Rabindranath Tagore (1861-1941) - Gitanjali

 



1.

Du machtest mich endlos –
so ist dein Belieben.
Dies schwache Gefäß
leertest du wieder und wieder
und fülltest es immer mit neuem Leben.

Du trugst diese kleine Rohrflöte
über Hügel und Täler
und hauchtest durch sie
ewig neue Melodien.

Bei dem unsterblichen Druck deiner Hände
verliert mein kleines Herz
seine Grenze in Freude
und gebiert unaussprechliche Worte.

Deine unendlichen Gaben
empfange ich nur
auf diesen meinen sehr kleinen Händen.
Zeitalter vergehn
und immer gießest du aus,
und immer ist Raum,
um erfüllt zu werden.
___


2.

Wenn du mir befiehlst zu singen,
scheint mir das Herz
vor Stolz brechen zu wollen;
ich schau in dein Antlitz,
und Tränen kommen mir in das Auge.
All das, was hart und mißtönig ist
mir im Leben,
zerschmilzt in eine süße Harmonie –
und meine Anbetung breitet die Schwingen
gleich einem frohen Vogel im Fluge
über die See.

Ich weiß, mein Singen macht dir Freude,
ich weiß, nur als Sänger werde ich
vor dich gelassen.

Ich rühre mit dem Saume
der weitausgebreiteten Schwinge
des Sangs deine Füße,
die nie zu erreichen
ich streben könnte.

Trunken von Freude des Singens
vergeß ich mich ganz
und nenne dich Freund,
der du mein Herr bist.
_____


3.

Ich weiß nicht, wie du singest,
mein Meister,
ich lausche immer in stillem Staunen.

Dein Licht der Musik erleuchtet die Welt.
Der Lebenshauch deiner Musik
läuft von Himmel zu Himmel.
Der heilige Strom der Musik
durchbricht alle Hindernisse
von Stein und stürzet fort.

Mein Herz ersehnt,
deinem Sang sich zu einen
und ringt umsonst nach Stimme.
Ich wollte sprechen,
doch Sprache fügt sich dem Sang nicht,
da schrei ich getäuscht auf!
O du hast mein Herz gefangen
in deines Liedes endlosen Maschen,
mein Meister.
_____


4.

O du meines Lebens Leben!
Immer werd ich mich mühn,
rein meinen Leib zu erhalten, wissend,
daß auf meinen Gliedern
lebendig dein Hauch ist.

Immer werd ich mich mühn,
Unwahres mir fern vom Denken zu halten,
wissend: du bist die Wahrheit,
die mir im Geiste das Licht
der Vernunft entzündet.

Immer werd ich mich mühn,
von meinem Herzen die Übel zu treiben
und meine Liebe in Blüte zu halten,
wissend: du thronest im Allerheiligsten
meines Herzens.

Und es soll immer mein Streben sein:
dich offenbaren in meinem Tun,
wissend, daß deine Macht
mir Kraft gibt zum Handeln.
_____


5.

Ich bitte nur um ein wenig Geduld,
um an deiner Seite zu sitzen,
das Werk, das ich wirke,
wird später vollendet.

Ferne dem Schaun auf dein Antlitz,
kennt mir das Herz nicht Ruhe noch Rast;
und mein Werk wird endloses Mühn
am uferlosen Meere der Mühe.

Heut kam der Sommer ans Fenster
mit seinem Summen und Surren,
die Bienen singen von Minne
am Hofe des blühenden Haines.

Nun ist es Zeit, um stille zu sitzen
von Antlitz zu Antlitz mit dir
und dir zu singen
des Lebens Widmung
in dieser schweigenden,
überströmenden Muße.
_____


6.

Pflück diese kleine Blume
und nimm sie und zögre nicht,
ich fürchte, sie welkt
und fällt in den Staub.

Sie wird keinen Platz
in deinem Kranze finden,
doch ehre sie
mit dem Schmerzensdruck deiner Hand
und pflücke sie ab.
Ich fürchte, der Tag könnt enden,
eh ich es merke
und die Zeit des Opferns vergehn.

Ist auch die Farbe nicht tief
und ihr Duft nur schwach,
nütze die Blume für deinen Dienst
und pflück sie, solange es Zeit ist.
_____


7.

Mein Lied hat seines Schmuckes
sich entäußert,
es ist nicht stolz auf Kleid und Zier.
Der Schmuck könnt unsre Einigkeit zerstören,
er würde zwischen dich und mich sich stellen;
dein Flüstern könnt ertrinken
in dem Klingklang.

Mein Dichterhochmut stirbt in Scham
vor deinem Anblick,
o Meisterdichter,
ich saß dir zu Füßen.
Laß mich mein Leben
grad und einfach machen,
gleich einer Flöte,
die du füllst mit Tönen.
_____


8.

Das Kind, dem
ein fürstlich Kleid man anzog,
und das Juwelen
um seinen Nacken trägt,
verliert alle Freude an seinem Spiel,
behindert vom Kleid
bei jedem Schritt.

Aus Furcht, es könnte zerreißen,
vom Staube befleckt sein,
hält es sich fern
von der Welt und fürchtet
beinah sich zu regen.

Mutter, es ist kein Gewinn
im Zwang deines Putzes,
wenn er uns ausschließt
vom heilsamen Staube der Erde,
wenn er des Rechts uns beraubt,
hinzuzutreten zum großen Markt
des gemeinen menschlichen Lebens.
_____


9.

Narr, der du suchst,
dich auf eignen Schultern zu tragen;
o Bettler, der du kommst,
an eignen Türen zu betteln!

Leg deine Lasten in seine Hände,
der alles trägt
und schaue nicht zurück
in Bedauern.

Deine Begierde löschet sogleich
das Licht der Lampe,
die sie mit ihrem Atem berührt.
Unheilig ist sie – nimm nicht deine Gaben
aus ihren unreinen Händen.
Nimm nur, was heilige Liebe dir bietet.
_____


10.

Hier ist dein Schemel,
dort ruhn deine Füße,
wo die Ärmsten und Niedersten,
wo die Verlorenen leben.

Wenn ich versuche, mich dir zu neigen,
kann mein Haupt nicht die Tiefe erreichen,
wo deine Füße ruhen
unter den Ärmsten und Niedersten,
den Verlorenen.

Stolz kann niemals sich nähern,
wo du umher gehst in den Gewändern
der Demütigen
unter den Ärmsten und Niedersten,
den Verlorenen.

Mein Herz findet nie seinen Weg dorthin,
wo du Freundschaft hältst
mit den Freundlosen
unter den Ärmsten, den Niedersten,
den Verlorenen.
_____


11.

Laß dies Stimmen und Singen
und Sagen des Rosenkranzes!
Wen betest du an
in diesem einsamen,
dunklen Winkel des Tempels,
in dem verschlossenen Tor?

Öffne die Augen und sieh,
dein Gott ist nicht vor dir.

Er ist dort, wo der Pflüger
den harten Grund pflügt,
wo der Steinklopfer Steine bricht.
Er ist mit ihnen
in Sonne und Regen
und wo sein Kleid bedeckt ist mit Staub.
Leg ab deinen heiligen Mantel
und komme herab mit ihm
auf den staubigen Boden.

Befreiung? Wo ist die Befreiung zu finden?
Unser Meister hat freudig
die Bande der Schöpfung auf sich genommen;
er ist mit uns für immer gebunden.

Komm heraus aus deiner Betrachtung,
laß Blumen und Weihrauch beiseite!
Was schadet es, wenn deine Kleider zerreißen
und fleckig werden.
Geh ihm entgegen,
stehe bei ihm in der Arbeit,
dem Schweiß deiner Stirne.
_____


12.

Die Zeit, die meine Reise braucht,
ist lang, und der Weg ist lang.

Ich kam heraus auf dem Wagen
im ersten Strahle des Lichts
und setzte die Fahrt weiter fort
durch die Wildnis der Welten
und ließ meine Spur
auf manchem Stern und Planeten.

Es ist der fernste Weg,
der am nächsten führt zu dir selbst,
und jene Übung ist die schwierigste,
die zum allereinfachsten Ton kommt.

An jede fernste Türe
muß der Wanderer klopfen,
bis er zur eigenen gelangt,
durch alle äußeren Welten muß man ziehn,
zuletzt zum Allerheiligsten zu kommen.

Und meine Augen streiften weit und breit,
eh ich sie schloß und sprach:
»Hier bist du!«

Die Frage und der Ruf:
»O wo?« zerschmilzt
in tausend Tränenströmen
und ertränkt die Welt
mit der Flut der Versichrung
»Ich bin«!
_____


13.

Das Lied, das ich kam zu singen,
bleibt ungesungen bis auf diesen Tag.

Ich brachte meine Tage hin,
mein Instrument zu stimmen
und umzustimmen.

Der Takt kam nicht aus,
die Worte sind nicht recht gesetzt,
nur eine Pein des Wünschens
ist im Herzen.

Die Blüte hat sich nicht geöffnet,
nur der Wind seufzt vorüber.

Ich habe sein Angesicht nicht gesehn,
nicht gelauscht seiner Stimme;
nur seinen leisen Fußtritt hab ich gehört
auf der Straße vor meinem Hause.

Der lange Tag verging damit,
ihm den Sitz am Boden zu breiten,
die Lampe aber ist noch nicht entzündet,
ich kann ihn nicht in mein Haus bitten.

Ich lebe der Hoffnung ihn zu treffen,
doch dieses Treffen ist noch nicht.
_____


14.

Meiner Begierden sind viele,
mein Schrei heischt Mitleid,
aber du hast mich noch immer gerettet
durch hartes Verweigern,
mit dieser strengen Gnade
hast du mein Leben
durch und durch gewirkt.

Tag für Tag machst du mich würdig
der einfachen, großen Gaben,
die du mir ungebeten gabst –
des Himmels, des Lichts,
dieses Leibes, Lebens und Geistes
– und rettest mich aus der Gefahr
des Übermaßes der Wünsche.

Es gibt Zeiten, wo träge ich zögre
und andre, wo ich erwache und eile,
mein Ziel zu suchen;
doch grausam birgst du dich vor mir.

Tag für Tag machst du mich würdig
deines vollen Empfangs,
indem du dich immer versagst
und rettest mich vor der Gefahr
der schwachen, unsicheren Wünsche.
_____


15.

Hier bin ich, dir Lieder zu singen.
In deiner Halle hab ich den Sitz im Winkel.

