Hochverehrtes Fräulein!
Während Sie mitten in der alten Roma Ihr Gemüth, Geist, Auge und Hand der
Kunst widmen, wird es Ihnen vielleicht nicht unlieb sein, über die rauhen
Alpen herüber eine Stimme der freundschaftlichen Erinnerung an jenen
heiligen Liebesbund der drei Grazien unseres besseren und ewigen Lebens,
der Religion, der Speculation und der Poetik, somit auch der bildenden
Kunst, zu vernehmen, so wenig auch Theologen, Philosophen und Poetiker in
unseren Zeiten an diesen Bund noch oder schon glauben.
Schwabing bei München
den 27. August 1831
Von dem Ihnen mit Hochachtung
ergebenen Verfasser dieser kleinen,
grosse Gegenstände anregenden Schrift.
Die meisten Menschen
meinen, dass es lediglich in ihrem Belieben stehe,
ihre Bewunderung dem wahrhaft Bewundernswerthen, ihre Liebe
dem Liebenswürdigen, ihren Glauben dem Glaubwürdigen,
somit auch ihren Dienst ihrem rechtmässigen Dienstherrn zu entziehen.
Diese Menschen werden aber meist zu spät inne, dass sie hiemit aus der
Freiheit der Noth heimfallen, das Nichtbewundernstwerthe bewundern,
das Nichtliebenswürdige lieben, dem Nichtglaubwürdigen glauben,
und demjenigen dienen zu müssen, der keines Dienstes werth ist.
1.
Der Mensch, sagt St. Martin, wollte ein Mensch ohne Gott sein, aber Gott
wollte nicht ein Gott ohne den Menschen sein. Um die Natur und um den
Menschen zu schaffen, brauchte Gott nur seine Macht und Herrlichkeit
frei zu entwickeln und sich gleichsam gehen zu lassen, um aber den
gefallenen Menschen zu erlösen, musste er sich gleichsam Gewalt anthun.
Er musste nämlich seiner Herrlichkeit sich entäussern, damit wir ihn und
seine Hilfe fassen und ertragen konnten in unserer Schwäche und
Verdorbenheit. Nur die Liebe begreift und nur sie vermag dieses Opfer.
Wenn die Creatur nicht begreift, und also bewundert, was über ihr steht,
so begreift sie noch minder, wie dieses über ihr Stehende zugleich sich
in sie und unter sie herablässt. Unsere Philosophie hat aber diese
Herablassung noch nicht klar erfasst, obschon selbe schon im Wort:
Substanz als Unter-halt bestimmt ausgesprochen ist, als Grund
oder Begründung. Jedes Producens gleicht sich nemlich mit seinem Product
nur dadurch aus, oder eint sich mit ihm, ohne sich zu confudiren, dass
es sich als Mutter eben so tief unter selbes setzt, als es als Vater
sich über selbem hält. Wie die Creatur sich in Gott aufhebt, hebt sich
dieser in der Creatur auf u. u. Ist aber einmal dieser normale
wechselseitige Aufhebungsprocess gestört, und findet sich die Creatur,
welche sich gegen den Vater aufheben wollte, sofort von der Mutter
aufgehoben oder niedergedrückt, so begreift man leicht, dass eine
Restauration dieser Abnormität nicht vom Vater, sondern nur von der
Mutter ausgehen kann, nemlich von einer tieferen Emanation der
Mütterlichkeit, als die erste war. Woraus sich die Function der
Weiblichkeit im guten, wie nicht guten Sinne begreifen lässt.
2.
Der Kaufmann schreibt jeden Empfang von seinem Handelsfreund sich zur
Last oder ins Debit, so wie er alles, was er diesem gibt, ihm zur
Last oder sich ins Credit schreibt. Auf gleiche Weise führt die
Liebe ihr Handelsbuch. Indem nemlich die Geliebte sich mir gibt, bin ich
mich ihr schuldig worden, und indem ich mich der Geliebten gebe (ihr
glaubend), ist sie sich mir schuldig geworden. Aber auch Gott kann sich
mir nicht geben, wenn ich mich nicht ihm gebe, lasse, mich auf ihn
verlasse oder ihm glaube. Er kann sich aber auch mir nicht entziehen,
wenn ich, ihm glaubend, mich ihm gebe, und er sich mir hiemit gleichsam
schuldig geworden ist.
3.
Indem ich die Geliebte besitze, beherrsche ich sie und bin ihr Herr.
