereint, als eine öffentliche Erklärung? Wolle mein sein, und du bist nicht weiter strafbar. O meine Gattin! meine würdige, keusche Gefährtin! O Wonne und Glück meines Lebens! Nein, nicht das, was deine Liebe gethan hat, kann ein Verbrechen sein, sondern was du ihr rauben möchtest: nur wenn du jetzt einen anderen Gatten annimmst, kannst du die Ehre beleidigen. Gehöre auf ewig dem Freunde deines Herzens, um unschuldig zu sein. Das Band, das uns bindet, ist rechtmäßig, nur die Untreue, welche es zerrisse, wäre zu tadeln, und der Liebe gebührt es fortan, Bürge der Tugend zu sein.

Erste Abtheilung 31. Brief (An Julie)
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Ach! mein Freund, was für eine schlechte Zuflucht ist doch für zwei Liebende eine Assemblée! Welche Qual, sich zu sehen und sich Zwang anzuthun! es wäre hundertmal besser, sich gar nicht zu sehen. Wie soll man eine ruhige Miene haben bei so großen Aufregung? Wie soll man so verschieden von sich selbst sein? Wie an so vielerlei Dinge denken, wenn man immer nur mit einem beschäftigt ist? Wie Blick und Geberde im Zügel halten, wenn das Herz davonfliegt? Ich habe mich in meinem Leben nicht so verwirrt gefühlt, als gestern, da du bei Frau von Hervart angemeldet wurdest. (...)
Laß uns, o laß uns wieder das einsame, stille Leben suchen, aus dem ich dich leider gerissen habe. Dieses Leben war es, das unsre Liebe geweckt und genährt hat; sie könnte bei einem zerstreuteren Leben wohl leicht ermatten. Mächtige Leidenschaften bilden sich immer in der Einsamkeit; man findet ihre Gleichen nicht in der großen Welt, wo keinem Gegenstande Zeit gelassen ist, einen tiefen Eindruck zu machen, und wo der bunte Wechsel des Gefälligen die Kraft der Gefühle abstumpft.

Erste Abtheilung 33. Brief (Von Julie)
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Nein, niemals sollt ihr sehen,
Die Lieb' in mir sich wandeln,
Ihr Augen, die mich lehrtet
Seufzen vor Liebesweh.
Wie gut muß ich ihr sein, der hübschen Madame Belon, für das Vergnügen, das sie mir verschafft hat! Verzeih es mir, göttliche Julie, ich unterstand mich, deiner zärtlichen Unruhe einen Augenblick lang zu genießen, und dieser Augenblick war einer der süßesten meines Lebens. Wie allerliebst waren sie, diese besorgten und forschenden Blicke, die sich verstohlen auf uns richteten und im Augenblicke wieder senkten, um die meinigen zu vermeiden! Was that da dein glücklicher Geliebter? Unterhielt er sich mit Madame Belon? Ach, meine Julie, kannst du es glauben? Nein, nein, unvergleichliches Mädchen, er war würdiger beschäftigt. In welchem Zauber folgte sein Herz den Regungen des deinen! mit welcher gierigen Ungeduld verschlangen seine Augen deine Reize! Deine Liebe, deine Schönheit erfüllten, entzückten seine Seele; sie konnte kaum so viele köstliche Gefühle fassen. Nur das Eine beklagte ich, daß ich auf Kosten meiner Heißgeliebten ein Vergnügen genoß, das sie nicht theilte. Weiß ich, was mir während dieser ganzen Zeit Madame Belon sagte? Weiß ich, was ich ihr antwortete? Wußte ich es während unserer Unterhaltung? Hat sie es selbst wissen können? Und konnte sie das Mindeste begreifen von den Reden eines Mannes, der sprach, ohne zu denken, und antwortete, ohne zu hören?
"Gleich Dem, der thut, als hört' er, und nicht hinhört!"
Auch hat sie eine gründliche Verachtung für mich gewonnen. Sie hat aller Welt gesagt, auch dir vielleicht, daß ich keinen gesunden Menschenverstand hätte, und was noch schlimmer ist, nicht einen Funken Geist und daß ich ganz ebenso abgeschmackt wäre wie die Bücher, die ich studiere. Was kümmert's mich, was sie über mich sagt und denkt? Ist nicht meine Julie die einzige Richterin über Alles, und Alles, was ich gelten möchte? Möge die übrige Welt von mir denken, was ihr gut dünkt, mein ganzer Werth liegt in deiner Achtung. (...)
Wie? Vierzehn ganze Tage hinbringen einander so nah, ohne sich zu sehen und ohne sich ein Wort zu sagen! Ach, was denkst du, was soll ein von Liebe verzehrtes Herz so viele Jahrhunderte über beginnen? Weit hinweg sein wäre wahrlich weniger hart. Was nützt eine übertriebene Vorsicht, die uns größeres Weh zufügt, als sie verhütet? Was frommt es, das Leben zu verlängern in seiner Marter? Wäre es nicht hundertmal besser, sich einen Augenblick lang zu sehen und dann zu sterben?