In deiner Welt hab ich kein Werk zu tun,
mein nutzlos Leben kann nur ausströmen
zwecklos in Tönen.

Wenn die Stunde schlägt
für deinen
schweigenden Dienst
im dunkeln Tempel der Mitternacht,
befiehl mir, mein Meister,
vor dir zu stehn und zu singen.

Wenn in der Morgenluft
die goldene Harfe gestimmt ist,
ehre mich und befiehl mir,
vor dir zu erscheinen.
_____


16.

Ich habe die Ladung gehabt
zum Fest dieser Welt,
und so ist mein Leben gesegnet.
Meine Augen haben gesehn,
meine Ohren gehört.

Mein Teil auf diesem Feste war,
mein Instrument zu spielen,
ich habe alles,
was ich konnte, getan.

Nun frag ich, ist endlich die Zeit
mir gekommen, daß ich eintreten darf
und dein Antlitz sehn
und schweigend
dir bieten meinen Gruß?
_____


17.

Ich warte nur auf die Liebe,
um endlich mich in seine Hände aufzugeben.
Deshalb bin ich so spät, und deshalb
bin ich schuldig so vieler Lücken.

Sie kommen mit ihren Gesetzen und Regeln,
um mich zu binden,
doch ich entschlüpfe ihnen immer wieder,
denn ich warte nur auf die Liebe,
um endlich mich in seine Hände aufzugeben.

Die Leute tadeln mich, nennen mich unbedacht,
ich zweifle nicht, sie haben
Recht zum Tadel.

Der Markttag ist vorüber,
alle Arbeit ist getan für die Geschäftigen.
Die da kamen umsonst mich zu rufen,
gingen voll Zorn.
Ich aber warte nur auf die Liebe,
um endlich mich in seine Hände aufzugeben.
_____


18.

Wolken häufen auf Wolken sich
und es dunkelt.

Geliebter, warum läßt du mich draußen
vor dem Tore warten ganz allein?

In der geschäftigen Zeit des Mittagwerkes
steh ich zur Menge, aber an diesem dunklen,
einsamen Tage hoff ich
auf dich allein.

Wenn du mir dein Antlitz nicht zeigst,
wenn du mich beiseite läßt,
so weiß ich nicht,
wie ich die langen regnerischen Stunden
verbringen soll.

Ich starre zum fernen Schimmer
des Himmels, und mein Herz wandert klagend
mit dem ruhelosen Wind.
_____


19.

Wenn du nicht sprichst, will ich mein Herz
mit deinem Schweigen füllen
und dulden.
Ich warte und halte mich still
wie die Nacht mit ihren gestirnten Vigilien,
und ihrem Haupte tief geneigt in Geduld.

Der Morgen wird sicher kommen,
das Dunkel wird schwinden und deine Stimme
in goldenen Strömen sich ergießen
und vom Himmel brechen.

Dann werden deine Worte Schwingen nehmen
im Gesang von allen meinen Vogelnestern
und deine Melodien werden in Blumen
in meinen waldigen Hainen
aufbrechen.
_____


20.

An dem Tag, da der Lotos blühte,
schweifte mein Geist, ach, in die Irre,
und ich wußte es nicht.
Mein Korb war leer,
und die Blume blieb ungepflegt.

Nur dann und wann bedrängte
mich Traurigkeit,
ich fuhr aus dem Traum
und fühlte eine süße Spur
seltsamen Wohlgeruches
im Südwind.

Die flüchtige Süße machte mein Herz
weh vor Sehnsucht,
und mir deuchte, es sei der brünstige Atem
des Sommers,
der seine Vollendung suchte.

Ich wußte noch nicht, daß so nah es war,
daß es mein war, daß die vollkommene Süße
in meines eignen Herzens
Tiefe erblüht war.
_____


21.

Ich muß lichten mein Boot.
Die trägen Stunden vergehen am Ufer –
wehe mir!

Der Frühling verblüht und nimmt Abschied
und nun mit der Bürde der welken,
wertlosen Blätter harr ich und zaudre.
Die Wogen sind ungestüm und am Gestade
auf schattigem Rasenhang flattern
die gelben Blätter und fallen.

Auf welch eine Leere starrst du,
fühlest du nicht ein Schauern gehn
durch die Luft, mit dem Ton eines fernen Liedes
verschwebend vom anderen Ufer?
_____


22.

Im tiefen Schatten des regnichten Juli
wanderst du leisen Tritts,
schweigend der Nacht gleich
und täuschest die Wächter.

Heut hat der Morgen die Augen geschlossen,
achtlos des drängenden Rufes des Ostwinds;
ein dichter Schleier ist
über den immer wachen,
blauen Himmel gezogen.

Die Wälder lassen die Lieder verstummen
und an jedem Haus sind
die Türen geschlossen.
Du bist der einsame Waller
in den verlassenen Gassen.
O mein einziger Freund, Geliebtester,
die Tore sind offen in meinem Hause –
geh nicht vorüber wie ein Traum.
_____


23.

Bist du draußen in stürmischer Nacht
auf deiner Reise der Liebe, mein Freund?
Der Himmel ächzt, wie einer, der verzweifelt.

Kein Schlaf kommt heut Nacht zu mir.
Ich öffne das Tor immer wieder
und schaue ins Dunkel, mein Freund!

Ich kann nichts erkennen vor mir,
wo, frage ich, liegt dein Pfad?

An welch dunklem Gestade
des pechschwarzen Flusses,
welch fernem Rande
des dräuenden Forstes,
durch welch irrvolle Tiefe
des Schattens suchst du deinen
Weg zu mir, mein Freund?
_____


24.

Wenn der Tag vorbei, wenn die Vögel verstummen,
die Winde müde erschlaffen,
dann lege den Schleier der Dunkelheit
dicht über mich, wie du die Erde
gehüllt hast in Decken des Schlafes
und zärtlich schlossest im Dämmern
die Blätter des schmachtenden Lotos.

Nimm von dem Wandrer,
deß Bündel leer ist von Vorrat,
ehe die Reise vollendet,
dessen Kleid zerrissen und staubbeschwert,
dessen Kräfte erschöpft sind,
nimm von ihm Armut und Schmach,
erneure sein Leben, der Blume gleich
unter der Decke der gütigen Nacht.
_____


25.

In der Nacht der Ermüdung
laß mich dem Schlaf ohne Kampf mich hingeben
und ruhen in deinem Vertraun.

Laß den ermatteten Geist mich nicht
zwingen zu armer Bereitung
für deinen Dienst.

Du ziehst den Schleier der Nacht
über die Augen ermüdet vom Tage,
um ihren Blick zu erneun in der frischen Froheit
des Wachens.
_____


26.

Er kam und saß mir zur Seite,
doch ich erwachte nicht.
Welch ein verfluchter Schlaf,
ich Elender, war das!

Er kam in schweigender Nacht;
er hielt die Harfe in Händen
und meine Träume tönten
wieder seine Melodien.

Wehe, warum sind so meine Nächte verloren?
Wehe, warum vermisse ich
immer sein Angesicht,
dessen Atem den
Schlaf mir berührt?
_____


27.

Licht! O, wo ist das Licht?
Entzünd es am brennenden Feuer der Sehnsucht!

Da ist die Lampe, doch weh,
kein Flackern der Flamme –
ist das dein Schicksal mein Herz!
Dann wäre dir besser
bei weitem der Tod.

Elend klopft an die Tür, seine Botschaft kündet:
dein Herr ist wachsam,
er ruft durch das Dunkel der Nacht
dich zum Stelldichein.

Den Himmel verhängen Wolken;
der Regen ist endlos.
Ich weiß nicht, was in mir sich regt,
weiß nicht seinen Sinn.

Ein Blitzstrahl zieht tieferes Dunkel
mir übers Aug,
und mein Herz tastet den Pfad,
auf den die Stimmen der Nacht
mich rufen.

Licht! O, wo ist das Licht?
Entzünd es am brennenden Feuer der Sehnsucht.
Es donnert, der Wind stürzt kreischend durchs Leere.
Die Nacht ist schwarz,
schwarz wie ein Stein.
Laß nicht die Stunden vergehen im Dunkeln.
Zünde die Lampe der Liebe
mit deinem Leben.
_____


28.

Hartnäckig binden mich Fesseln,
aber mein Herz schmerzt,
wenn ich sie brechen will.

Freiheit ist was ich brauche,
aber ich fühle Scham, sie zu hoffen.

Ich bin sicher: unschätzbarer Reichtum ist in dir,
und du bist mein bester Freund,
doch hab ich das Herz nicht,
den Flitter zu kehren,
der meine Zimmer erfüllt.

Das Tuch, das mich deckt,
ist ein Tuch aus Staub und aus Tod,
ich haß es und liebe es doch.

Meine Schuld ist groß, mein Vergehn groß,
meine Schande ist schwer und geheim,
doch wenn ich komme, mein Gut zu erbitten,
zittre ich vor Furcht,
daß mir erhört mein Gebet sei!
_____


29.

Er, den ich mit meinem Namen umschließe,
er weint im Gefängnis.
Ich bin immer geschäftig,
die Mauer um ihn zu bauen
und wie der Wall in den Himmel
wächst Tag für Tag,
verlier ich in seinem tiefen Schatten
mein wahres Sein aus dem Auge.

Ich bin stolz auf die mächtige Mauer,
verkleb sie mit Staub und mit Sand;
daß nicht das kleinste Loch in diesem Namen bleibe.
Bei all dieser Sorge verlier ich
mein wahres Sein aus dem Auge.
_____


30.

Ich zog allein auf meinem Wege zum Stelldichein.
Doch wer ists, der im schweigenden Dunkel mir folgt?
Ich schleiche beiseite, um ihn zu meiden,
doch entkomme ich nicht seiner Gegenwart.

Er wirbelt den Staub von der Erde
mit seinem Stolzieren,
er fügt seine laute Stimme zu jedem Wort,
das ich äußre.

Er ist mein eignes, kleines Selbst, Herr,
er kennt keine Scham, doch ich schäm mich
zu deiner Türe in seiner Gesellschaft zu kommen.
_____


31.