Indem sie mich besitzt, beherrscht sie mich und ist meine Herrin. Kann
ich dem, den ich liebe, eine Freude machen, so werde ich hiemit eines
Bedürfnisses, eines Leidens los, und kann ich ihm ein Leiden abnehmen,
so empfange ich hiemit eine Freude. Im einen und anderen Falle bin ich
also dem Geliebten so viel Dank schuldig als er mir, und man kann in
dieser Hinsicht sagen, dass die Liebe alles mit doppelter Kreide
anschreibt.
4.
Man könnte darum auch sagen, dass ein Liebender seiner Geliebten schon
dafür dankbar ist, dass sie sich von ihm lieben lässt. Aber genauer
besehen zeigt sich's, dass ich nur jene Person lieben und nur jene
Person sich von mir lieben lassen kann, die mich hinwieder liebt. In
diesem Sinne klagt Gott in der Schrift so oft, dass so wenige Menschen,
und diese so wenig sich von ihm lieben lassen wollen, und dass er darum,
obschon er die Liebe selber ist, so wenige Menschen, und diese so wenig
aus ihrer Schuld effectiv lieben kann, so gern er auch wollte.
5.
Heraus folgt, dass eigentlich nichts liebendwürdig ist, als die Liebe
selber; weil in der Region des Geistes und Gemüths Würdigkeit,
Empfänglichkeit und Verdienst eins sind.
6.
Nichts kann irriger, ja einfältiger sein, als die sich frei
herablassende Demuth der Liebe mit der unfreien Niederträchtigkeit, so
wie ihre Erhabenheit mit dem Stolze zu vermengen. In der That bilden
aber Demuth und Erhabenheit in ihrer Einheit als Androgyne die
Liebe, und so wie diese als solche und als Macht (pouvoir) erlischt,
tritt die Geschlechtsdifferenz als Gewalt (violence) und
Schwäche, als Übermuth oder Tyrannenlust und als Sclavenlust
hervor, als in einer wilden Ehe aneinander gekettet.
7.
Nur die Liebe macht wahrhaft freisinnig (liberal), denn nur der Liebende
trennt das Recht (das Herrschen) nicht von der Pflicht (dem Dienen), das
Besitzen nicht vom Besessensein oder Sichbesitzenlassen.
8.
Der Gottliebende, wie der Gotthassende geben ohne Aufhören Zeugnis von
Gott. Wie nemlich der Gute im Glück Gott preiset und ihm dankt, im
Unglück ihn bittet, so flucht der Böse im Schmerz und Unglück Gott, und
trotzt ihm im Glück.
9.
Obschon die ganze christliche Religion auf der Erkenntniss und der
Überzeugung beruht: "Dass Gott die Liebe ist", so sprechen doch viele
Theologen und Moralisten von unserer Pflicht gegen Gott und Menschen so,
als ob Pflicht und Liebe im Grunde nicht dasselbe wären. Wenn nemlich in
der Schrift gesagt wird: dass alle Gebote in dem einen: der Liebe
Gottes und des Menschen befasst sind, so wird ja die Liebe selber als
Pflicht geboten. Nun könnte aber freilich diese Liebe nicht geboten oder
Pflicht sein, falls sie nur Appetit oder Leidenschaft wäre, und dieses
Gebot der Liebe sagt darum nur, dass jeder Mensch es in seiner Macht
hat, sich dem ihm frei anbietenden und sollicitirenden Affect dieser
Liebe zu öffnen oder sich ihm zu verschliessen. Die Identität der
Pflicht und Liebe zeigt sich übrigens schon dadurch, dass beide eine
Verbindung aussagen. Denn das Wort Pflicht, Verbindlichkeit kommt von
Verflochtensein oder Verbundensein, und der Unterschied zwischen beiden
ist nur der, dass die Pflicht (das Gesetz) als nur durchwohnende Macht
zur Verbindung treibt (presse), wogegen die Liebe als erfüllende und
inwohnende anzieht (attire), weswegen die Liebe vom Drucke des Gesetzes
befreit, so wie Eingang der Luft in einem luftleeren Körper diesen von
dem Drucke der Luft befreit. Die Verbindung, welche in der Pflicht nur
noch einseitig und also unfrei war, wird in der Liebe wechselseitig und
darum frei. In diesem Sinne heisst es in der Schrift, dass die Liebe des
Gesetzes Erfüllung ist, und in demselben Sinne heisst das Wort oder das
menschlich personificirte Verlangen Gottes zur Wiedervereinigung des
Menschen mit sich das speisende oder erfüllende.