Erste Abtheilung 34. Brief (An Julie)
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Nein, Julie, keinen Tag ist es möglich, dich nur wieder so, wie den vorigen zu erblicken: meine Liebe muß unaufhörlich zunehmen und wachsen mit deinen Reizen und du bist mir ein unversieglicher Quell von neuen Gefühlen, die ich nie geahnt hätte. Welch ein wundervoller Abend! Was für unbekannte Wonnen gabst du meinem Herzen zu genießen! O zauberische Schwermuth! Weichheit einer schmachtenden Seele! Wie weit übertreffet ihr die lärmende Freude, das laute Gelächter, die ausgelassene Fröhlichkeit und allen Rausch, den Glut ohne Maß den ungezügelten Begierden darbietet! Stiller, seliger Genuß, der nicht seines Gleichen in der Lust der Sinne hat, nie, nie wird dein tief ergreifendes Andenken aus meinem Herzen sich verwischen! Götter! welch hinreißendes Schauspiel, oder vielmehr welch ein Himmel, zwei so rührende Schönheiten in zärtlicher Umarmung zu sehen, das Gesicht der einen auf den Busen der andern geneigt, ihre süßen Thränen sich vermischend und diesen reizenden Busen badend, wie der Thau vom Himmel eine frisch verschlossene Lilie benetzt! Sie machte mich eifersüchtig, diese so zärtliche Freundschaft; ich fand darin ein Etwas, das noch mehr reizt als die Liebe selbst, und es war mir eine Art Weh, daß ich dir nicht so lieben Trost bieten kann, den ich nicht durch die Heftigkeit meiner Empfindungen trübte. Nein, nichts, nichts auf Erden ist fähig, eine so süße Rührung zu wecken, als eure gegenseitigen Liebkosungen; und das Schauspiel zweier Liebenden hätte meinen Augen kein so köstliches Bild darbieten können.
Ach! wie verliebt würde ich in diesem Augenblick in die liebenswürdige Cousine gewesen sein, wenn nicht Julie wäre! Aber nein, es war Julie selbst, die ihren unbesieglichen Reiz über Alles verbreitete, was sie umgab. Dein Kleid, dein Putz, deine Handschuh, dein Fächer, deine Arbeit, Alles, was von deiner Umgebung meine Blicke traf, bezauberte mein Herz und du allein machtest den ganzen Zauber. Halt inne, süße Freundin! wenn du meine Trunkenheit noch steigertest, so würdest du mir das Vergnügen rauben, sie zu empfinden. Was du mich fühlen lässest, grenzt nahe an echten Wahnsinn, und ich fürchte, die Vernunft noch wirklich zu verlieren. Laß mir wenigstens das Gefühl eines Irrseins, das mich glücklich macht; laß mich diese neue Begeisterung trinken, die erhabener ist und flammender als Alles, was ich mir je von der Liebe gedacht habe. Wie? du kannst dich für erniedrigt halten? Wie? Raubt die Leidenschaft auch dir den Verstand? Ich, ich finde dich zu vollkommen für ein sterbliches Geschöpf. Ich würde dich für ein Wesen reinerer Art halten, wenn nicht dieses verzehrende Feuer, das mein Sein durchströmt, es mit dem deinigen vereinigte und mich fühlen ließe, daß sie Eins sind. Nein, Niemand auf der Welt kennt dich; du kennst dich selbst nicht; mein Herz allein kennt dich, fühlt dich und weiß dich an deine Stelle zu setzen. Meine Julie! ach! was für Huldigung entginge dir, wenn du blos angebetet würdest! Ach! wenn du nichts als ein Engel wärst, wie viel von deinem Werthe wäre verloren! (...)
Ich finde das Feld lachender, das Grün frischer und lebendiger, die Luft reiner, den Himmel heiterer; der Gesang der Vögel scheint mir zärtlicher und lieblicher; das Murmeln der Bäche weckt ein sehnlicheres Schmachten; der blühende Wein süßere Düfte in die Ferne; ein geheimer Zauber verschönt entweder alle Gegenstände oder hat meine Sinne bestochen; man sollte meinen, die Erde schmücke sich, um deinem glücklichen Geliebten ein Hochzeitbett zu bereiten, würdig der Schönheit, welche er anbetet, und der Flamme, die ihn verzehrt. O Julie! o theure, kostbare Hälfte meiner Seele! eilen wir, all dieser Zierde des Lenzes die Gegenwart zweier treuen Liebenden hinzuzufügen! Laß uns die Empfindung der Lust dahin tragen, wo von ihr nur das hohle Bild ist, laß sie uns beleben, die Natur, die ganz und gar todt ist ohne das Feuer der Liebe. Wie? Drei Tage warten? Drei Tage noch? Trunken von Liebe, dürstend nach Lust erwarte ich den langsam daherschleichenden Augenblick mit schmerzlicher Ungeduld. Ach, wie glücklich wäre man, wenn der Himmel aus dem Leben alle tödtlichlange Pausen nähme, welche solche Augenblicke von einander trennen!

Erste Abtheilung 38. Brief (An Julie)
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O, wie sind die Vorspiegelungen der Liebe so lieblich! ihre Schmeicheleien sind in gewissem Sinne Wahrheiten; das Urtheil schweigt darin, aber es spricht das Herz. Der Liebhaber, der Vollkommenheiten an uns lobt, die wir nicht besitzen, sieht sie in der That so, wie er sie vorstellt; er lügt nicht, indem er Lügen sagt; er schmeichelt, ohne sich zu erniedrigen, und man kann ihn hochschätzen, ohne daß man ihm zu glauben braucht.

Erste Abtheilung 46. Brief (Von Julie)
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Täuschen Sie sich hierin nicht, mein Freund, nichts ist so gefährlich für wahrhaft Liebende, als die Vorurtheile der Welt; so viele Leute sprechen von Liebe, und so wenige wissen zu lieben, daß die meisten deren reine, sanfte Gesetze mit den gemeinen Grundsätzen eines verworfenen Umgangs verwechseln, der, bald von sich selbst gesättigt, zu Ungeheuern der Einbildungskraft seine Zuflucht nimmt, und sich gemein macht, um sich zu behaupten.
Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber es scheint mir, daß die wahre Liebe das keuscheste aller Bande ist. Sie ist es, ihr himmlisches Feuer ist es, das unsere Triebe läutern kann, indem es sie gesammelt auf einen einzigen Gegenstand richtet; sie ist es, die uns den Versuchungen entzieht und beweist, daß, diesen einen Gegenstand ausgenommen, das eine Geschlecht nichts mehr für das andere ist. Für eine gewöhnliche Frau ist jeder Mann immer ein Mann; aber für die, deren Herz liebt, giebt es keinen Mann außer ihrem Geliebten. Was sage ich! Ist ein Geliebter nichts weiter als ein Mann? Ach! er ist ein weit erhabeneres Wesen! Es giebt keinen Mann für Die, welche liebt: ihr Geliebter ist mehr, alle Anderen sind weniger; sie und er sind die einzigen ihrer Gattung. Sie haben nicht Begierden, sie lieben. Das Herz folgt nicht den Sinnen, es leitet sie; es bedeckt ihre Abirrungen mit einem köstlichen Schleier. Nein, nichts ist schmutzig, als die Liederlichkeit und ihre gemeine Sprache. Die wahre Liebe, stets bescheiden, reißt keine Gunstbezeigung frech an sich; sie stiehlt sie mit Schüchternheit, Geheimniß, Schweigen, furchtsame Scham steigern und verhüllen ihren süßen Rausch. Ihre Flamme ehrt und reinigt alle ihre Liebkosungen; Anstand und Schicklichkeit begleiten sie im Schooße der Lust selbst und sie allein weiß den Begierden Alles zu bewilligen, ohne der Schamhaftigkeit etwas zu entziehen. Ha, sagen Sie, der Sie die wahren Freuden kannten, wie könnte sich mit ihnen cynische Frechheit gatten? wie sollte ihnen diese nicht ihre Täuschung und allen ihren Reiz rauben? Wie sollte sie nicht das Bild von Vollkommenheit besudeln, unter welchem man sich so gern den geliebten Gegenstand denkt? Glauben Sie mir, mein Freund, Liederlichkeit und Liebe können nicht zusammenwohnen, können sich nicht einmal mit einander abfinden. Das Herz macht das wahre Glück, wenn man sich liebt, und nichts kann dieses ersetzen, sobald man sich nicht mehr liebt.