»Sag mir, Gefangner, wer hat dich gebunden?«

»Es war mein Meister,« sprach der Gefangne,
»ich glaubte jeden in der Welt
mit Macht und Reichtum auszustechen.
Ich häufte im eignen Schatzhaus das Geld,
das meinem König gehört.
Als mich Schlaf übermannt, ruhte ich aus
auf dem Bett, das für meinen Herrn bereitet,
erwachend fand ich mich als Gefangner
im eigenen Schatzhaus.«

»Sag mir, Gefangner, wer wars, der diese
unbrechbaren Ketten geschmiedet?«

»Ich war es,« sprach der Gefangne,
»der diese Ketten mit Sorgfalt geschmiedet.
Ich glaubte mit unbesiegbarer Macht,
die Welt zu fesseln, um Freiheit nur mir
ungestört zu erhalten.
So wirkte ich Tag und Nacht an der Kette
mit großen Feuern und grausamen harten Schlägen.
Und als das Werk getan, vollendet die Glieder
und unzerbrechbar, – da fand ich mich
selbst in ihrem Griff.«
_____


32.

Mit allen Mitteln halten mich fest,
die hier mich lieben in dieser Welt.
Anders ist es mit deiner Liebe:
sie ist größer als ihre,
du machst mich frei!

Daß ich sie nicht vergesse,
wagen sie nie allein mich zu lassen.
Doch Tag geht auf Tag –
du bist nicht zu sehn!

Wenn ich dich nicht ruf im Gebet,
wenn ich dich nicht halte im Herzen,
so wartet doch deine Liebe für mich
auf meine Liebe.
_____


33.

Als es Tag war, da kamen sie in mein Haus und sprachen:
»Wir wollen nur den kleinsten Raum.«

Sie sprachen: »Wir helfen dir deinen Gott verehren,
nimm du vorlieb mit unserm Anteil an seiner Gnade.«
Dann nahmen sie ihren Sitz im Winkel
und saßen still und bescheiden.

Doch im Dunkel der Nacht find ich,
wie sie den heiligen Schrein mir erbrochen,
laut und ungestüm und mit unheiliger Gier
das Opfer von dem Altar meines
Gottes reißen.
_____


34.

Laß nur dies Wenige übrig von mir,
daß ich dich nennen darf, mein All.

Laß nur dies Wenige übrig von mir,
daß ich auf allen Seiten dich fühle
und zu dir komme in jedem Ding,
meine Liebe dir biete in jedem Augenblick.

Laß nur das Wenige übrig von mir,
daß ich dich nimmer verberge.

Laß nur das Wenige an Fesseln mir,
womit mich dein Wille gebunden
und ein Zweck mir im Leben erfüllt ist –
das ist die Fessel deiner Liebe.
_____


35.

Wo der Geist ohne Furcht ist,
das Haupt man hoch trägt,

Wo Erkenntnis frei ist,

Wo die Welt nicht zum Bruchstück
von engen häuslichen Mauern zerbrochen wird,

Wo die Worte aus Tiefen der Wahrheit kommen,

Wo unermüdet das Streben
den Arm zur Vollkommenheit ausstreckt,

Wo der klare Strom der Vernunft
seinen Weg nicht verliert in dem trockenen
Sand der Gewohnheit,

Wo der Geist von dir geleitet,
zu immer sich weitendem Denken
und Handeln geführt wird,

Zu diesem Himmel der Freiheit,
laß, Vater, mein Land du erwachen!
_____


36.

Dies ist an dich mein Gebet, Herr
– triff, triff bis zur Wurzel des Mangels
mein Herz.

Gib mir die Kraft,
leicht meine Freuden und Sorgen
zu tragen.

Gib mir die Kraft, meine Liebe
fruchtbar im Dienste
zu machen.

Gib mir die Kraft,
die Armen nie zu verleugnen
und meine Kniee vor frecher Macht
nicht zu beugen.

Gib mir die Kraft,
meinen Geist
über täglichen Kleinkram
zu heben.

Und gib mir die Kraft,
meine Kraft
deinem Willen hinzugeben
in Liebe.
_____


37.

Ich dachte, daß meine Reise
ihr Ende gefunden,
bis zum letzten Bereich meines Könnens –
daß der Pfad vor mir
geschlossen sei,
daß der Vorrat erschöpft
und die Zeit gekommen,
um Schutz zu finden
in stiller Verborgenheit.

Aber ich finde: kein Ende kennt
dein Wille mit mir.
Wenn alte Worte
auf der Zunge sterben,
dann brechen neue Melodien
im Herzen aus;
und wo die alte Spur verloren ist,
da wird ein neues Land
mit seinen Wundern offenbar.
_____


38.

Daß ich dich brauche, nur dich,
soll mein Herz wiederholen endlos.
Alle Wünsche, die mich zerreißen
Tag und Nacht, sind nichtig
bis auf den Grund.

Wie die Nacht in ihrem Dunkel
den Drang nach Licht birgt,
so erklingt aus der Tiefe
des Unbewußten der Schrei:
»Ich brauche dich, nur dich!«

Wie der Sturm sein Ziel
im Frieden sucht,
wenn er den Frieden bekämpft
mit all seiner Macht,
so schlägt mein Aufruhr
gegen deine Liebe,
und doch ist mein Schrei:
»Ich brauche dich, nur dich!«
_____


39.

Wenn mein Herz hart und verdorrt ist,
komm über mich
mit einem Regen der Gnade.

Wenn die Huld aus meinem Leben verschwand,
komm über mich
mit dem Sturm des Gesanges.

Wenn die lärmende Arbeit,
das Getöse ringsum sich erhebt
und mich abschließt vom Jenseits,
komm zu mir, Herr des Schweigens,
mit deiner Ruhe, dem Frieden.

Wenn mein bettelhaft Herz sich verkriecht,
im Winkel verschlossen,
brich das Tor, mein König,
und komm mit Gepränge
des Königs.

Wenn Begierde die Seele blendet
mit Täuschung und Staub,
o du Heiliger, Wachender,
komme mit Blitz und mit Donner.
_____


40.

Gott hielt mir den Regen zurück,
Tag auf Tag vom verdorrten Herzen.
Feurig nackt ist der Horizont,
keine dünnste Decke von sanften Wolken,
kein schwächster Wink von fernem,
kühlenden Schauer.

Schick das zornige Wetter, schwarz wie der Tod,
wenns dein Wunsch ist,
das mit der Geißel des Blitzes den Himmel
von Pol zu Pol peitscht.

Doch ruf ab, Herr, ruf ab
diese lastende schweigende Hitze,
still, scharf und grausam,
die das Herz mit düstrer Verzweiflung
verbrennt.

Laß die Wolke der Gnade schwer niederhängen,
wie der tränende Blick der Mutter
am Tage des Zornes des Vaters.
_____


41.

Wo stehst du hinter ihnen allen, Geliebter,
und birgst dich im Schatten?
Sie stoßen dich, gehn vorüber
auf staubigem Wege,
als wärest du nichts.
Ich warte hier müde Stunden
und breite die Gaben für dich,
die Vorübergehenden nehmen die Blumen,
eine um die andere –
mein Korb ist fast leer.

Vorbei ist der Morgen, vorbei der Mittag.
Im Schatten des Abends werden die Augen
mir schwer von Schlummer.
Die Menschen gehn heim und schauen auf mich
und lächeln und füllen mit Scham mich.
Ich sitze wie ein Bettlermädchen
und zieh meinen Rock mir übers Gesicht,
und wenn sie mich fragen, was mir fehlt,
senk ich die Augen und antworte nicht.
O, wie könnte ich ihnen wohl sagen,
daß auf dich ich warte,
daß du mir versprachest zu kommen.
Wie könnt ich vor Scham erklären,
daß ich als Hochzeitsgut
diese Armut trage.
Ich pfleg diesen Stolz
m Geheimsten des Herzens.

Ich sitze im Gras und träum in den Himmel
von dem plötzlichen Glanz deines Kommens –
alle Lichter entflammen,
goldene Fittiche fliegen um deinen Wagen
und die am Wege stehn gaffend,
wenn sie dich niedersteigen sehn
von deinem Sitz, mich vom Staube zu heben,
und dir zur Seite zu setzen,
das lumpige Bettlermädchen,
erzitternd in Scham und Stolz
wie eine Ranke im Sommerwind.

Doch die Zeit gleitet hin und noch kein Laut
von den Rädern des Wagens.
Manch eine Schar zieht vorüber
mit Lärm und Glanz und Geschrei.
Bist du es nur, der im Schatten steht
schweigend hinter ihnen allen?
Und ich nur, der wartet und weint
und sein Herz abzehrt in eitlem Sehnen?
_____


42.

Früh am Tage hört ich ein Flüstern,
wir sollten segeln im Boote, du und ich allein,
und keine Seele der Welt
sollte wissen von unsrer Pilgerschaft
nach keinem Land und keinem Ziel.

In dem uferlosen Ozean bei deinem schweigenden,
lauschenden Lächeln
würden meine Lieder zu Melodien schwellen,
frei wie die Wogen und frei
von allen Banden der Worte.

Ist es noch nicht an der Zeit?
Gibt es noch Arbeit zu tun?
Schau, der Abend senkte sich über die Küste
und im sterbenden Lichte
fliegen die Seevögel heim zu den Nestern.

Wer weiß, wann die Kette gelöst wird
und das Boot, wie der letzte Schimmer
der sinkenden Sonne verschwinden wird
in die Nacht?
_____


43.

Einst war ein Tag, als ich
in Bereitschaft nicht war für dich,
und ungebeten wie einer der gemeinen Menge
tratest Du in mein Herz,
mir unbekannt, mein König.
Du drücktest dein Siegel der Ewigkeit
auf manch einen flüchtigen Augenblick
meines Lebens.

Und heute, als ich aus Zufall umherleuchte,
find ich die Siegel, finde umhergestreut
sie liegen im Staube,
vermischt mit Erinnerung
an Freuden und Sorgen
des Alltags – vergessen.

Du wandtest dich nicht in Verachtung
vom kindischen Spiele im Staube,
und der Schritt, den ich hörte am Spielplatz,
ist der gleiche, der widerhallt
von Stern zu Stern.
_____


44.

Dies ist meine Wonne zu warten
und wachen am Weg,
wo der Schatten das Licht jagt
und der Regen kommt
beim Erwachen des Sommers.

Boten mit Zeitung von unbekannten Himmeln
bieten den Gruß mir
und eilen den Weg lang.
Mein Herz ist froh in mir
und der Atem der streifenden Lüfte
ist süß.

Vom Morgen zur Dämmerung
sitze ich hier vor dem Tor,
und ich weiß, daß plötzlich
der glückliche Augenblick kommt,
wo ich sehend werde.

