Hero und Leander

Die Sage von Hero und Leander in der Dichtung

 

Evelyn de Morgan (1850-1919) - Hero hält die Fackel



Daniel Schiebeler
(1741-1771)


Leander und Hero

Dir etwas zu erzählen,
Befiehlst du, Chloe, mir;
Wie gern, geliebte Chloe,
Wie gern gehorch' ich dir!

Es war einmal ein Jüngling,
Voll Zärtlichkeit, wie ich;
Er glühte für ein Mädchen,
Das dir an Schönheit glich.

Sie war an Reiz dir ähnlich,
Doch nicht an Sprödigkeit,
Und Gegengunst belohnte
Des Jünglings sanftes Leid.

In Sestus lebte Hero,
Nah an des Meeres Rand,
Leander in Abidus,
Am gegenseit'gen Strand.

Einst hatte sie am Feste
Cytherens ihn erblickt,
Sein zärtlich Flehn vernommen,
Ihn an ihr Herz gedrückt.

Allein ihr strenger Vater
Errieth, zu beyder Pein,
Den Trieb, der sie entflammte,
Und schloß das Mädchen ein.

Leander sieht von ferne
Den Thurm, der sie umgiebt,
Wie muthig macht nicht Amor
Den, der wahrhaftig liebt!

Der Schlaf goß Schlummerkörner
Auf ganz Abidus aus,
Und schnell verließ Leander
Das väterliche Haus.

Er geht zum nahen Meere,
Geführt von Hero's Bild,
Und fleht zur Göttinn Luna,
Die ihren Glanz enthüllt.

Er wirft sich in die Wellen
Mit frohem Ungestüm;
Die Silberwellen rauschen,
Und schäumen hinter ihm.

Er kömmt zum andern Ufer,
Wo seines Mädchens List
Den festen Thurm eröffnet,
Und küßt, und wird geküßt.

Erst wenn die Morgenröthe
Am Horizont erwacht,
Vertraut' er sich von neuen
Dem Meer, das ihn gebracht.

Oft sahn ihn die Tritonen,
Und rühmten seine Glut;
Oft priesen seine Liebe
Die Nymphen in der Flut.

Doch ach! ein Sturm entstehet,
Und schreckt des Jünglings Blick,
Und tobt, und wehrt dem Schwimmer
Den Weg zu seinem Glück.

Er hoft, der Sturm wird schweigen;
Doch stärker tobt das Meer.
Er hoft acht lange Tage,
Und irrt am Strand einher.

Und endlich scheint ihm länger
Kein Hinderniß zu groß;
Er stürzet, voll Verlangen,
Sich in des Meeres Schooß.

Umsonst; sein Fuß ermüdet,
Dem Arm gebricht die Kraft;
Er wird vom schnellen Wirbel
Zum Abgrund fortgeraft.

Der Strom bringt seine Leiche
Zu seinem Mädchen hin;
Sie sinkt auf den Geliebten,
Von Schmerz entseelt, dahin.

Die traurige Geschichte
Bewegt zu Thränen dich?
Du fühlst des Mitleids Züge;
Nur, Chloe, nicht für mich!

Doch zittre, folgst du länger
Der Sprödigkeit Gebot;
Auch in den stillsten Bächen
Trift, wer ihn sucht, den Tod.

Aus: Daniel Schiebelers Auserlesene Gedichte
Herausgegeben von Johann Joachim Eschenburg
Hamburg 1773 (S. 229-232)





 

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