Erste Abtheilung 50. Brief (Von Julie)
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O, wie sehe ich jetzt dein Herz schlagen, wie lese ich deinen Jubel darin, und wie theile ich ihn! Nein, mein süßer Freund, nein, wir werden nicht dieses kurze Leben verlassen, ohne einen Augenblick des Glückes geschmeckt zu haben; aber denke doch daran, daß dieser Augenblick von den Schrecken des Todes umringt ist; daß der Zugang tausend Zufällen unterworfen, das Weilen mißlich und der Rückzug furchtbar gefährlich ist; daß wir verloren sind, wenn man uns entdeckt, und daß uns Alles begünstigen muß, wenn dies nicht der Fall sein soll. Täuschen wir uns nicht: ich kenne meinen Vater zu gut, um zu zweifeln, daß ich nicht im Augenblick dein Herz von seiner Hand durchbohrt sehen würde, wenn er nicht sogar mit mir den Anfang machte; denn sicher würde ich auch nicht geschont werden: und glaubst du, daß ich dich dieser Gefahr aussetzen würde, wenn ich nicht gewiß wäre, sie zu theilen?
Denke auch daran, daß nicht davon die Rede ist, dich auf deinen Muth zu verlassen; davon kein Gedanke! ich verbiete dir sogar aufs Ausdrücklichste, irgend eine Waffe zur Vertheidigung mitzubringen, nicht einmal deinen Degen: er würde dir auch durchaus unnütz sein, denn wenn wir überrascht werden, so ist meine Absicht, mich in deine Arme zu stürzen, dich fest mit den meinigen zu umschließen und so den tödtlichen Stoß zu empfangen, um mich nie mehr von dir trennen zu müssen, glücklicher in meinem Tode, als ich es in meinem Leben war.
Ich hoffe, daß unser ein milderes Geschick wartet; ich fühle wenigstens, daß es uns geschuldet wird, und das Glück wird endlich müde sein, uns ungerecht zu behandeln. Komm also, Seele meines Herzens, Leben meines Lebens, komm, dich mit deinem Selbst zu vereinigen; komm, unter dem Schirme der zärtlichen Liebe, den Lohn deines Gehorsams und deiner Opfer zu empfangen; komm, zu gestehen, selbst im Schooße der Lust, daß die Gemeinschaft der Herzen es ist, aus der sie ihren größten Reiz nimmt.

Erste Abtheilung 53. Brief (Von Julie)
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Die Aufregung, in welcher ich hergekommen bin, wächst mit dem Eintritt in diese Stätte. Julie! hier bin ich in deinem Cabinet, hier in dem Heiligthum der Gottheit meines Herzens. Amors Fackel leitet meine Schritte, und ich bin hereingekommen, ohne bemerkt zu werden. Reizender Ort, glückseliger Ort, der ehedem so viel zärtliche Blicke zurückdrängen, so viele heiße Seufzer ersticken sah; Ort, der du meine erste Glut entstehen und wachsen sahest, zum zweiten Male wirst du sie gekrönt sehen; Zeuge meiner ewigen Beständigkeit, sei Zeuge meines Glückes und verhülle auf ewig die Freuden des treuesten und glücklichsten der Menschen.
Wie ist dieser geheimnißvolle Aufenthalt so reizend! Alles liebkost hier und nährt die Glut, die mich verzehrt. O Julie, er ist voll von dir, und die Flamme meiner Begierde erfaßt Alles, was deine Spur in sich trägt. Ja, alle meine Sinne sind zugleich berauscht. Ein unbeschreiblicher, kaum spürbarer Duft, süßer als von Rosen und leiser als von Iris steigt überall auf; ich glaube darin den schmeichelnden Ton deiner Stimme zu hören. Alle Theile deiner Kleidung, die umherliegen, stellen meiner glühenden Einbildungskraft die Theile deines Selbst vor, denen sie zur Hülle dienen. Dieser leichte Kopfputz, dem die reichen blonden Locken zur Zierde gereichen, die er zu verbergen vorgiebt; dieses gllückliche Busentuch, über welches einmal endlich ich nicht zu murren haben werde; dieses Nachtkleid, einfach und geschmackvoll, das so schön den Sinn deren anzeigt, die es zeigt; diese niedlichen Pantoffeln. die ein geschmeidiger Fuß mühelos ausfüllt; diese lose Leibchen, das sich anschmiegt und umfängt . . . . o welche bezaubernde Taille! . . . . vorn zwei leichte Contoure . . . . o wollüstiges Schauspiel! . . . . das Fischbein hat der Kraft des Druckes nachgegeben . . . . köstliche Eindrücke, wie küsse ich euch tausendmal! Götter, Götter! wie wird das sein, wann erst . . . . Ach, ich glaube es schon zu fühlen, wie es unter einer glücklichen Hand pocht, dieses zärtliche Herz! Julie! meine liebste, liebste Julie! ich sehe dich, ich fühle dich überall, ich athme dich mit der Luft, die du geathmet hast; du durchdringst mein ganzes Wesen. Wie ist dein Aufenthalt brennend und schmerzlich für mich! er ist fürchterlich für meine Ungeduld. O, komm, fliege, oder ich bin verloren!
Welches Glück, daß ich Tinte und Papier fand! Ich drücke aus, was ich empfinde, um das Uebermaß des Gefühls zu dämpfen, ich täusche meine Entzückungen, indem ich sie beschreibe.
Ich glaube Geräusch zu hören: wäre es dein barbarischer Vater? Ich glaube nicht feige zu sein . . .  aber in diesem Augenblick wäre mir der Tod schrecklich! meine Verzweiflung würde dem Feuer gleichen, das mich verzehrt. Himmel, um eine Stunde Leben flehe ich noch und ich gebe den Rest meines Daseins deiner Strenge preis. O Sehnsucht! o Furcht! o grausames Herzpochen! . . . . die Thüre geht . . .  es kommt Jemand . .  . sie ist's, sie ist's! ich lausche, ich habe sie gesehen, ich höre die Thüre schließen. Herz, schwaches Herz, erliege nicht; ach, suche Kraft, die Wonne zu ertragen, die dich zermalmt.