Inzwischen lächle und sing ich allein.
Inzwischen füllt sich die Luft
mit dem Duft
des Versprechens.
_____


45.

Hörtet ihr nicht seinen schweigenden Schritt?
Er kommt, kommt,
immer kommt er.

Zu jeder Stunde, zu allen Zeiten,
zu jedem Tage, zu jeder Nacht,
er kommt, kommt,
immer kommt er.

Manch einen Sang hab ich gesungen
in mancher Stimmung der Seele,
doch alle meine Töne verkündeten nur:
Er kommt, kommt,
immer kommt er.

In duftigen Tagen des sonnigen April
auf Waldespfad,
er kommt, kommt,
immer kommt er.

In dem regnichten Dunst der Julinächte
auf dem Donnerwagen der Wolken,
er kommt, kommt,
immer kommt er.

In Leid nach Leid ist es sein Schritt,
der mein Herz drückt
und die goldene Spur seiner Füße
läßt meine Freude aufleuchten.
_____


46.

Ich weiß nicht aus welch ferner Zeit
du immer näher kommst, mich zu treffen.
Nicht Sonne, nicht Stern kann dich
verborgen halten vor mir auf ewig.

An manchem Morgen und Abend
hört ich deinen Fußtritt
und deine Boten betraten mein Herz
und beriefen mich heimlich.

Ich weiß nicht, warum wohl heute
mein Leben bewegt ist
und eine Wallung
von zitternder Freude mein Herz rührt.

Es ist, als wäre die Zeit gekommen,
mein Werk zu beschließen,
und ich fühle im Wind
einen schwachen Duft
deines süßen Daseins.
_____


47.

Die Nacht ist fast vorbei
mit vergeblichem Warten auf ihn.
Ich fürchte, daß plötzlich er morgens ins Tor tritt,
wenn ich ermüdet in Schlaf sank.
O Freunde, laßt den Weg ihm offen,
o wehrt ihm nicht.

Wenn der Klang seines Schritts
mich nicht weckt,
versucht nicht mich aufzurütteln, ich bitte.
Ich wünsche nicht,
daß vom Schlafe mich ruft
der geräuschvolle Chor der Vögel,
nicht das Sausen des Winds
beim Feste des Morgenlichts.
Laßt schlafen mich ungestört,
selbst wenn plötzlich mein Herr
in mein Tor tritt.

O mein Schlaf, goldener Schlaf,
der nur seine Berührung erwartet, zu schwinden.
O meine geschlossenen Augen,
die ihr die Lider nur öffnet
im Licht seines Lächelns,
wenn er wie ein Traum vor mir steht,
der auftaucht vom Dunkel des Schlafes.

Laßt ihn erscheinen vor meinem Aug
als der erste des Lichts, der Gestalten.
Den ersten Freudenschauer
in meiner erwachenden Seele,
ihn gäbe sein Blick mir.
Und laßt meine Rückkunft zu mir
zugleich auch die Rückkunft zu ihm sein.
_____


48.

Das Meer des Schweigens brach aus
am Morgen in Triller der Vogelkehlen;
und die Blumen am Wege waren alle fröhlich;
der Reichtum des Goldes
zerstreute durch Spalten der Wolken sich.
Wir aber gingen in Eile des Wegs
und achteten nichts.

Wir sangen nicht fröhliche Lieder,
wir spielten nicht, wir gingen zum Markt nicht zu tauschen;
wir sprachen kein Wort
und lächelten nicht.
Wir zögerten nicht am Weg,
wir beschleunigten unsern Schritt
wie die Zeit ging.

Die Sonne stieg auf zum Scheitel,
und Tauben girrten im Schatten.
Welke Blätter tanzten und wirbelten
in heißen Lüften des Mittags.
Der Hirtenbub dämmerte
und träumte im Schatten des Feigenbaumes
– und ich legte mich nieder am Wasser
und dehnte die müden Glieder ins Gras.

Die Gefährten spotteten mein,
mit erhobenem Haupte eilten sie fort.
Sie schauten nicht rückwärts, sie ruhten nicht.
Sie schwanden im fernen blauenden Dunst.
Sie kreuzten Wiesen und Hügel
und zogen durch fremde entlegene Lande.
Ehre sei dir, du heldisches Heer,
auf unendbarem Pfade!
Spott und Verachtung spornten mich,
weiter zu wandern,
aber sie fanden nicht Antwort in mir.
Ich gab mich verloren in Tiefen glücklicher Demut,
im Schatten dämmriger Freude.

Die Ruhe der sonnengesäumten grünen Dämmrung
legte sich langsam über mein Herz.
Ich vergaß, warum ich gewandert,
und ergab meinen Geist ohne Kampf
dem Gewirre von Schatten und Liedern.

Zuletzt erwacht ich vom Schlummer
und öffnet die Augen,
da sah ich dich vor mir stehn,
meinen Schlaf überflutet
von deinem Lächeln.
Wie hatt ich gefürchtet,
daß der Pfad mir zu lang
und ermüdend,
und der Kampf dich zu erreichen
zu hart sei!
_____


49.

Du kamst herab von deinem Thron
und standest am Tor meiner Hütte.

Ich sang ganz allein für mich in einer Ecke,
und dein Ohr fing meine Melodien auf.
Du kamst herab und standest am Tor
meiner Hütte.

Meister sind viele in deiner Halle,
und Sänge singt man dort alle Stunden.
Aber des Neulings einfaches Loblied
traf deine Liebe.
Die klagende kleine Weise
mischte sich mit der großen Musik der Welt,
und du kamst mit einer Blume als Preis herab
und hieltest am Tor meiner Hütte.
_____


50.

Ich ging als Bettler von Tür zu Türe
am Dorfweg.
Da erschien in der Ferne
dein goldner Wagen,
wie schimmernder Traum,
und ich wunderte mich,
wer dieser König der Könige sei.

Meine Hoffnung stieg hoch,
und mir deuchten die schlimmen Tage vorbei,
ich stand Almosen erwartend,
die ungebeten verschenkt,
und Reichtum,
rings in den Staub geschüttet.

Der Wagen hielt, wo ich stand.
Dein Blick fiel auf mich,
du stiegst nieder mit Lächeln.
Ich fühlte, das Glück meines Lebens
sei endlich gekommen.
Da plötzlich strecktest du deine Rechte aus
und sprachst: »Was hast du mir zu geben?«

O welch ein Königscherz wars,
die Hand zu öffnen, dem Bettler zu betteln!
Ich war verwirrt, stand unentschlossen,
und aus dem Quersack nahm ich langsam
das kleinste Korn und gab es dir.

Doch wie groß mein Erstaunen,
als am Ende des Tages
den Sack ich geleert auf dem Boden,
zuletzt ein kleines Korn von Gold
unter dem armen Haufen zu finden.
Und bitterlich weint ich und wünschte,
ich hätte das Herz gehabt,
dir mein Alles zu geben.
_____


51.

Die Nacht dunkelte.
Unser Tagewerk war getan.
Wir glaubten den letzten Gast
gekommen zur Nacht,
und die Tore des Dorfes wurden geschlossen.
Nur einige riefen:
»der König wird kommen.«
Wir aber lachten und sprachen:
»Es kann nicht sein.«

Uns schien, es klopfte am Tor,
doch wir sagten, es sei nur der Wind.
Wir löschten die Lampen
und legten uns nieder zum Schlaf.
Nur einige riefen:
»Der Bote ists.«
Wir aber lachten
und sprachen: »Es ist nur der Wind.«

Da kam ein Ton durch die tiefe Nacht.
Uns Schläfrigen deucht es wie Donner.
Die Erde erbebte, die Mauern wankten
und störten uns auf vom Schlaf.
Nur einige riefen:
»Der Ton von Rädern wars.«
Wir aber murmelten schläfrig:
»Es muß das Krachen der Wolken sein!«

Die Nacht war noch dunkel,
da klang die Drommete.
Die Stimme rief:
»Wacht auf, zögert nicht!«
Wir drückten die Hände aufs Herz
und schauderten furchtsam.
Nur einige riefen:
»Schaut das Banner
des Königs!«
Wir sprangen auf unsre Füße und schrien:
»Dann ist keine Zeit zum Verzug!«

Der König kam, – doch wo sind Lichter
und wo sind Kränze?
Wie ist ihm der Thron bereitet?
O Schmach, o tiefe Schmach.
Wo ist die Halle, der Schmuck?
Und einer rief: »Eitel dies Schrein!
Grüßt ihn mit leeren Händen,
führt ihn zu euren nackten Stuben.«

Öffnet die Tore, blast auf die Muschel!
In der Tiefe der Nacht kam der König
zu unsern dunkeln Häusern.
Der Donner brüllt in den Himmel,
das Dunkel erschauert von Blitzen.
Bring heraus den verschlissenen Teppich
und breit ihn im Hof aus.
Mit dem Wetter kam plötzlich
der König in furchtreicher Nacht.
_____


52.

Mir deuchte, ich sollte dich bitten
– doch wagt ich es nicht –
um den Rosenkranz,
den du im Nacken trugst.
So wartet ich bis zum Morgen, da du gingst,
um ein paar Brocken auf deinem Bette zu finden.
Und wie ein Bettler sucht ich im Zwielicht
um ein oder zwei verstreute Blätter.

Doch sieh! Was find ich?
Welch ein Zeichen ließ deine Liebe?
Es ist nicht Blüte, nicht Weihrauch
und kein Gefäß mit duftendem Wasser.
Es ist dein mächtiges Schwert,
flammend wie Feuer,
schwer wie ein Donnerkeil.
Das junge Licht des Morgens
kommt durch das Fenster
und breitet sich über das Bett aus.
Die Morgenvögel zwitschern
und fragen: »Weib, was hast du gefunden?«
Nein, es ist nicht Blüte, nicht Weihrauch
und nicht ein Gefäß mit duftendem Wasser
– es ist dein schreckliches Schwert.

Ich sitze und sinne dem Wunder,
was heißt diese Gabe von dir?
Ich find keinen Platz,
wohin ich es berge.
Ich schäme mich, es zu tragen,
schwach wie ich bin,
es verletzt mich,
wenn ich an den Busen es drücke.
Doch werde ich im Herzen tragen
die Ehre der Schmerzenslast
dieser Gabe von dir.

Von nun an soll keine Furcht der Welt in mir sein
und siegen sollst du in allen meinen Kämpfen.
Du ließest den Tod als meinen Gefährten
und ich will ihn krönen mit meinem Leben.
Dein Schwert ist mit mir,
um meine Bande entzwei zu schneiden
und keine Furcht der Welt soll in mir sein.