Jener alte Satz: Pater in filio, filius in matre, drückt die zweifache
Relation jedes Products zu seinem Producens aus, indem dieses als Vater
subtiler als das Gezeugte und diesem unfasslich ist, als Mutter dagegen
fasslich, selbes erfüllend und speisend, oder Speise gebend und sich in
dieser, als Vater sich über selbes als Himmel, als Mutter unter selbes
als Erde stellt.
10.
Die Schwere der Pflicht oder des Gesetzes spricht also die Leere oder
den Mangel der Inwohnung aus, denn schwer ist, was sein tragendes
Centrum nicht in sich hat, und dessen Macht nur als durchwohnend
erfährt. Liebeleerheit und Herzensschwere sind darum synonym, so wie die
Finsterniss als Augenschwere Lichtleere ist.
Die alten Deutschen nannten das In-der-Fremde-sein auch Im-Elend-sein.
Im Elend aber ist: wer seine Mutter verliess, und in einer fremden oder
Stiefmutter sich befindet, als in einer Region oder Medium, mit welchem
er nicht gleichwichtig ist. Weil das Gezeugte in demselben
Verhältnisse von seiner natürlichen Mutter erhöht oder erniedrigt wird,
in welchem es sich gegen seinen Vater erniedrigt oder erhöht. Woraus
denn auch jener Satz wird: qu'il n'y a pas un etre ne soit charge
d'engendrer son Pere (Esprit des Choses I. 267), nemlich durch Hilfe der
Mutter; denn die Gebärerin gibt sich in demselben Verhältnisse dem
Kinde, oder will dieses, als das Kind sich dem Vater gibt und diesen
will. Oder um das Wort Aufhebens in Hegel's Sinne hier zu
gebrauchen, könnte man sagen, dass in demselben Verhältnisse, in welchem
der Sohn sich im Vater aufhebt, im normalen Zustande die Mutter sich im
Sohn aufhebt, wogegen im abnormen sie sich ihm als Stiefmutter entzieht.
11.
Nichts ist einfältiger, als an eine effective oder gelungene Selbstliebe
(Philautie) zu glauben, weil man sich doch so wenig selber lieben als
sich selber umarmen kann. Der sich selbst lieben und sich selber
bewundern Wollende sucht eigentlich nur durch Zeugnisse von Anderen sich
seine Zweifel an eigener Liebenswürdigkeit und Bewundernswürdigkeit zu
widerlegen, was ihm aber nie gelingt, und wobei er innerlich doch immer
leer ausgeht. Die Selbstliebe, wie die Selbstbewunderung beweiset also
immer nur diese selbstverschuldete Leere, und ist als tantalisches
Bestreben die Strafe für die zurückgewiesene Bewunderung und Liebe des
wahrhaft Bewunderns- und Liebenswerthen.
12.
Jeder Mensch, der vornehmste, wie der geringste, hat das Bedürfniss, zu
bewundern, zu achten und geachtet zu sein, zu lieben und geliebt zu
sein. Demjenigen, der uns nicht achtet, oder für nichts achtet, können
wir, wenn wir ihn auch als höher erkennen, nur fürchten und scheuen,
jenen, der uns nicht geneigt ist, können wir nicht lieben. Denn nur die
freie Neigung ist Liebe, nur wer sich selber hat, kann sich selber
geben; und nur diesen empfängt man, den, selblosen oder selblos
gewordenen nimmt man, und dankt ihm dafür nicht.
13.
Der Geber ist nicht die Gabe, und diese nicht jener, und doch gibt der
Geber in der Gabe sich selber, insofern er liebt, und der Empfänger
empfängt den Geber in der Gabe, insofern er ihn liebt. Gebe ich in
meiner Gabe dir nicht mich selber (mein Herz), so liebe ich dich nicht,
und nimmst du in ihr nicht mich selber, so liebst du mich nicht.
14.
Wahrhaft unglücklich oder unselig ist nur jener zu nennen, welcher keine
Neigung zu dem fassen kann, den er hochachten, eigentlich fürchten muss,
und welcher durch Neigung an jenen gebunden ist, den er verachten muss.
15.
Man sagt mit Recht, dass man nur mit Wohlthun ein Herz anziehen und sich
verbinden kann. Aber das effective Wohlwollen ist selber schon Wohlthat,
und zwar im Princip oder die centrale Wohlthat, folglich die grösste,
welche ein selbstisches oder freies Wesen einem anderen erzeigen kann,
und ohne welches alle anderen Wohlthaten keine sind, und darum auch
nicht als solche erkannt werden oder Erkenntlichkeit bewirken.