Erste Abtheilung 54. Brief (An Julie)
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O, laß uns sterben, meine süße Freundin! laß uns sterben, Geliebte meines Herzens! Was hinfort beginnen mit einer unschmackhaften Jugend, deren Wonne wir ganz erschöpft haben? Erkläre mir, wenn da kannst, was ich in dieser unbegreiflichen Nacht gefühlt habe; gieb mir den Begriff eines so verfließenden Lebens, oder laß mich aus demjenigen scheiden, welches nichts mehr von dem hat, was ich mit dir erfahren habe. Ich hatte die Freude geschmeckt und glaubte das Glück zu begreifen. Ach, ich hatte nur einen leeren Traum empfunden, und stellte mir nur ein kindisches Glück vor. Meine Sinne führten meine grobe Seele irre; ich suchte nur in ihnen das höchste Glück, und ich habe gefunden, daß ihre erschöpften Freuden erst der Anfang der meinigen waren. O einziges Meisterstück der Natur! göttliche Julie! köstlicher Besitz, für welchen alle Entzückungen der heißesten Liebe kaum genug sind! nein, es sind nicht diese Entzückungen, deren Entschwinden ich am meisten beklage, o nein, entziehe sie mir, wenn es sein muß, diese berauschenden Gunstbezeigungen, für welche ich tausend Leben hingeben würde; aber gieb mir alles das wieder, was nicht sie ist, was sie tausendmal in Schatten stellte. Gieb mir wieder diese enge Vereinigung der Seelen, die du mir verkündigt hattest, die du mir so ganz zu schmecken gabst; gieb mir wieder diese süße Ermattung, deren Frist die Ergießungen unserer Herzen ausfüllen; gieb mir wieder diesen bezaubernden Schlummer, den ich an deinem Busen fand; gieb mir wieder dieses noch köstlichere Erwachen und diese abgebrochenen Seufzer, und diese süßen Thränen, und dies Küsse, die wir in wollüstigem Schmachten langsam einsogen, und dieses Stöhnen der Zärtlichkeit, bei welchem du an dein Herz dieses zur Vereinigung mit dir geschaffene Herz drücktest.
Sage, Julie, die du nach deinem eigenen Fühlen das des Anderen so gut beurtheilen kannst, glaubst du, daß das, was ich zuvor fühlte, wirklich Liebe war? Meine Gefühle, zweifle nicht daran, sind seitdem verwandelt; sie haben etwas minder Ungestümes angenommen, aber etwas Süßeres, Zärtlicheres, Lieblicheres. Gedenkst du dieser ganzen Stunde, die wir damit hinbrachten, still von unserer Liebe zu sprechen und von dieser dunkeln, furchbaren Zukunft, deren Gedanke uns die Gegenwart noch mehr zum Gefühle brachte, dieser, ach, zu kurzen Stunde, in der ein leichter Anflug von Schwermuth unser Gespräche so rührend machte? Ich war ruhig, und doch war ich bei dir; ich betete dich an und hatte keine Begierde; ich konnte mir gar kein anderes Glück denken, als so dein Gesicht an dem meinigen zu fühlen, deinen Athem auf meiner Wange und deinen Arm um meinen Hals. Welche Stille in allen meinen Sinnen! welche reine, dauernde Lust durch mein ganzes Wesen! In der Seele war der Zauber des Genusses, er wich nicht von ihr, er war ewig. Welch ein Abstich von der Raserei der Liebe zu diesem friedlichen Zustande! Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ihn bei dir empfunden habe; und doch, denke, welche Verwandlung in mir vorgegangen, es ist von allen Stunden meines Lebens die, welche mir die liebste ist, die einzige, der ich ewige Dauer gewünscht hätte. Julie, sage mir doch, ob ich dich denn zuvor nicht geliebt habe, oder ob ich jetzt dich nicht mehr liebe.
Ob ich dich nicht mehr liebe? Ist das ein Zweifel? Habe ich denn aufgehört zu sein? und ist nicht mein Leben mehr in deinem Herzen als in dem meinigen? Ich fühle, ich fühle, daß du mir tausendmal lieber bist denn je, und ich habe in meiner Ermattung neue Kräfte gefunden, um dich nur immer noch zärtlicher zu lieben. Ich habe Gefühle für dich gewonnen, die friedlicher sind, ja, aber auch liebevoller, und noch dazu von mannigfaltiger Art: ohne schwächer zu werden, haben sie sich vervielfältigt: das Süße der Freundschaft mäßigt die Glut der Liebe, und ich kann mir kaum eine Art der innigen Vereinigung denken, in der ich nicht mit dir verbunden wäre.
O meine reizende Geliebte! o mein Weib, meine Schwester, meine süße Freundin! wie wenig drücke ich aus, was ich fühle, wenn ich auch Alles nenne, was dem Menschenherzen das Theuerste ist!
Ich muß dir einen Argwohn gestehen, den ich in der Scham und Demüthigung meiner selbst gegen mich gefaßt habe; nämlich, daß du besser lieben kannst als ich. Ja, meine Julie, wohl bist du mein Leben und mein Sein, wohl bete ich dich an mit allen Kräften meiner Seele, aber die deinige ist liebereicher, die Liebe hat sie tiefer durchdrungen; man sieht es, man fühlt es, sie ist es, die deine Anmuth beseelt, die in deinen Reden herrscht, die deinen Augen diese eindringende Sanftheit, deine Stimme diesen so rührenden Klang giebt; sie ist es, die, wo du nur weilst, den Herzen der Anderen, ohne daß sie es merken, die zärtliche Erregung des deinigen mittheilt. Wie weit bin ich entfernt von diesem reizenden Zustande, der sich selbst genügt! Ich will genießen und du willst lieben; ich habe Gluten und du Leidenschaft; alle meine Wallungen wiegen nicht dein köstliches Schmachten auf, und das Gefühl, das dein Herz nährt, allein ist die höchste Seligkeit. Erst seit gestern habe ich diese reine Wollust gekostet. Du hast etwas von dem unbegreiflichen Zauber, der in dir ist, in mich übergehen lassen, und ich glaube, du hast mit deinem süßen Athem mir eine neue Seele eingehaucht. Eile, ich beschwöre dich, dein Werk zu vollenden. Nimm von der meinigen Alles, was noch von ihr übrig ist, und setze dir deinige an ihre Stelle. Nein, Engelsschönheit, himmlische Seele; nur ein Gefühl dem deinigen gleich kann deine Reize würdig ehren; du allein bist werth, vollkommne Liebe einzuflößen, du allein fähig, sie zu fühlen. Ach, senke in mich dein Herz, meine Julie, damit ich dich liebe, wie du es verdienst.


Erste Abtheilung 55. Brief (An Julie)
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Du kommst doch morgen? Nie hatte ich ein solches Bedürfniß, dich zu sehen, und nie so wenig Hoffnung, dich noch lange zu sehen.
Lebe wohl, mein einzig lieber Freund. Du hast nicht recht gesagt, scheint mir: leben wir, um uns zu lieben; ach! es mußte heißen: lieben wir uns, um zu leben!