Von jetzt an entlaß ich allen eitlen Schmuck,
Herr meines Herzens,
nie mehr will ich warten und weinen in Winkeln,
kein scheues, sanftes Benehmen mehr.
Du hast mir dein Schwert zum Schmuck gegeben –
ein Puppenschmuck ist mehr für mich!
_____


53.

Schön ist dein Armband mit Sternen bedeckt
und künstlich getrieben
in tausendfarbigen Juwelen.
Doch schöner ist mir dein Schwert
mit seinen Ringen von Blitzen
wie die ausgespannte Schwinge
des göttlichen Vogels des Vischnu,
vollkommen gefärbt im zornroten Lichte
der sinkenden Sonne.

Es bebt wie das eine letzte Zucken
des Lebens in der Ekstase der Pein
beim Streiche des Todes;
es leuchtet auf,
wie die reine Flamme des Seins,
die den irdischen Sinn
auflodernd verzehrt.

Schön ist dein Armband
mit Sternensteinen besetzt,
aber dein Schwert,
o Herr des Donners,
ist geschmiedet mit äußerster Schönheit,
schrecklich zu schaun
und zu denken.
_____


54.

Ich bat dich um nichts,
ich nannte nicht meinen Namen
vor deinem Ohr.
Als du Abschied nahmst,
stand ich schweigend.
Ich war am Brunnen allein,
wo querhin der Schatten des Baums fällt,
die Frauen gingen nach Haus
mit ihren braunen irdenen Krügen
bis zum Rande gefüllt.
Sie riefen mir laut, »komm mit uns,
der Morgen geht auf den Mittag«,
doch ich zögerte träge
in dämmerndes Sinnen verloren.

Ich vernahm deinen Schritt nicht,
wie du kamst.
Dein Blick war traurig,
da er mich traf,
deine Stimme müde,
als du leise sprachst–
»Ach, ich bin ein durstiger Waller«.
Ich fuhr auf aus wachem Traum
und goß Wasser vom Krug
auf deine gefalteten Hände.
Zu Häupten rauschten die Blätter,
der Kuckuck sang
unsichtbar aus dem Dunkel,
der Duft der Bablablumen
kam von der Krümmung
des Wegs her.

Sprachlos stand ich in Scham,
als du meinen Namen fragtest.
Was tat ich für dich,
daß du meiner gedenkst.
Doch die Erinnerung,
daß ich dir Wasser durfte reichen,
den Durst dir zu löschen,
haftet in meinem Herzen,
durchtränkt es mit Süße.
Der Morgen ist spät,
die Vögel singen in müden Tönen,
die Blätter des Paternosterbaums
rauschen zu Häupten
– ich sitze und sinne und sinne.
_____


55.

Matt ist dein Herz und der Schlaf liegt
noch auf dem Aug dir.

Kam nicht das Wort zu dir,
daß die Blüte in Herrlichkeit
herrscht unter Dornen?
Wach, o wach auf!
Laß nicht die Zeit vergeblich zerrinnen!

Am Ende des steinigen Pfads,
im Land keuscher Einsamkeit,
sitzet mein Freund ganz allein.
Enttäusche ihn nicht.
Wach, o wach auf!

Was tuts, wenn der Himmel
in Hitze des Mittags flimmert und flittert –
wenn der brennende Sand
seinen Mantel des Dursts entfaltet –

Freust du dich nicht
bis zum Grund deines Herzens?
Wird nicht bei jedem Schritt deiner Füße
die Harfe des Wegs auftönen
in süßer Musik der Schmerzen?
_____


56.

Drum ist deine Freude in mir so voll.
Darum kamst du zu mir herab,
o du Herr aller Himmel,
wo wäre deine Liebe,
wenn ich nicht wäre?

Du nahmst als Gefährten mich
all deines Reichtums.
In meinem Herzen spielst du
das ewige Spiel deiner Lust,
in meinem Leben nimmt
dein Wille ewig Gestalt an.

Und deshalb hast du, König der Könige,
in Schönheit dich angetan,
mein Herz zu umgarnen.
Und deshalb verliert deine Liebe sich
in der Liebe des Liebenden,
so wirst du geschaut in vollkommener
Vereinigung von Zwein.
_____


57.

Licht, mein Licht,
weltfüllendes Licht,
augenküssendes,
herzbesänftigendes
Licht!

Ha, das Licht tanzt, mein Liebling,
im Herzen meines Lebens.
Das Licht rührt, mein Liebling,
die Saiten der Liebe mir,
der Himmel öffnet sich,
der Wind weht wild,
ein Lachen fährt über die Erde.

Die Falter breiten die Segel
über das Meer von Licht;
Jasmin und Lilien sprießen empor
in die Wogen des Lichts.

Das Licht zerstreut das Gold
über jede Wolke, mein Liebling,
und es streut
verschwenderisch Juwelen.

Frohsinn hüpfet von Blatt zu Blatt,
mein Liebling,
und maßlose Freude.
Der Strom des Himmels verläßt seine Ufer,
austreten die Fluten der Freude.
_____


58.

Lass alle Spannung der Freude austönen
in mein letztes Lied –
Freude, die die Erde überfließen macht
in schwelgischen Massen des Grases,
Freude, die Leben und Tod
als Zwillings-Brüder setzt,
Freude, die über die weite Erde tanzt
und sich in den Sturm mischt,
alles Leben durchrüttelnd
und schüttelnd mit Lachen,
Freude, die still in Tränen
auf rotem Lotos der Pein ruht,
Freude, die alles, was sie besitzt,
in den Staub wirft
und kein Wort kennt.
_____


59.

Ich weiß, das ist nichts
als deine Liebe,
Geliebter du meines Herzens –
das goldene Licht,
das über die Blätter tanzt,
die müßigen Wolken,
die durch den Himmel segeln,
der sanfte Windhauch,
der seine Kühle auf meiner Stirn läßt.

Das Morgenlicht überflutet mein Auge
– das ist die Botschaft von dir an mein Herz.
Dein Antlitz beugt sich herab,
deine Augen schauen auf die meinen,
und mein Herz berührt deine Füße.
_____


60.

Am Seestrand endloser Welten
treffen sich Kinder.
Der unbegrenzte Himmel
hängt reglos zu Häupten,
das rastlose Wasser
ist ungestüm.
Am Seestrand endloser Welten
treffen sich Kinder
mit Rufen und Tanzen.

Sie baun ihre Häuser aus Sand
und spielen mit leeren Muscheln.
Aus welken Blättern flechten sie Boote
und lassen sie lächelnd ziehen
auf der endlosen Tiefe.
Kinder haben ihr Spiel
am Seestrand der Welten.

Sie wissen nicht, wie man schwimmt,
sie wissen nicht, wie man Netze wirft,
Perlfischer tauchen nach Perlen,
Kaufleute segeln in Schiffen,
während Kinder Steine sammeln
und Steine zerstreun.
Sie suchen nicht nach verborgenen Schätzen,
sie wissen nicht,
wie man Netze wirft.

Die See braust auf in Gelächter,
schwach schimmert das Lächeln der Küste.
Todtragende Wogen
erzählen den Kindern sinnlose Lieder,
gleich einer Mutter,
wenn sie die Wiege des Kinds wiegt.
Die See spielt mit Kindern,
schwach schimmert das Lächeln der Küste.

Am Seestrand endloser Welten
treffen sich Kinder.
Der Sturm rast in pfadlosem Himmel
und Schiffe scheitern auf spurlosem Wasser,
der Tod ist draußen
und Kinder spielen.
Am Seestrand endloser Welten
ist der große Spielplatz der Kinder.
_____


61.

Der Schlaf, der auf Kindesauge ruht –
weiß jemand, woher er kommt?
Es geht ein Gerücht,
er hat seine Wohnung im Feendorf,
wo im Waldesschatten,
den schwach Glühwürmchen erhellen,
zwei zarte Zauberknospen hängen.
Dort kommt er her,
des Kindes Aug zu küssen.

Das Lächeln, das über Kindermund huscht im Schlaf –
weiß jemand, wo es geboren ist?
Es geht das Gerücht,
daß ein junger Strahl
des wachsenden Monds
den Rand einer vergehenden Wolke
im Herbst traf –
dort ward das Lächeln geboren
im Traum eines taufeuchten Morgens,
das Lächeln,
das über Kindermund huscht im Schlaf.

Die süße Frische,
die Kinderglieder sanft umblüht,
weiß jemand, wo sie so lang sich barg?
Ja, als die Mutter noch Braut war,
da drang ihr durchs Herz
in zartem stillen Geheimnis der Liebe –
die süße Frische,
die Kinderglieder sanft umblüht.
_____


62.

Bring ich dir buntes Spielzeug, mein Kind,
dann versteh ich,
warum es ein Spiel gibt
von Farben und Wolken
und Wasser,
warum die Blumen so farbig getönt sind –
bring ich dir buntes Spielzeug,
mein Kind.

Wenn ich sing, um dich tanzen zu lassen,
so weiß ich wahrlich,
warum Musik in den Blättern ist,
warum die Wogen den Chor der Stimmen
zum Herzen der lauschenden Erde tragen –
wenn ich sing
um dich tanzen zu lassen.

Bring ich dir Süßigkeit
für deine gierigen Händchen,
weiß ich, weshalb es Honig gibt
im Kelche der Blumen,
warum die Früchte sich heimlich
mit süßen Säften anfüllen –
bring ich dir Süßigkeit
für deine gierigen Händchen.

Wenn ich dein Angesicht küsse, mein Liebling,
dich lächeln zu machen,
verstehe ich sicher die Lust,
die vom Himmel herab
in das Morgenlicht flutet,
und welch Entzücken der Sommerwind
meinem Leib bringt,
wenn ich dich küsse,
dich lächeln zu machen.
_____


63.

Du führtest zu Freunden mich,
die ich nicht kannte.
Du wiesest den Sitz mir im Hause,
das nicht mein eigen.
Du brachtest das Ferne mir nah
und machtest mich Bruder dem Fremden.

Mein Herz ist voll Unruh,
wenn ich verlassen muß
das vertraute Obdach,
und ich vergesse,
daß altes immer im neuen wohnt,
daß auch du dort wohnst.