So kommt die Wohlthat, welche die Natur oder der Poet (Künstler) dem die
schöne Form auffassenden Sinn erweiset, doch nur aus Wohlwollen und wird
auch als solches anerkannt. Wie denn die Schönheit als Lieblichkeit von
Liebe, die Hässlichkeit von Hass stammt, und die Charis oder Grazie mit
der Charitas (Gnade oder Zuneigung) dieselbe ist. Was übrigens die
Schönheit der materiellen Formen betrifft, so ist hier die
Verwandtschaft von Schön mit Schonen um so richtiger, als es doch nur
die schonende Barmherzigkeit Gottes ist, welche unserem Auge die
Unförmlichkeit, ja die Scheusslichkeit, welche die Materie in sich
birgt, mit einer schönen Hülle als mit einem schönen Schein entzieht.
Der Schein (die Maja) ist aber an sich weder Wahrheit noch Lüge, und
wird letzteres nur durch die Intention desjenigen, welcher ihn
aufstellt, so wie er nur durch Schuld desjenigen zur Täuschung wird, der
ihn für was anderes nimmt, als er ist.
16.
Wenn darum der Wohlthätige sich das Herz desjenigen verbindet, welcher
die Wohlthat empfängt, so soll diese Verbindung eine freie, d.i.
wechselseitige sein. Der Empfänger soll eben so bereitwillig und freudig
sein, sich binden zu lassen, als der Geber, zu binden. Wer ohne Stolz
geben kann, kann auch ohne Erniedrigung (Druck) nehmen, und wer mit
Erniedrigung nimmt, der könnte nur mit Stolz geben.
17.
Das Bedürfniss, sich geachtet und geliebt zu sehen, ist so wahr und
stark, dass es nicht nur oft die Schwäche desjenigen entschuldigt,
welcher hierin zu leichtgläubig ist und sich täuschen lässt, sondern
bisweilen selbst den nicht böswilligen Betrüger oder Betrügerin.
18.
Wenn man mit Recht die Coquetterie als übertriebene oder Betrug
beabsichtigende Gefallsucht für verwerflich hält, so soll man doch nicht
vergessen, dass Freundschaft und Liebe nicht bestehen können, so wie der
Freund oder Liebende aufhört, sich gefällig zu bezeigen, und also nicht
mehr zu gefallen sucht. Gerade nur die Sorgfalt, ja die Scrupulosität
hierin beweiset die Liebe, welche eben darum mit Wenigem immer viel
gibt, weil sie auch das Viele, das sie gibt, immer für wenig und zu
wenig achtet, das Wenige aber, was sie empfängt, für zu viel.
19.
In unseren rationellen Zeiten, in denen man sogar eine rationelle
Rindviehzucht und rationelle Misterzeugungsweisen hat, wird natürlich
auch die Liebe, wie die Religion in demselben Sinne rationalisiert, d.
h. von jener Scrupulosität als Aberglauben purificirt, in der That aber
hiemit das Kindlein mit dem Bade verschüttet.
20.
Lieben ist so sehr Dienen dem Geliebten, dass umgekehrt der Dienst
leicht Liebe hervorbringt. Lieben ist Gernethun, Leiden und Entbehren
für den Geliebten, und wer nichts mehr für ihn zu thun, zu entbehren und
zu leiden hätte oder wüsste, der hörte auf zu lieben.
21.
Nicht der Dienst macht unfrei und erniedrigt, sondern nur jener Dienst,
welcher Achtung und Liebe tilgt; der Liebesdienst ist darum der
befreiende und ehrende oder erhebende, und nichts kann thörichter sein,
als die Menschen durch Dienstlosigkeit, und folglich Lieblosigkeit frei
machen zu wollen, womit man sie nur zum hörlosem Gesindel machen würde.
22.
Klagst du darüber, dass du dienen musst, so bedenke, dass Niemand in der
Welt ist, der nicht dient, und zwar oft genug nicht bloss seinem
Höheren, sondern seinem Niedrigeren. Zum Liebesdienst oder zum Dienst
mit Liebe ist aber Niemand zu gross, noch zu klein, denn auch Gott
dient, wie die Schrift sagt, dem Ihm willig und aufrichtig Dienenden.