Erste Abtheilung 61. Brief (Von Julie)
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Ich habe die Feder hundertmal ergriffen und wieder weggeworfen, ich stocke beim ersten Worte, ich weiß nicht, wie ich den rechten Ton finden, weiß nicht womit ich anfangen soll. Und schreibe an Julie. Ach, ich Armer! Wohin ist es mit mir gekommen! Die Zeit ist also nicht mehr, wo tausend köstliche Gefühle meiner Feder wie ein unversieglicher Strom entquollen! Jene süßen Augenblicke der Hingebung, der Herzergießung sind dahin, wir gehören einander nicht mehr an, sind nicht mehr die Nämlichen, ich weiß nicht mehr, an wen ich schreibe. Werden Sie denn meine Briefe annehmen wollen? Werden Ihre Augen sie durchlaufen wollen? Werden sie Ihnen zurückhaltend genug und bedächtig genug scheinen? Darf ich in ihnen noch die alte vertrauliche Weise beibehalten? Darf ich noch von einer Liebe reden, die erloschen oder verschmäht ist? Und bin ich nicht weiter zurück als an dem ersten Tage, da ich Ihnen schrieb? Welcher Abstand, o Himmel, von jenen reizenden, süßen Tagen, zu diesem grauenvollen Elende! O Schmerz! ich fing an zu sein und ich bin in das Nichts zurückgeschleudert; die Hoffnung, zu leben, beseelte mein Herz, ich habe nichts mehr vor mir als das Bild des Todes; und mit diesem Zeitraume von drei Jahren ist der Glückskreis meiner Tage geschlossen. O warum habe ich ihnen nicht ein Ende gemacht, bevor ich mich selbst überlebte; warum bin ich nicht meinen Ahnungen gefolgt nach jenen kurzen Augenblicken der Wonne, da ich nichts mehr im Leben vor mir sah, was ihm noch ferner hätte Werth geben können! Ja gewiß, auf diese drei Jahre hätte es sich beschränken, oder sie selbst hätten seinen Lauf nicht unterbrechen müssen; es wäre besser gewesen, nie das Glück zu schmecken, als es zu schmecken, um es zu verlieren. Wenn ich diesen verhängnißvollen Zeitraum übersprungen hätte, wenn ich jenen ersten Blick vermieden hätte, der mir eine neue Seele schuf, so würde ich jetzt noch den Gebrauch meiner Vernunft haben, würde meine menschlichen Pflichten erfüllen, würde vielleicht mit mancher Tugend meinen kahlen Weg bestreuen. Ein Augenblick der Verirrung hat Alles geändert. Mein Auge wagte zu betrachten, was es nimmer hätte sehen sollen; dieses Anschauen hat zuletzt seine unausbleibliche Wirkung gehabt. Nachdem ich mich von Stufe zu Stufe mehr mir selbst entfremdet, bin ich jetzt nur noch ein Wüthender, ohne Besinnung, ein feiger Sklave ohne Kraft und Muth, der in Schmach seine Kette und seine Verzweiflung hinschleppt.
Eitele Ausgeburten eines wüst gewordenen Hirnes! trügerische Sehnsuchtsträume, die das Herz, das sie gebildet, im Augenblicke nachher verwirft! Was nutzt es, für wirkliche Leiden eingebildete Heilmittel auszudenken, die, wenn sie angeboten würden, verworfen werden müßten? Ach! Wer wird glauben, der die Liebe kennt und hat dich gesehen, daß noch ein Glück denkbar sei, welches ich um den Preis meiner ersten Gluten kaufen möchte? Nein, nimmer! Der Himmel behalte seine Wohlthaten und lasse mir mit meinem Elende das Gedächtniß meines vergangenen Glückes. Lieber, lieber die Freuden, die in meiner Rückerinnerung liegen, und dabei die Schmerzen, die mir die Seele zerreißen, als je ein Glück ohne meine Julie! Komm, angebetetes Bild, komm, fülle dieses Herz aus, das nur durch dich lebt; folge mir in meine Verbannung, tröste mich in meinem Jammer, entzünde wieder und ernähre die erloschene Hoffnung in meiner Brust. Ewig wird dieses unglückliche Herz dein Heiligthum sein, der unvergleichliche Schrein, aus welchem dich weder das Schicksal noch die Menschen jemals werden reißen können. Wenn ich dem Glücke abgestorben bin, nicht bin ich es der Liebe, die mich seiner wohl werth macht. Diese Liebe ist unüberwindlich wie der Zauber, welcher sie geschaffen hat; sie ruht auf dem unerschütterlichen Grunde des Verdienstes und der Tugend; sie kann nimmer vergehen in einer unsterblichen Seele; sie braucht die Stütze der Hoffnung nicht mehr und nimmt aus der Vergangenheit Kraft genug für eine ewige Zukunft.
Aber du, Julie, du, die du einst lieben konntest, wie hat es dein zärtliches Herz verlernt, zu leben? Wie hat das heilige Feuer erlöschen können in deiner Seele? Wie hat sich deine Lust an jenen himmlischen Freuden, die nur du allein zu fühlen und zu spenden fähig bist, verlieren können? Du jagst mich ohne Erbarmen weg, du schickst mich in schmähliche Verbannung, giebst mich meiner Verzweiflung preis; und siehst nicht, siehst nicht in dem Wahne, der dich verwirrt, daß du, indem du mich elend machst, dir das Glück deines Lebens raubst! Ach, Julie, glaube nur, du wirst vergebens ein zweites Herz dem deinigen befreundet suchen: tausend ohne Zweifel werden dich anbeten, lieben konnte dich nur meines allein.
Jetzt steh mir Rede, betrogene oder trügliche Geliebte, was ist geworden aus den Plänen, die du so geheim hieltst? wo sind sie hin, die eitelen Hoffnungen, mit denen du so oft meine leichtgläubige Einfalt kirrtest? Wo ist die geheiligte, die heißersehnte Verbindung, das süße Ziel so vieler heißen Seufzer, und womit deine Feder und dein Mund meinen Wünschen schmeichelte? Ach, ach! im Vertrauen auf deine Versprechungen war ich so kühn, den heiligen Namen Gattin auszusprechen, und dünkte mich schon den glücklichsten der Menschen. Sprich, Grausame, äfftest du mich nur deshalb so, damit mein Schmerz zuletzt desto heftiger und meine Demütigung desto tiefer würde? Wodurch habe ich mein Unglück verschuldet? Habe ich es an Gehorsam, an Willfährigkeit, an Bescheidenheit fehlen lassen? Sahst du mich etwa so schwächlich begehren, daß ich den Laufpaß verdiente, oder sahst du mich etwa meine stürmischen Begierden über deinen gebietenden Willen stellen? Ich that Alles nur dir zu gefallen, und du verlässest mich! Du nahmst mein Glück in deine Hut, und du hast mich ins Verderben gestoßen! Gieb Rechenschaft, Undankbare, von dem Pfande, das ich dir vertraut habe; Rechenschaft von meinem Ich, nachdem du mein Herz irregeführt mit dieser Seligkeit über alle Seligkeit, die du mir gezeigt hast und dann raubst. Euch, ihr Engel des Himmels, hätt' ich um eure Lust nicht beneidet, ich wäre das  glücklichste aller Geschöpfe gewesen . . . . O weh, und ich bin nichts mehr, ein Augenblick hat mir Alles genommen. Ich bin ohne Uebergang von dem Gipfel der Freude in ewiges Elend versunken: noch berühre ich das Glück, das mir entflieht . . . . berühre es noch und fort ist es auf ewig! . . . Ach wenn ich glauben dürfte, wenn die Ueberreste einer eitelen Hoffnung . . . . O ihr Felsen von Meillerie, die mein wirres Auge so oft maß, warum habt ihr nicht meiner Verzweiflung gedient? Ich hätte an dem Leben weniger verloren, hätte ich weniger seinen Werth empfunden gehabt.