Durch Geburt und Tod, in dieser Welt
oder in andern,
wohin du mich führst,
du bist es, derselbe, der ein Gefährte
des endlosen Lebens,
der immer mein Herz
mit den Banden der Freude
dem Ungewohnten verbindet.

Dem, der dich kennt, ist nichts mehr fremd,
keine Tür ist verschlossen.
O, gewähr dies Gebet mir,
daß ich nie den Segen verliere,
das Eine zu fassen
im Spiele der Vielen.
_____


64.

Am Abhang des einsamen Flusses,
im hohen Gras sprach ich zu ihr:
»Mädchen, wo gehst du hin,
mit dem Mantel die Lampe beschattend? –
Mein Haus ist dunkel und einsam –
leih mir dein Licht!«
Sie schlug einen Augenblick
das dunkle Auge empor
und schaut mir durchs Dämmern ins Antlitz:
»Ich kam an den Fluß« so sprach sie,
»die Lampe aufs Wasser zu setzen,
wenn im Westen der Tag geht.«
Ich stand allein in dem hohen Gras
und gab acht auf das schüchterne Licht
ihrer Lampe, das nutzlos
trieb mit der Strömung.

Im Schweigen der steigenden Nacht
sprach ich zu ihr:
»Mädchen, die Lichter sind alle entzündet –
wohin trägst du die Lampe?
Mein Haus ist dunkel und einsam, –
leih mir dein Licht! «
Sie schlug ihre dunklen Augen ins Antlitz mir auf
und stand zweifelnd ein Weilchen.
 »Ich kam,« sprach sie endlich,
»dem Himmel die Lampe zu leihn.«
Ich stand und gab acht auf ihr Licht,
das nutzlos im Leeren
verbrannte.

Im mondlosen Dunkel der Mitternacht
sprach ich zu ihr:
»Mädchen, was ist deine Absicht,
die Lampe ans Herz dir zu drücken?
Mein Haus ist dunkel und einsam,
– leih mir dein Licht!« –
Sie hielt einen Augenblick an
und sann und schaut mir ins Antlitz im Dunkel.
»Ich bracht mein Licht,« sprach sie,
»es einzureihen dem Festzug der Lampen.«
Ich stand und gab acht auf die kleine Lampe,
nutzlos verloren unter den Lichtern.
_____


65.

Welchen göttlichen Trank wolltest du haben,
mein Gott, aus dem überfließenden Kelch
meines Lebens?

Mein Dichter, ist es dir Wonne,
die Schöpfung durch meine Augen zu sehn
und am Tor meiner Ohren zu stehn,
um schweigend zu lauschen
auf deine eigenen, ewigen Harmonien?

Deine Welt webt Worte in mein Gemüt,
doch deine Freude fügt die Musik hinzu.
Du gibst dich mir selbst in Liebe,
und dann fühlest du ganz
deine eigene Süße in mir.
_____


66.

Sie, die mir immer verblieb
in der Tiefe des Seins,
in des Zwielichts Flimmern und Schimmern,
sie, die nimmer den Schleier
im Morgenlichte entfaltet,
wird meine letzte Gabe an dich sein, mein Gott,
ganz eingehüllt in meinen Schlußgesang.

Worte warben um sie,
doch verfehlten sie zu gewinnen,
und Überredung streckte nach ihr
umsonst sehnsüchtige Arme.

Ich schweifte von Land zu Land
und hielt sie im innersten Herzen
und um sie stiegen und fielen
Wachstum und Verfall
meines Lebens.

All mein Denken und Tun,
meinen Schlaf, meine Träume
beherrschte nur sie
und wohnte allein doch und abseits.

Mancher klopft an mein Tor
und fragte nach ihr und
wandte sich in Verzweiflung.
Keiner war auf der Welt,
der jemals ihr Antlitz gesehen,
und sie blieb in der Einsamkeit
und wartet auf dein Erkennen.
_____


67.

Du bist der Himmel
und du bist auch das Nest.

Du Schöner,
dort ist deine Liebe
im Nest,
die umschließet die Seele mit Farben,
Tönen und Duft.

Da kommt der Morgen mit goldenem Korbe,
in seiner Rechten trägt er
den Kranz der Schönheit,
schweigend die Erde zu kränzen.

Und da kommt der Abend
über die einsamen Wiesen,
die von den Herden
verlaßnen auf spurlosen Pfaden,
er trägt kühle Lüfte des Friedens
in seinem goldenen Schlauch,
von dem westlichen Ozean der Ruhe.

Aber dort, wo der unendliche Himmel sich breitet,
in den sich die Seele
zum Fluge hebt,
dort herrscht der fleckenlose weiße Glanz.
Dort ist nicht Tag noch Nacht,
nicht Form noch Farbe
und nimmer, nimmer ein Wort.
_____


68.

Dein Sonnenstrahl kommt herab
auf diese meine Erde,
mit ausgebreiteten Armen
hält er an meiner Tür
den lieben langen Tag
und trägt zurück
zu deinen Füßen die Wolken,
gemacht aus meinen Tränen,
Seufzern und Sängen.

Mit zärtlicher Lust schlägst du
um deine Sternenbrust
den Mantel der feuchten Wolke
und wandelst sie um
zu zahllosen Formen und Falten
und färbst sie
mit immer wechselnden Farben.

Sie ist so leicht und schwebend
und zart und tränenvoll dunkel,
das kommt, weil du sie liebst,
o du Fleckenloser und Heiterer.
Und darum darf sie
dein hehres und weißes Licht
mit ihrem leidvollen Schatten decken.
_____


69.

Der gleiche Strom des Lebens,
der Tag und Nacht durch meine Adern fließt,
fließt durch die Welt
und tanzt in rhythmischen Maßen.

Das gleiche Leben ists,
das freudevoll durch den Staub
der Erde schießt
in zahllosen
Gräsern und ausbricht
in rauschenden Wogen
von Blättern und Blumen.

Das gleiche Leben ists,
das geschaukelt wird
in der Ozeanwiege
von Tod und Geburt,
von Ebbe und Flut.

Ich fühl meine Glieder erstrahlen
von der Berührung der Welt dieses Lebens.
Und mein Stolz stammt
aus dem Lebenspuls der Äonen,
die durch meine Adern
tanzen in diesem Augenblick.
_____


70.

Geht es über deine Kräfte,
fröhlich zu sein
mit diesem beschwingten Frohsinn?
Gefangen, vergangen, verloren
im Wirbel dieser angstvollen Freude?

Alle Dinge stürzen weiter,
sie halten nicht an,
sie schauen nicht zurück,
keine Macht hält sie auf,
sie stürzen weiter.

Schritt zu halten
mit der hinreißenden rastlosen Musik.
Jahreszeiten kommen tanzend und gehn.
Farben, Töne und Duft schütten
endlose Kaskaden in die überströmende Freude,
die umherstreut und hingibt
und stirbt in jedem Augenblick.
_____


71.

Daß ich viel machen sollte
aus meinem Selbst,
nach allen Seiten es wenden,
um in deinen Glanz farbige Schatten
zu werfen – das ist deine Maja.

Du setzest eine Schranke
im eignen Sein
und rufst dein getrenntes Selbst
in Myriaden Tönen.
Und diese deine Selbsttrennung ist
in mir Leib geworden.

Der helle durchdringende Sang hallt
durch den ganzen Himmel
in vielfarbigen Tränen und Lächeln,
Furcht und Hoffnung.
Wogen steigen und fallen wieder,
Träume zerrinnen und bilden sich.
In mir ist deine eigene Selbstvernichtung.

Die Schranke, die du errichtet,
ist bemalt mit zahllosen Gestalten,
mit dem Pinsel von Tag und Nacht.
Dahinter ist dein Thron
gewoben in wunderbar
geheimnisvollen Schnörkeln,
verworfen sind alle Linien,
die kahl und gerade sind.

Das große Schauspiel von dir und mir
hat sich über den Himmel gebreitet.
Von der Melodie von dir und mir
erzittern die Lüfte,
Zeitalter vergehen
mit dem Verbergen und Suchen
von dir und mir.
_____


72.

Er ist es, der Innerste,
der mein Wesen erweckt
mit seiner verborgenen
Berührung.

Er ist es, der seinen Zauber
auf diese Augen legt
und freudig auf den Saiten meines Herzens
spielt in wechselvoller Weise
von Lust und Schmerz.

Er ist es, der den Schleier
der Maja webt in flüchtigen Farben
von Gold und Silber,
von Blau und Grün,
der durch die Falten
seine Füße schimmern läßt,
bei deren Berührung ich mich vergesse.

Tage kommen, Zeitalter gehn
und er ist es immer,
der mein Herz
unter manchem Namen bewegt
in mancher Verkleidung,
in mancher Verzückung
von Freude und Sorge.
_____


73.

Befreiung liegt nicht für mich
im Verzicht.
Ich fühl die Umarmung der Freiheit
in tausend Banden der Lust.

Du schenkest mir immer
den frischen Trunk deines Weines,
verschieden in Farbe und Duft
und füllest die irdene Schale
zum Rande.

Meine Welt entzündet
die hundert verschiedenen Lampen
an deiner Flamme
und stellt sie auf am Altar
deines Tempels.

Nein, ich will nimmer die Tore
der Sinne verschließen.
Die Wonnen des Sehens
und Hörens und Tastens,
sie werden deine Wonnen tragen.

Ja, all meine Trugbilder
werden zu Freudenfackeln entbrennen
und all mein Begehren
zu Früchten der Liebe reifen.
_____


74.

Es ist nicht mehr Tag,
der Schatten liegt auf der Erde.
Es ist Zeit,
daß zum Fluß ich gehe,
den Krug zu füllen.

Die Abendluft ist schwanger
von dunkler Musik der Wasser –
es ruft mich ins Zwielicht hinaus.
In der einsamen Gasse
geht Niemand vorüber,
der Wind ist auf,
die Wellen kräuseln sich
auf dem Flusse.

Ich weiß nicht, ob ich je
heimwärts wiederkehre,
ich weiß nicht, wen mir
der Zufall entgegenführt.
Dort bei der Furt
in dem kleinen Boot
spielt der Unbekannte
auf seiner Flöte.
_____


75.

Deine Gaben erfüllen
all unsre Notdurft uns Sterblichen
und kommen zu dir zurück unvermindert.

Der Fluß hat sein Tagwerk zu tun
und eilt durch Felder und Weiler;
doch windet sein unaufhaltbarer Strom
zu deinen Füßen sich,
um sie zu waschen.