Auch im gemeinsten Dienste ist übrigens der gute Wille oder die Liebe
das Beste, und derjenige ist ein Narr, welcher durch Lieblosigkeit oder
Böswilligkeit dem Dienenden es unmöglich macht, ihm mit gutem Willen, d.
h. gut zu dienen.
23.
Wollt ihr also, weltliche und geistliche Machthaber, dass man euch willig
und gut dient, so macht doch, dass man euch lieben kann, und um euch
lieben zu können, macht doch, dass man euch bewundern kann. Denn nur
Bewunderung bewirkt freie Unterwerfung, und wer sich als Autorität geben
will, der zeige sich bewundernswerth, d. h. zugleich erhaben und herab
lassend oder liebend.
(Gnade kommt von Gnieden oder Niedern. Die Sonne geht zu Gnaden, sagten
die Alten, d. h. sie geht nieder.)
24.
Wahrhaft artig oder höflich ist nur die Liebe, wogegen die Lieblosigkeit
immer grob ist, sie mag noch so höflich und artig thun wollen.
25.
Wie jedes Menschenherz Achtung und Liebe bedarf, so bedarf es der
Verzeihung. Aber nur die Liebe verzeiht, und sie verzeiht darum gern,
weil die sich an sie wendende Demuth und Reue ihr helfen den Reichthum
und die Fülle ihrer Zärtlichkeit entwickeln. Die wahre Reue ist aber
nicht die, dass man Jenen verletzt oder beleidigt hat, der uns dafür
strafen kann, sondern Jenen, der uns verzeiht, oder zu verzeihen
bereitet ist.
26.
Ohne Mitleiden ist kein Mitfreuen. Nicht nur lernt man in der Noth den
Freund und Geliebten kennen, sondern Freundschaft und Liebe wurzeln erst
in Widerwärtigkeit und Noth. Im Glück und Wohlergehen bringen es die
Menschen nur zur Kameradschaft (mit Frauen wie mit Männern), und wenn
die Pflanze der Liebe auch ohne Thränen aufgeht, so wurzelt sie doch
nicht ohne diesen Thau.
Wer nie sein Brod mit Thränen ass,
Wer nie die schmerz-durchwachten Nächte
Auf seinem Bette weinend sass,
Der kennt Euch nicht, Ihr himmlischen Mächte.
27.
Die Liebe verzeiht dem Reuigen, d. h. dem ihr aufrichtig Beichtenden.
Jedes Gewächse stirbt, wenn man seine Wurzel entblösst oder an's Licht
bringt, und der Beichtende thut dieses mit der in ihm Wurzel gefasst
habenden Sünde oder Lieblosigkeit, welche auch als Indifferenz bereits
angefangener Hass ist. Der reuig Beichtende verräth also, könnte man
sagen, sein Schlechtes an den Guten, wie er als Sünder sein Gutes an den
Schlechten verrathen hatte; denn es ist keine Sünde, die nicht die
Wurzel des Guten angreift und insofern entblösst.
28.
Nicht die sichtbare, greifliche Speise ist es, die uns eigentlich speist
und nährt, oder wie der französische Ausdruck bedeutend sagt:
substancirt, sondern eine unsichtbare, heimliche Kraft, welche in ihr
verhüllt oder incognito ist, und durch welche, so wie wir die Speise in
uns nehmen und auswirken, jene Mächte in effective Gemeinschaft mit uns
treten, als in eine Communio vitae, welche Mächte zu diesem Zwecke diese
Speise erzeugten. Wenn die Sonne am Himmel mit ihrem Licht und Wärme die
Pflanzen speiset, segnet und communicirt - denn was die Sonne nicht
gesegnet oder consecrirt hat, das gibt kein Gedeihen - so sagt sie
gleichsam zu ihnen: "Nehmet und esset, das bin ich." - Sie zerreisset
sich aber in diesen unzähligen Hostien nicht, und bleibt am Himmel
dieselbe.