Zweite Abtheilung 1. Brief (An Julie)
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Wie machen ungestüme Leidenschaften den Menschen kindisch! Wie leicht nährt sich eine tolle Liebe mit Chimären! Wie leicht ist es, heftige Begierden mit dem geringsten Tand zu äffen! Die Ankunft deines Briefes hat mich in ein Entzücken versetzt, als ob du selber angekommen wärest, und in meinem Jubel konnte ein Stück Papier mir dich ersetzen. Eines der größten Uebel, wenn man von einander entfernt ist, und wogegen keine Vernunft etwas ausrichtet, ist die Unruhe über das Ergehen der Geliebten. Ihre Gesundheit, ihr Leben, ihre Ruhe, ihre Liebe, Alles entweicht dem, der Alles zu verlieren fürchtet; man ist der Gegenwart nicht gewisser als der Zukunft und alle möglichen Zufälle verwirklichen sich unablässig im Geiste eines Liebenden, der sie fürchtet. Endlich athme ich auf, ich lebe wieder, du befindest dich wohl, du liebst mich. Oder vielmehr es ist zehn Tage her, daß dies Alles so war; wer steht mir aber für heute? O Abwesenheit! o Marter! o seltsam böser Zustand, wo man nur des vergangenen Augenblicks genießen kann und der gegenwärtige noch nicht ist! (...)
Ungeachtet meines langsamen Schreibens und der unvermeidlichen Zerstreuungen war meine Sammlung schon fertig, als dein Brief zu gutem Glücke ankam, um meine Arbeit zu verlängern, und ich bewundere, indem ich seine Kürze betrachte, wie Vieles mir dein Herz in so geringem Raume zu sagen gewußt hat. Nein, ich behaupte, daß es nichts Köstlicheres zu lesen giebt, für Den der eine der unsrigen verwandte Seele hat. Aber wie wäre es möglich, dich nicht zu kennen, wenn man deine Briefe liest? Sieht man nicht bei jedem Satze den sanften Blick deiner Augen? Hört man nicht bei jedem Worte deine liebliche Stimme? Welche Andere als Julie hat je geliebt, gedacht, gesprochen, gehandelt, geschrieben wie sie? Sei also nicht erstaunt, wenn deine Briefe, die dich so ganz abmalen, manchmal auf deinen abgöttischen Liebhaber dieselbe Wirkung machen wie deine Gegenwart. Indem ich sie lese, rauben sie mir den Verstand, es schwirrt mir vor den Sinnen, ein verzehrendes Feuer entzündet mein ganzes Wesen, mein Blut wallt und siedet, eine Wuth durchzittert mich. Ich glaube dich zu sehen, dich zu berühren, dich an meine Brust zu drücken . . .
Angebetetes Wesen, bezauberndes Mädchen, Quell aller Wonne und Wollust, wie soll ich, wenn ich dich sehe, nicht die Houris sehen, die der Seligen im Paradiese warten? . . . O, komm . . . . Ich fühle sie . . . und fort ist sie, ich umfasse einen bloßen Schatten . . .  Es ist wahr, geliebte Freundin, du bist zu schön und du warst zu zärtlich für mein schwaches Herz; es kann weder deine Schönheit vergessen, noch deine Liebkosungen; deine Reize tragen über die Abwesenheit den Sieg davon, sie verfolgen mich überall, sie machen, daß ich mich fürchte allein zu sein; und das ist der Gipfel meines Elends, daß ich mich immer und immer nur mit dir beschäftigen kann. (...)
Ja, süße Freundin, trotz der Abwesenheit, der Entbehrungen, der Unruhe, trotz der Verzweiflung selbst, liegt in dem gewaltigen Fluge zweier Herzen zu einander hin eine geheime Wollust, von der ruhige Seelen keine Ahnung haben. Es ist eines von den Wundern der Liebe, daß sie es uns zu einer Lust macht zu leiden; ja, für das größte Unglück, das uns treffen könnte, würden wir einen Zustand von Unempfindlichkeit und Vergessenheit halten, welcher uns jedes Gefühl unserer Schmerzen rauben wollte. Beklagen wir denn unser Loos, Julie, aber beneiden wir Niemanden! Es giebt vielleicht, Alles genommen, kein Dasein, das dem unseren vorzuziehen wäre, und wie die Gottheit all ihre Seligkeit aus sich selber nimmt, so finden die Herzen, welche ein himmlisches Feuer erwärmt, in ihren eigenen Gefühlen einen reinen köstlichen Genuß, der unabhängig von dem Schicksale und von der ganzen Welt ist.

Zweite Abtheilung  16. Brief (An Julie)
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O Liebe, o ihr reinen Gefühle, die ich von ihr hatte! . . .  mit welchem Entzücken kehre ich in mich ein, mit welcher Wonne finde ich in mir meine alten Triebe und meine vorige Würde wieder! Wie preise ich mich glücklich, daß ich noch in all seinem Glanze da das Bild deiner Tugend strahlen sehe, Julie, thronend in Glorie und mit Einem Hauche alle jene Gespenster  zerstreuend? Ich fühle meine eingeengte Seele wieder aufathmen, mir ist, als hätte ich mein Dasein und mein Leben wieder gewonnen, und mit meiner Liebe kehren mir alle Hochgefühle wieder, die sie ihres Gegenstandes würdig machen.

Zweite Abtheilung 17. Brief (An Julie)
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Mein Freund! ich habe Herrn von Orbe ein Päckchen zugestellt, welches er sich anheischig machte, dir unter Adresse des Herrn Silvestre zu schicken, wo du es also abholen kannst; aber ich mache dich darauf aufmerksam, daß du es erst öffnest, wenn du allein und auf deinem Zimmer bist; du wirst etwas zum Gebrauche für dich darin finden.
Es ist eine Art Amulet, das Liebende gern tragen. Die Art, wie man es gebraucht, ist wunderlich: man muß es alle Morgen eine Viertel Stunde lang betrachten, bis man sich von einer Art Wohl- und Wehgefühl durchdrungen fühlt; alsdann applicirt man es auf seine Augen, auf seinen Mund und auf sein Herz: es soll so als Präservativ, sagt man, auf den ganzen Tag wider die böse Luft des galanten Landes dienen. Man mißt dieser Art Talisman auch noch eine sehr merkwürdige elektrische Tugend bei, die aber nur unter treuen Liebenden zur Wirkung kommt, nämlich daß er auf mehr als hundert Meilen weit dem Einen die Küsse des Anderen zuführt. Ich stehe nicht für den Erfolg des Experiments, ich weiß nur, daß er lediglich von dir abhängt.