Die Blume durchtränkt die Lüfte mit Duft,
doch ihre letzte Verehrung
bietet sich dir dar.

Dein Dienst verarmt nicht die Welt.

Den Worten des Dichters entnehmen
die Menschen den Sinn,
der ihnen gefällt;
doch ihr letzter Sinn
deutet auf dich.
_____


76.

Werd ich Tag für Tag,
o Herr meines Lebens
vor dir stehn
von Angesicht zu Angesicht?

Mit gefalteten Händen,
o Herr aller Welten,
werd ich vor dir stehn
von Angesicht zu Angesicht?

Unter deinem großen Himmel
in Schweigen und Einsamkeit
mit demütigem Herzen
werd ich vor dir stehn
von Angesicht zu Angesicht?

In dieser deiner geschäftigen Welt,
geräuschvoll von Mühen und Kämpfen
werd ich vor dir stehn
von Angesicht zu Angesicht?

Und wenn mein Werk getan ist
in dieser Welt, o König der Könige,
werd ich allein und sprachlos
vor dir stehn von Angesicht zu Angesicht?
_____


77.

Ich erkenne dich
als meinen Gott
und steh bei Seite –
ich kenne dich nicht
als mein Eigen
und komme nicht näher.
Ich kenne dich
als meinen Vater
und neige mich deinen Füßen –
ich fasse nicht
deine Hand
wie die eines Freundes.

Ich stehe nicht,
wo du herabkommst,
um mich zu erkennen
und dich mir zu eigen gibst,
um dort dich ans Herz zu drücken
und dich als Gefährten zu wählen.

Du bist der Bruder
unter meinen Brüdern,
doch ich beachte sie nicht
und teile nicht mein Verdienst mit ihnen,
um alles mit dir zu teilen.

In Freude und Leid steh ich nicht
auf Seite der Menschen und so steh ich bei dir.
Ich schaudre, mein Leben aufzugeben
und so tauch ich nicht
in das große Wasser des Lebens.
_____


78.

Als nun die Schöpfung neu war
und alle Sterne schienen im ersten Glanze,
da hielten die Götter Versammlung
im Himmel und sangen:
»O Bild der Vollendung!
o lautere Freude!«

Doch einer rief plötzlich:
»Es scheint, die Kette des Lichtes zerbrach
und ein Stern ging verloren!«

Die Saite der goldenen Harfe zersprang,
ihr Lied verstummt, und sie riefen
im Schrecken: »Der verlorne Stern war
der beste, er war der Ruhm aller Himmel.«

Seit diesem Tag hört das Suchen nicht auf,
der Schrei geht von Mund zu Mund,
daß die Welt ihre einzige Freude verlor.

Nur im tiefsten Schweigen der Nacht,
da lächeln die Sterne und flüstern untereinander:
»Umsonst ist dies Suchen!
Unversehrte Vollendung herrscht überall.«
_____


79.

Ists nicht mein Teil
dich zu treffen in diesem Leben,
dann laß mich immer fühlen,
daß ich verfehlt deinen Anblick
– laß mich nimmer vergessen,
laß mich tragen den Stachel
der Sorge im Traum
wie in wachen Stunden.

Wenn meine Tage vergehen
auf wimmelndem Markt dieser Welt
und meine Hände sich füllen
mit täglichem Vorteil,
laß immer mich fühlen,
daß nichts ich gewonnen –
laß mich nimmer vergessen,
laß mich tragen den Stachel der Sorge
im Traum wie in wachen Stunden.

Wenn ich am Wegrand sitze,
ermüdet atmend,
wenn ich mein Bett
im niederen Staube bereitet,
laß immer mich fühlen,
daß meine lange Reise noch vor mir ist –
laß mich nimmer vergessen,
laß mich tragen den Stachel der Sorge,
im Traum wie in wachen Stunden.

Wenn meine Zimmer festlich geschmückt sind,
die Flöten tönen
und laut das Gelächter,
laß immer mich fühlen,
daß ich nicht dich in mein Haus lud –
laß mich nimmer vergessen,
laß mich tragen den Stachel
im Traum wie in wachen Stunden.
_____


80.

Ich bin wie ein Fetzen der Herbst-Wolke,
nutzlos streifend im Himmel,
O meine Sonne, ewig klare!
Dein Strahl hat meinen Dunst
nicht aufgetrunken,
um deinem Licht mich zu einen,
so zähle ich Monde und Jahre,
getrennt von dir.

Wenn dies dein Wunsch
und wenn dies dein Spiel,
dann nimm meine flüchtige Leere,
mal sie mit Farben, vergolde mit Gold sie,
treib sie auf dem wehenden Winde,
gestalte zu mancherlei Wunder sie.

Und wieder ist es dein Wunsch,
zu enden dies Spiel über Nacht,
dann werde ich schmelzen und hingehn ins Dunkel
oder im Lächeln des weißen Morgens
in der Kühle der reinen Klarheit vergehn.
_____


81.

An manchem müßigen Tag
grämte ich mich der verlornen Zeit.
Doch sie war nie verloren, o Herr.
Du nahmst jeden Augenblick
meines Lebens in deine
Hände.

Im Herzen der Dinge verborgen
ernährst du den Samen zum Sproß,
die Knospe zur Blüte,
die reifende Blume
zur Frucht.

Ich war müde und schlief
auf müßigem Bett und glaubte,
mein Werk wäre zu Ende.
Am Morgen erwachte ich
und fand meinen Garten voll vom Wunder
der Blumen.
_____


82.

Die Zeit ist endlos
in deinen Händen, o Herr.
Niemand zählt deine Minuten.

Tage und Nächte gehn,
Zeitalter blühen und welken
wie Blumen.
Du weißt zu warten.

Jahrhunderte folgen einander,
um eine kleine wilde Blume
zu vollenden.

Wir aber haben nicht Zeit zu verlieren,
und da sie uns fehlt,
müssen wir unser Glück erraffen.
Wir sind zu arm,
um zu spät zu kommen.

Und so ists, daß die Zeit geht,
ich gebe sie jedem,
der sie zudringlich begehrt,
und dir bleibt der Altar leer
von Gaben bis zum Letzten.

Am Ende des Tages eil ich, fürchtend,
dein Tor sei geschlossen;
doch finde ich,
daß dort noch Zeit ist.
_____


83.

Mutter, ich werd eine Perlenkette
für deinen Nacken aus meinen Tränen
der Sorge weben.

Die Sterne flochten die Ringe von Licht,
deinen Fuß zu schmücken,
doch meine Kette
hängt auf deiner Brust dir.

Reichtum und Ruhm kommt von dir,
dir gebührt es zu geben und zu versagen.
Aber der Schmerz ist mein eigen durchaus,
wenn ich dir ihn
als mein Opfer bringe,
lohnest du mir mit deiner Gnade.
_____


84.

Es ist das Weh der Trennung,
das durch die Welt sich verbreitet,
Gestalten unzählbar gebiert
im unendlichen Himmel.

Es ist dieser Schmerz der Trennung,
der nächtlich im Schweigen starret
von Stern zu Stern
und Gesang wird unter
dem raschelnden Laub
des regnichten, dunkelen Juli.

Es ist dies überfließende Weh,
das sich in Liebe vertieft und Begehren,
in Leiden und Freuden
der Menschenwohnung,
dies ist es, das immer schmilzt und fließet
im Lied durch mein Dichterherz.
_____


85.

Als aus der Halle des Meisters
zuerst die Krieger traten,
wo hatten sie ihre Macht verborgen?
Wo waren Rüstung und Waffen?

Sie blickten arm und hilflos,
die Pfeile hagelten auf sie nieder,
am Tage, da sie
aus ihres Meisters Halle traten.

Als die Krieger wieder zurück
in ihres Meisters Halle schritten,
wo verbargen sie ihre Macht?

Sie hatten das Schwert von sich gelegt
und Bogen und Pfeile;
Frieden thronte auf ihrer Stirn,
sie hatten die Früchte
ihres Lebens zurückgelassen,
an dem Tag,
da sie wieder zurück
zu ihres Meisters Halle schritten.
_____


86.

Tod, dein Diener ist an meiner Tür.
Er hat die unbekannte See gekreuzt
und deine Botschaft in mein Haus gebracht.

Die Nacht ist dunkel, mein Herz ist furchtsam,
und doch will ich die Lampe nehmen,
mein Tor ihm öffnen,
und ihm Willkommen bieten.
Dein Bote ists,
der vor meiner Türe steht.

Ich will ihn ehren mit gekreuzten Händen,
ihn ehren mit Tränen.
Ich will ihn ehren und ihm zu Füßen legen
den Schatz meines Herzens.

Er wird fortgehn,
wenn er den Auftrag gesagt
und wird auf meinem Morgen
einen dunkelen Schatten lassen,
in meinem verlassenen Heim bleibt
nur mein verlorenes Selbst,
meine letzte Gabe für dich.
_____


87.

Voll verzweifelter Hoffnung
geh ich umher und suche nach ihr
in allen Winkeln des Hauses,
ich finde sie nicht.

Mein Haus ist klein, und was einmal ging,
kann sich nie wiederfinden.
Aber unendlich groß
ist dein Haus, o Herr,
und sie suchend kam ich an deine Tür.

Ich stehe unter dem goldenen Dach
deines Abendhimmels
und hebe die flehenden Augen
zu deinem Antlitz.

Ich kam zum Rande der Ewigkeit,
in der nichts schwindet –
nicht Hoffnung, nicht Glück
und nicht das Bild eines Angesichtes
durch Tränen geschaut.

O, tauch mein entleertes Leben
in jenen Ozean,
versenk es in seine tiefste Fülle.
Laß mich noch einmal fühlen
im weiten Weltall
die süße verlorne Berührung.
_____


88.

Gottheit des zertrümmerten Tempels!
Die zerrissenen Saiten
der Vina singen nicht mehr deinen Preis.
Die Glocken des Abends
verkünden nicht mehr
deines Dienstes Stunde.
Die Luft ist still und schweigend rings um dich.

In deine zerstörte Wohnung
kommen die duftigen Frühlingslüfte.
Sie bringen die Botschaft der Blumen –
der Blumen, die man nicht mehr
weihet zu deinem Dienst.

Dein Priester von einst
sehnt sich wandernd noch immer
nach dem verweigerten Opfer.
Am Abend, wenn Feuer und Schatten
sich mischen dem Dunkel des Staubes,
dann kommt er müde zurück
zum zerstörten Tempel
mit Hunger im Herzen.