Eine andere Person als solche kann ich als Person freilich nicht
unmittelbar besitzen oder geniessen, sie setze sich mir denn zum
unpersönlichen Gut und Sache herab. Daher materia von mater; und in
diesem Sinne ist jedes Sich-geben dem Liebenden ein Sich-opfern dem
Geliebten. Ohne die Einsicht in dieses beständige sich ineinander
Übersetzen und wieder Zurücknehmen des Selbstisch-Persönlichen in die
selbstlose Natur freilich in anderem Sinne, als die Naturphilosophen
hievon reden, ohne diese Einsicht in diesen sich verselbstigenden und
entselbstigenden Process versteht man nichts von beiden. -
Hieraus begreift man denn auch die ursprünglich androgyne Natur des
Geistes, oder dass jeder Geist als solcher seine Natur (Terre) in sich
hat, und nicht ausser sich: wie denn die wahre Liebe nur damit wirklich
wird, dass beide Liebende wechselweise ihr verselbstigendes und
entselbstigendes Vermögen in Wirksamkeit setzen, dessen Vorhandensein
also in beiden vorausgesetzt wird. Der Unverstand über diese
ursprünglich androgyne Natur des Menschen ist übrigens so gross, dass
man sogar den Hervorgang Evens aus Adam als eines zweiten Menschen mit
der hiebei stattgefunden habenden Halbirung der Geschlechtspotenz in
beiden vermengt hat, hiemit aber die Androgyne zur Fortpflanzung absolut
impotent sich vorstellte. In der normalen Geschlechtsverbindung (durch
Liebe) hilft der Mann dem Weib bewundern, dieses dem Mann lieben, oder
der Mann hilft dem Weibe in sich zur Mannheit, dieses dem Mann in sich
zur Weibheit. Wogegen in der abnormen (lieblosen) Geschlechtsverbindung
das Weib dem Mann zur Schlange, der Mann dem Weibe zum luciferischen
Hoffartsgeist hilft.
29.
Eigentlich nährt oder substancirt ein Herz nichts als wieder ein Herz,
und bei aller anderen Speise oder Genuss geht das Herz leer aus. Wie nun
der Mensch nur vom Menschen lebt und isst, so kann ein Mensch dem andern
auch Gift und Tod sein. Wie thöricht sind darum die Menschen zu nennen,
wenn sie so sorgfältig und scrupulös in der Wahl ihrer Magenspeisen
sind, und so unachtsam und gleichgültig in jener ihrer Herzensspeise.
30.
Gäbe es kein Centralherz (Coeur-Centre), und könnten die Menschen nicht
gemeinschaftlich sich von und in diesem Herzen substanciren und
restauriren, so würden sie auch nicht wechselseitig sich von einander
substanciren können, und ein Mensch müsste den anderen, wie es denn auch
geschieht, von sich ausspeien.
31.
Setze dein Herz nicht in Dinge oder Personen, die herzlos sind, noch
weniger in Bösherzige. Alle giftigen, blutdürstigen Insecten und Würmer
sind blutlos oder haben kaltes Blut, und so sind alle herzkalten
Menschen Herzblutsauger und Herzvergifter oder Herzmörder.
Seitdem der negative Geist doctrinär geworden ist und die Menschen in
ihrer Intelligenz besitzt, entstanden eine Menge herzkältender,
ausdorrender und vergiftender, Gemüth verglasender oder verwesender,
philosophischer, religiöser und moralischer Systeme, die meist schlimmer
sind, als ihre Verfertiger, weil diese mehr obsessi als posessi sind.
32.
Es kann nicht bloss Leichtsinn oder Zufall, sondern selbst ein
Verbrechen sein, was die Menschen zusammenführt, woraus aber nicht
folgt, dass auch ihr Zusammenbleiben ein Zufall oder Verbrechen ist,
weil es in der Macht des Menschen liegt, aus einer schlechten
Veranlassung ein Besseres zu machen. So bringen z. B. Noth oder
niedriges Bedürfniss die Menschen zusammen, aber die gewordene
Verbindung bleibt, während die Noth vorüber geht. So ist uns jede
natürliche Liebe als ein Unmittelbares gegeben, zugleich aber
aufgegeben, durch vermittelndes Selbstthun ein Besseres aus ihr zu
erwirken. Viele Menschen zeigen sich aber hierin nicht minder
unverständig, als die Ourang-Outangs, welche die Indianer von ihrem
gemachten Feuer wegjagen und sich an selbem wärmen, welche aber nicht
Verstand genug haben, um diese Feuer durch Nachlegen sich zu
unterhalten. Wie oft sehen wir darum die natürliche Geschlechtsliebe,
Kindesliebe, Elternliebe, Geschwisterliebe, Stamm- oder Vaterlandsliebe
&c. aus gleicher Ursache schnell genug wieder erlöschen und ausgehen.
33.
Du klagst über die Vergänglichkeit und also Eitelkeit all' dieser
Lieben, während du das Vergängliche zum Unvergänglichen hättest machen
können und sollen, indem du es zeitfrei machtest, anstatt umgekehrt
gleichsam die Zeit damit zu füttern.