Zweite Abtheilung 20. Brief (Von Julie)
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Endlich bin ich da, ich fliege, ich schließe mich in mein Zimmer ein, ich setze mich athemlos nieder, fasse mit zitternder Hand das Siegel. O erste Wirkung des Talisman! Ich fühle mein Herz klopfen bei jedem Papiere, das ich abnahm und hatte zuletzt eine solche Beklemmung, daß ich genöthigt war, bei dem letzten Umschlage einen Augenblick Athem zu schöpfen . . . Julie! . . .  ach meine Julie! . . . .  der Schleier ist zerrissen . . .  ich liebe dich . . . . ich sehe deinen himmlischen Liebreiz! mein Mund, mein Herz bringen ihm die erste Huldigung dar, meine Kniee sinken ein . . . Angebetete Reize, noch einmal bezaubert ihr meine Augen! Wie rasch, wie mächtig, wie magisch ist die Wirkung dieser geliebten Züge! Nein, es bedarf nicht, wie du vorgiebst, einer Viertelstunde, um sie zu fühlen; eine Minute, ein Augenblick reicht hin, um meiner Brust tausend heiße Seufzer zu entreißen und mir mit deinem Bilde das Bild meines vergangenen Glückes zurückzurufen. Warum muß der Freude, einen so kostbaren Schatz zu besitzen, sich solche grausame Bitterkeit beimischen! O wie heftig mahnt es mich an die Zeiten, die nicht mehr sind! Ich glaube, indem ich es ansehe, dich noch zu sehen, ich glaube mich zurückversetzt in die köstlichen Augenblicke, deren Erinnerung jetzt das Unglück meines Lebens und die der Himmel mir geschenkt hat und geraubt in seinem Zorne. Ach! ein Augenblick enttäuscht mich, aller Schmerz der Trennung kehrt wieder und ist bitterer als zuvor, indem er mir den Wahn nimmt, der ihn hingehalten hatte, und ich bin gleich jenen Unglücklichen, deren Martern man nur unterbricht, um sie ihnen desto fühlbarer zu machen. Mein Gott! Welche Flammenströme trinken meine gierigen Augen in diesem unerwarteten Gegenstande! O, wie ruft er wieder wach im Grunde meines Herzens alle die ungestümen Regungen, die deine Gegenwart sonst erweckte! Julie! wenn es wahr wäre, daß es deinen Sinnen die süße Raserei, die Täuschung der meinigen durch Zauber mittheilen könnte! . . .  Aber warum sollte das nicht sein? Warum sollten Eindrücke, welche die Seele mit so großer Thätigkeit aufnimmt, nicht so weit reichen als sie selbst? Ach, liebe Geliebte, wo du seiest, was du thuest in dem Augenblicke, da ich diesen Brief schreibe, in dem Augenblicke, da dein Bildniß Alles empfängt, was dein abgöttischer Liebhaber an deine Person richtet, fühlst du nicht dein liebliches Gesicht von Thränen der Liebe und der Wehmuth überströmt? fühlst du nicht deine Augen, deine Wangen, deinen Mund, deinen Busen gedrückt, gepreßt, mit meinen heißen Küssen bedeckt? fühlst du dich nicht ganz in Flammen gesetzt von dem Feuer meiner brennenden Lippen? . . .  Himmel! was höre ich? Es kommt Jemand . . .  Ha! hinweg, in Verschluß meinen Schatz! . . .  Ein Ueberlästiger . . . Verwünscht sei der Unmensch, der mir mein süßes Entzücken stört! . . .  Möge er nie lieben . . . .  oder - entfernt leben von dem, was er liebt!

Zweite Abtheilung 22. Brief (An Julie)
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Stelle dir aber vor, was für ein Kind ich bin: seit ich diesen Brief erhalten habe, spüre ich etwas von den zauberischen Wirkungen, von denen er spricht, und der Scherz mit dem Talisman, obgleich von mir selbst ersonnen, bestrickt mich und kommt mir wie Wahrheit vor. Hundertmal des Tages, wenn ich allein bin, ergreift mich ein Beben, als fühlte ich dich neben mir. Ich bilde mir ein, daß du mein Bild in den Händen hältst, und ich bin so närrisch, daß ich die Küsse, mit denen du es bedeckst, zu fühlen glaube; mein Mund glaubt sie zu empfangen, mein liebendes Herz sie zu genießen. O süße Täuschungen! O Trugbilder! letzte Zuflucht des Unglücklichen! ach, dient uns, wenn es möglich ist, anstatt der Wirklichkeit! Ihr seid doch immer noch etwas für Den, dem das Glück nichts mehr ist.

Zweite Abtheilung 24. Brief (Von Julie)
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Die sinnliche Liebe kann des Besitzes nicht entrathen, und erlöscht, wenn er erlangt ist. Die wahre Liebe kann des Herzens nicht entrathen, und dauert so lange als die Herzensbezüge, aus denen sie entstanden ist. So war die unsrige anfangs; so wird sie, hoffe ich, bis an unser Lebensende bleiben, sobald wir sie besser geregelt haben werden. Ich sah, ich fühlte, daß ich geliebt wurde, und daß es so sein mußte: der Mund war stumm, der Blick war befangen, aber das Herz machte sich verständlich. Wir erfuhren bald zwischen uns jenes unbeschreibliche Etwas, welches das Stillschweigen beredt macht, welches niedergeschlagenen Augen Sprache verleiht, welches eine kühne Schüchternheit zu Wege bringt, welches in der Furcht die Wünsche verräth und Alles sagt, was es nicht auszudrücken wagt. (...)
Es wird mir schwer, fortzufahren: halten wir einen Augenblick inne! Erinnern Sie sich jener Zeiten des Glückes und der Unschuld, da jenes lebhafte und doch so milde Feuer, das uns beseelte, alle unsere Empfindungen läuterte, da seine Glut uns die Schamhaftigkeit theurer und die Sittsamkeit liebenswerther machte, da sich die Begierden selbst nur zu regen schienen, damit wir die Ehre erwürben, sie zu besiegen, und uns einer des andern noch mehr werth zu machen. Lesen Sie unsere ersten Briefe wieder, denken Sie an jene kurzen und zu wenig genossenen Augenblicke, da sich die Liebe in unseren Augen mit allen Reizen der Tugend schmückte, und wir uns zu sehr liebten, um Bande, welche diese nicht anerkennt, zwischen uns zu schlingen.
Was waren wir, und sind wir geworden? Zwei zärtlich Liebende brachten ein ganzes Jahr mit einander im strengsten Schweigen hin, ihre Seufzer wagten sich nicht hervor, aber ihre Herzen verstanden einander; sie glaubten zu leiden und sie waren glücklich. Ihr Verstehen führte zum Aussprechen; zufrieden aber, sich selbst besiegen und sich gegenseitig dies ehrenvolle Zeugniß geben zu können, brachten sie abermals ein Jahr in nicht minder strenger Zurückhaltung hin; sie sagten einander ihre Leiden und sie waren glücklich. Der lange Kampf wurde schlecht zu Ende geführt; ein schwacher Augenblick verwirrte sie; sie vergaßen sich in ihren Freuden. Hatten sie aufgehört keusch zu sein, waren sie wenigstens treu, der Himmel und die Natur wenigstens gaben ihrer Verbindung Rechte, die Tugend war ihnen theuer, sie übten sie noch und wußten sie noch zu ehren; sie waren weniger verderbt als gesunken. Nicht mehr so werth, glücklich zu sein, waren sie es dennoch. (...)
Beten Sie das ewige Wesen an, mein würdiger und weiser Freund, und mit einem Hauche zerstören Sie jene Vernunftphantome, die nur eine Scheingestalt haben und wie ein Schatten vor der unwandelbaren Wahrheit fliehen. Nichts ist, außer durch Ihn, der ist; Er ist es, der der Gerechtigkeit ein Ziel, der Tugend eine Grundlage, diesem kurzen Leben, wenn es angewendet wird, ihm zu gefallen, einen Werth giebt; Er ist es, der nicht müde wird, den Strafbaren zuzurufen, das ihre geheimen Sünden alle gesehen sind, und der dem mißachteten Gerechten zu sagen weiß: deine Tugenden haben einen Zeugen; Er ist es, der in seinem unveränderlichen Wesen das wahre Urbild der Vollkommenheiten darbietet, von denen wir alle das Abbild in uns tragen. Mögen es immerhin unsere Leidenschaften entstellen, alle seine Züge, mit dem unendlichen Wesen verwachsen, treten immer wieder vor die Vernunft und helfen ihr das wiederherstellen, was Lüge und Irrthum verunstaltet hatten. Die Unterscheidung scheint mir leicht zu machen, der gemeine Verstand reicht dazu hin. Alles, was unzertrennlich ist von der Idee dieses Wesens, ist Gott, alles Uebrige Menschenwerk. In der Betrachtung des göttlichen Urbildes reinigt und erhebt sich die Seele, lernt ihre niederen Neigungen verachten und ihr böses Trachten überwinden. Ein Herz, welches von diesen erhabenen Wahrheiten durchdrungen ist, giebt sich der Kleinheit menschlicher Leidenschaften nicht hin; jene unendliche Erhabenheit macht deren Hoffart zum Ekel; der Reiz der Contemplation entrückt es den irdischen Begierden; und selbst wenn es ein unendliches Wesen nicht gäbe, wäre es noch gut, daß sich der Mensch mit diesem Gedanken unaufhörlich beschäftigte, um mehr Herr seiner selbst, tüchtiger, glücklicher und weiser zu werden.

Dritte Abtheilung 18. Brief (Von Julie)
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Und Sie wären nicht meine Julie mehr? Ach, sagen Sie das nicht, würdige, achtbare Frau; Sie sind es mehr denn je. Sie sind Die, welche verdient, daß ihr der Erdkreis huldigt; Sie sind Die, welche ich anbete, als ich anfing für die wahre Schönheit empfänglich zu sein; dem Tode, wofern noch meine Seele eine Erinnerung hat von den wahrhaft himmlischen Reizen, welche sie während meines Lebens bezauberten. Dieser muthige Aufschwung, der Sie zu Ihrer ganzen Tugend zurückführt, macht Sie nur sich selbst desto ähnlicher. Nein, welche Marter es für mich ist, es zu denken und zu sagen, nie, nie waren Sie mehr meine Julie, als in dem Augenblicke, da Sie auf mich verzichten. O Gott! indem ich Sie verliere, habe ich Sie wiedergefunden. Aber ich, dem das Herz bebt bei dem Gedanken Ihnen nachzuahmen, ich, gefoltert von einer verbrecherischen Leidenschaft, die ich weder ertragen noch überwinden kann, bin ich der Mensch, für den ich mich hielt? War ich es werth, Ihnen zu gefallen? Welches Recht hatte ich, Ihnen mit meinen Klagen und mit meiner Verzweiflung lästig zu fallen? O, ich, ich, und nach Ihnen seufzen! Was war ich denn, daß ich Sie lieben durfte?
O Thorheit! als ob ich nicht genug gedemüthigt wäre, um noch neue Demüthigung zu suchen! Was soll es, Verschiedenheiten aufzählen, welche die Liebe tilgte? Sie erhob mich zu Ihnen, stellte mich Ihnen gleich; ihre Flamme hielt mich empor; unsere Herzen hatten sich verschmolzen; alle ihre Gefühle waren gemeinsame, und die meinigen nahmen an der Größe der Ihrigen Theil. Da bin ich wieder in meine Niedrigkeit zurückgesunken! Süße Hoffnung, die du meine Seele nährtest, und mich so lange trogst, erloschen nun, unwiederherstellbar! Sie wird nicht mein sein: sie ist für mich verloren auf ewig; sie macht einen Andern glücklich! . . .  O Wuth! O Höllenqual! . . . . Ungetreue, ha! konntest du . . .  Verzeihung, Madame, haben Sie Geduld mit meiner Raserei. O Gott! Sie haben nur zu sehr Recht, es ist nicht mehr . . .  ist nicht mehr die zärtliche Julie, der ich jede Regung meines Herzens aufschließen konnte! Wie? Ich fand mich unglücklich? und konnte doch klagen! . . . .  sie konnte mich anhören! Ich war unglücklich . . .  was bin ich denn jetzt? . . .  Nein, ich werde Ihnen keine Ursache mehr geben, zu erröthen, weder über sich noch über mich. Es ist vorbei, wir müssen einander entsagen, müssen uns trennen: die Tugend selbst hat das Urtheil gesprochen; Ihre Hand war stark genug, es niederzuschreiben. Vergessen wir uns . . . . wenigstens vergessen Sie mich. Ich habe es beschlossen, ich schwöre es, ich werde von mir nicht mehr mit Ihnen reden.

Dritte Abtheilung 19. Brief (An Julie)
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Aus: Julie oder Die Neue Heloise
Briefe zweier Liebenden
in einem Städtchen am Fuße der Alpen
von Jean Jacques Rousseau
Deutsch von Gustav Julius
Zweite Auflage Leipzig Verlag von Otto Wigand 1859


 

 




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