34.
Jede neue und ohne unser Zuthun oder Verdienst uns entstandene Liebe
(die religiöse nicht ausgenommen) ist wie ein neugeborenes Kind, zart,
aber gebrechlich und der sorgfältigen Pflege bedürftig. Das neugeborene
Kind ist nemlich erst nur die unmittelbare Frucht und Bild der Substanz
der Eltern, es soll aber zum thätigen selbstischen Bilde ihres Geistes
und Herzens werden.
35.
Dauerhaft und unsterblich ist, was die Vergänglichkeit und die
Sterblichkeit in sich gründlich getilgt hat. So ist in der Liebe nur
treu und beständig, welcher die Treulosigkeit und Abfallbarkeit in sich
wenigst als Anlage und Möglichkeit (als Posse mori, wie Augustin sagt)
getilgt hat, wenn es auch nicht zum wirklichen Treubruch und Abfall kam.
Diejenigen, welche die Nothwendigkeit dieses wirklichen Abfalls
behaupten, sagen uns, dass ein Mädchen nicht anders unter die Haube
gebracht werden könne, als durch ihr Zufallgekommensein, oder dass man
nur durch Zurücknahme einer Lüge zur Erkenntniss der Wahrheit kommt.
36.
Wie Gott den Menschen schuldlos oder unschuldig und so wie die Natur
unverdorben schuf, nicht aber schuldunfähig und unverderblich, und wie
Gott wollte, dass der Mensch durch eignes Thun, Mitwirken und Verdienst
(mittelst der bewährenden Versuchung) diese Schuldfähigkeit und
Verderblichkeit in sich tilgen sollte, so gilt dasselbe für jede andere
Liebe, denn jede Liebe muss vor ihrem ersten, unmittelbaren, natürlichen
oder Unschuldstand durch eine Versuchung zu ihrem bewährten Stand und
Bestand eingehen.
37.
Wie ferner der Abfall oder der Treubruch des Menschen von und gegen Gott
nicht nothwendig war, und wie der Mensch auch ohne solchen die
Versuchung hätte durchgehen und bestehen können; wie aber die Versuchung
nothwendig war, weil er ohne seinen Durchgang durch sie die Bewährung
oder Wahrhaftig- und Bleibendmachung seiner Verbindung mit Gott nicht
hätte erlangen können, - so gilt dasselbe auf seine Weise für jede
Liebe, nemlich für die Menschenliebe wie für die Naturliebe, als Princip
der Cultur wie der bildenden Kunst.
So wie die Liebe Gottes zum Menschen sich herablässt, ihn zu sich
erhebend, breitet sie sich als Menschenliebe in der Horizontale aus, und
steigt als Naturliebe in die niedrigere herab, diese zu sich erhebend.
Sollte aber mit dieser wahren Liebe oder Neigung zur Natur das wahre
Hörigkeitsverhältniss derselben zum Menschen hergestellt sein, so musste
die intelligente Creatur auch hier die doppelte Versuchung bestehen
entweder despotisch auf gottvergessene Weise die Natur zu missbrauchen
oder sclavisch (und gleichfalls gottvergessen) sich ihr zu unterwerfen.
Dort nemlich vergisst sie, dass Gott der absolute Herr der Natur ist;
hier, dass dieser Gott ihr alleiniger unmittelbarer Herr ist. In der
ersten Versuchung fiel Lucifer, in der zweiten der Mensch.
38.
Ist aber der Abfall oder Treubruch in der Liebe wirklich eingetreten, so
ist doch hiemit nicht alles verloren, wenn nemlich die
Wiederversöhnlichkeit entweder nicht im Abfalle selber schon getilgt
worden ist, oder nach selbem. Diese Versöhnung macht aber nicht allein
wieder gut, was schlecht gemacht worden ist, sie verbindet nicht allein
wieder, was sich getrennt oder von einander abgekehrt hat, sondern,
falls der Mensch den Schmerz der Versöhnung (welcher hier zugleich
Todes- und Geburtsschmerz ist) frei in sich aufnimmt, macht sie das
Verdorbene besser und verbindet das Getrennte fester, wie denn versöhnte
Freunde und Liebende tiefer, inniger und unauflösbarer sich mit einander
verbunden finden, als vor ihrem Abfall.
Die Worte Sohn (Filius), Sonne (Sol), so wie Söhnung,
Sühne haben dieselbe Wurzel. Christus, sagt Meister Eckart, starb am
Kreuze, "damit Er Friede und Sun machte zwischen Gott und uns".
Nach der im Text gemachten Bemerkung hat man übrigens zwischen einem
unversöhnbaren und einem (in der Zeit) wieder versöhnbaren Abfall oder
Treubruch und Wortbruch zu unterscheiden. Das unversöhnbare Verbrechen
ist nemlich als in centraler Richtung geschehend zu fassen, somit als
totale oder directe Opposition, wogegen die nicht totale, in schiefer
Richtung geschehende sofort in die kreisende, wieder rückführende
Zeitbewegung umschlägt, woraus sich die Identität des Begriffs der Zeit
und der Restauration ergibt. Indem nemlich beim guten Gebrauch der Zeit
die noch nicht directe Richtung zum Centrum sich zur directen ergänzt:
während die schiefe Widersetzlichkeit sich gänzlich erschöpft, so
erschöpft sich umgekehrt beim nichtguten Gebrauch der Zeit die schiefe
Richtung zum Guten gänzlich, und die Widersetzlichkeit gegen das Centrum
wird total oder direct.
39.
Der Sturz des stolzen Lucifer ging Gott nicht zu Herzen, wohl aber der
Fall des schwachen, durch Sinnlichkeit verführten Menschen. Indem aber
dieser Fall Gott zu Herzen ging, ging sofort die rettende, helfende
Liebe von diesem seinem Herzen aus, und fing mit der Menschwerdung (denn
diese fing im Moment des Falls an) das Werk der Versöhnung, d.i. der
unauslösbaren Wiedervereinigung Gottes mit dem Menschen, und durch ihn
mit der Welt an. Welches Werk die fortgehende Weltgeschichte im Grossen
wie die Geschichte des Lebens jedes einzelnen Menschen im Kleinen ist.
Die Liebe ist und war, wie Johannes sagt, bei Gott, als er die
Welt und den Menschen schuf, als aber der Mensch fiel, ging sie von Gott
aus und kam als erlösendes Wort in die Welt.
Man konnte sagen, dass im Momente des Falls des Menschen Gottes Herz
sich an ihm versah, jedoch hier in dem gewöhnlichen
entgegengesetzten Sinne, weil nemlich das Unförmliche hiemit wieder
reformirt ward. Der Strahl der göttlichen Liebe oder Jesus (nach der
Deutung der Ebräer) ging nemlich im Momente des Falls sofort in die
Sophia als eigentliche Matrix aller Urbilder, und ward im Urbild des
Menschen zum Geistmenschen, so wie hiemit die natürliche Menschwerdung
in der Zeit begann. Hierauf beruht der dreifache Name des Erlösers als
Jesus, Christus und Mariä Sohn.
40.
Ähnliche Mysterien gehen in jeder Menschenbrust vor, welche das Werk der
Versöhnung in sich gewähren lässt, weil der Centralprocess sich in jedem
partiellen wiederholt oder spiegelt. Welcher Liebende hätte nemlich
nicht in sich wahrgenommen, dass er, indem er verzeiht und sich
versöhnt, tiefer in sein Herz eingeht, sich tiefer in diesem Herzen und
hiemit in dem Gedanken eines wiederhergestellten Verhaltens zu dem von
ihm Abgefallenen an die Stelle des zerrissenen und entstellten
Verhaltens desselben sich fasst, und, mit diesem neugeschöpften und
gefassten, gleichsam schöpferisch wordenen Verlangen und Imagination in
den Reuigen eingehend, diesen selber erneuert und sich tiefer mit ihm
verbindet. Welcher Liebende, sage ich, hätte nicht bemerkt, dass nur das
hierbei als Opfer fliessende Herzblut den Kitt zu jenem innigeren und
dauernden Freundschaft- und Liebesbund (als Consanguinität im tieferen
Sinne) gibt, von welchem gilt, was Moses Weib sagte: Du bist mir zum
Blutbräutigam geworden.
Man könnte darum jedem Menschen, welcher den Versöhnungsprocess in sich
aufrichtig und herzlich durchgemacht hat, zurufen: Du bist nicht ferne
vom Reiche Gottes!
Aus: Franz Xaver von
Baader Sämtliche Werke
Herausgegeben von Franz Hoffmann, Julius Hamberger,
Anton Lutterbeck, Emil August von Schaden, Christoph Schlüter
und Friedrich von der Osten
Neudruck der Ausgabe Leipzig 1853
Scientia Verlag Aalen 1963
Band 4 (S. 177-200)