Manch ein Festtag kommt zu dir
im Schweigen,
du Gott des zerstörten Tempels.
Manche Nacht der Anbetung geht,
und die Lampen sind nicht entzündet.

Viele neue Bilder wurden
von Meisterhand schön gebildet
und hin zum heiligen Strom
des Vergessens getragen,
wenn ihre Zeit kam.

Nur die Gottheit des zerstörten Tempels
bleibt immer unverehrt,
unsterblich verachtet.
_____


89.

Kein lautes, geräuschvolles Wort
mehr von mir –
so ist meines Meisters Wille.
Hinfort sprech ich
nur noch im Flüstern.
Meines Herzens Sprache
wird in dem Murmeln
eines Gesanges getragen.

Die Menschen hasten zu des Königs Markt.
Verkäufer und Käufer sind alle dort.
Ich aber erhielt unzeitigen Urlaub
inmitten des Tags im Gedränge der Arbeit.

Lass denn die Blumen im Garten erblühen,
wenn es auch nicht ihre Zeit ist;
und laß die Mittagsbiene
ihr träges Summen beginnen.

Gar manche Stunde verbracht ich
im Kampfe von Gut und von Böse,
nun aber will es die Gunst
meines Gespielen in leeren Tagen,
mein Herz an sich zu ziehen;
und ich weiß nicht,
warum dieser plötzliche Ruf,
zu welch nutzlosem Ziel.
_____


90.

An dem Tage, da der Tod
an deine Türe klopfen wird,
was willst du ihm bieten?

Ich will vor meinen Gast
das volle Gefäß meines Lebens setzen –
ich werde ihn nicht
mit leeren Händen lassen!

Die ganze süße Kelter meines Herbstes,
meiner Sommernächte,
die ganze Ernte und der Gewinn
des geschäftigen Lebens,
das breit ich vor ihm aus
am Schlusse meiner Tage,
wenn der Tod
an mein Tor klopfen wird.
_____


91.

O du letzte Erfüllung des Lebens, Tod,
mein Tod, komm, flüstre mir zu!

Tag um Tag hab ich gewartet auf dich,
für dich trug ich die Freuden und Schmerzen
des Lebens.

All was ich bin und habe und hoffe
und all meine Liebe flossen immer zu dir
in tiefem Geheimnis.
Ein letzter Blick deiner Augen
und mein Leben wird immer
dein eigen sein.

Die Blumen sind alle gepflückt,
und der Kranz ist bereit
für den Bräutigam.
Nach der Hochzeit verläßt die Braut ihr Heim,
ihren Herrn zu treffen allein
in der Einsamkeit der Nacht.
_____


92.

Ich weiß, es wird kommen der Tag,
wenn mein Blick diese Welt verliert,
das Leben Abschied nimmt in Schweigen,
der letzte Vorhang mir über die Augen fällt.

Die Sterne werden wachen zur Nacht,
der Morgen aufsteigen wie einst,
die Stunden sich heben,
wie Wogen aufsteigen
in Freuden und Schmerzen.

Denk ich des Ziels meiner Stunden,
dann bricht der Stunden Schranke,
ich sehe beim Lichte des Todes
die Welt mit ihren gleichgültigen Schätzen.
Leicht wiegt ihr niederster Sitz
und leicht das geringste Leben.

Dinge, die ich umsonst ersehnt
und Dinge, die ich erlangt hab –
mögen sie ziehn.
Laß mich nur wahrhaft besitzen die Dinge,
die stets ich verspottet
und übersehn.
_____


93.

Ich hab meinen Urlaub erhalten,
so sagt mir lebwohl, meine Brüder.
Ich neige mich allen
und nehm meinen Abschied!

Hier geb ich zurück die Schlüssel des Tors –
und verzichte auf allen Anspruch im Hause.
Ich bitte nur noch
um letzte gütige Worte von euch.

Wir waren Nachbarn lang,
doch empfing ich mehr
als ich geben konnte.
Der Tag bricht an, die Lampe erlosch,
die mir den dunkeln Winkel erhellte.
Ein Befehl kam zu mir,
ich bin fertig zur Reise.
_____


94.

In dieser Zeit meines Abschieds
wünscht mir gut Glück, meine Freunde!
Der Himmel errötet im Frühlicht,
der Pfad liegt schön vor mir.

Fragt nicht, was ich mit mir nehme.
Ich beginne die Reise mit leerer Hand
und erwartendem Herzen.

Ich lege mein Hochzeitskleid an
und nicht die rotbraune Kutte der Waller.
Und drohn auch Gefahren mir unterwegs,
ich fürchte mich nicht.

Der Abendstern kommt heraus,
wenn meine Wandrung am Ziel ist,
und die klagenden Töne
der Zwielichtmelodien
erklingen vom Torweg des Königs.
_____


95.

Ich wußte den Augenblick nicht,
da ich einst die Schwelle
des Lebens beschritt.

Was war die Macht, die mich hieß,
mich zu öffnen in dieses weite Geheimnis,
gleich wie die Knospe im Mitternachtswalde.

Als ich am Morgen emporschaut
ins Licht, fühlt ich augenblicks,
daß ich kein Fremder war
in der Welt und daß das Unerforschbare,
das ohne Namen ist und Gestalt,
mich in seinen Arm nahm
in Gestalt meiner Mutter.

So wird der Tod, der gleiche Unbekannte,
mir erscheinen als immer gekannt.
Und weil ich dies Leben so liebe,
so weiß ich, daß ich den Tod
gleich lieben werde.

Das Kind schreit auf,
nimmt die Mutter es fort
von der rechten Brust,
um augenblicks
den Trost an der linken zu finden.
_____


96.

Wenn ich von hier geh,
mag dies mein Abschiedswort sein,
daß unübertrefflich ist,
was ich gesehn.

Ich kostete
den verborgenen Honig dieses Lotos,
der sich ausdehnt
auf dem Ozean von Licht –
so bin ich gesegnet –
sei dies mein Abschiedswort.

Auf dem Spielplatz unendlicher Formen
hatt ich mein Spiel,
dort hab ich ihn erblickt,
der formlos ist.

Mein ganzer Leib und meine Glieder
erbebten bei seiner Berührung,
der jenseits Berührung ist –
und kommt das Ende hier –
laßt es kommen –
dies sei mein Abschiedswort.
_____


97.

Als ich mit dir spielte,
fragte ich nie, wer du bist.
Ich kannte nicht Scheu noch Furcht,
mein Leben war lärmend.

Am frühen Morgen
riefest du mich vom Schlaf auf
wie einer meiner Gefährten,
und führtest mich laufend
von Lichtung zu Lichtung.

In jenen Tagen sorgte ich nicht
um den Sinn des Sanges,
den du mir sangst.
Nur meine Stimme nahm deinen Ton auf,
und in seinen Kadenzen
tanzte mein Herz.

Nun die Spielzeit vorbei,
was heißt das Gesicht,
das mir plötzlich kam?
Die Welt, den Blick auf deine Füße gesenkt,
steht in Ehrfurcht
mit all ihren schweigenden Sternen.
_____


98.

Ich schmücke dich mit Trophäen
und Kränzen von meinen Mängeln.
Es steht nicht in meiner Macht,
daß ich unbesiegt entkomme.

Ich weiß, mein Stolz rennt
gegen die Mauer,
mein Leben zerbricht seine Bande
in tausend Schmerzen,
mein leeres Herz
schluchzt aus in Musik,
wie ein hohles Rohr,
und der Stein wird in Tränen zerschmelzen.

Ich weiß gewiß,
die hundert Blätter des Lotos
sind nicht für immer geschlossen,
das geheime Gefäß seines Honigs
wird offenbar werden.

Vom blauen Himmel blicket ein Auge auf mich
und ruft mich schweigend.
Nichts wird mir bleiben, nichts,
was es auch sei,
den nackten Tod empfang
ich zu deinen Füßen.
_____


99.

Lass ich das Steuer fahren,
dann weiß ich, die Zeit kam für dich,
es zu nehmen.
Was nun zu tun ist,
soll auf der Stelle getan sein.
Umsonst ist das Sträuben.

So nimm deine Hände fort,
und schicke dich schweigend
in das Verlieren, mein Herz,
nimm es als gutes Glück,
ganz still zu sitzen,
wohin man dich setzte.

Ein jeder Windstoß blies meine Lampen aus
und bei dem Versuch, sie neu zu entzünden,
vergaß ich alles wieder und wieder.

Doch jetzt will ich weise sein
und warten im Dunkeln
und die Matte am Boden ausbreiten,
und wenn es dir gefällt, o Herr!
komm schweigend
und nimm deinen Sitz hier ein.
_____


100.

Ich tauch in die Tiefe
des Meeres der Gestalten,
ich hoffe dort die vollkommene Perle
des Ungeformten zu finden.

Ich segle nun nicht mehr
mit meinem verwitterten Boote
von Port zu Port.
Die Zeit ist vorbei, da es mir Lust war,
von Wogen geworfen zu werden.

Nun sehn ich mich hinzusterben
in das Unsterbliche.

In der Halle am unergründlichen Abgrund,
wo die Musik der tonlosen Saiten aufschwillt,
werd ich die Harfe meines Lebens
aufnehmen.

Ich werde sie auf den Ton
der Ewigkeit stimmen,
und wenn sie den letzten Laut
hinausgeschluchzt hat,
leg ich meine Harfe schweigend zu Füßen
des Schweigenden nieder.
_____


101.

Mein Leben lang haben dich
meine Lieder gesucht.
Sie führten mich hin von Tür zu Tür,
mit ihnen tastet ich um mich
und suchte und rührte an meine Welt.

Meine Lieder lehrten mich alle Lehren,
die je ich gelernt;
sie zeigten mir heimliche Pfade,
sie brachten vor meinen Blick
manch einen Stern am Horizont
meines Herzens.

Sie führten mich Tag für Tag
zu den Mysterien des Landes
von Lust und Leid.
Und zu welchem Palasttor
brachten sie mich am Abend zuletzt,
am Ende der Reise?
_____


102.

Ich rühmte mich unter den Menschen,
daß ich dich kennte.
Sie sehen dein Bild in allen meinen Werken.
Sie kommen und fragen
»Wo ist er?«
Ich weiß keine Antwort für sie.
Ich spreche
»Ich kann es nicht sagen.«
Da tadeln sie mich
und gehen voll Hohn.
Und du sitzest lächelnd.

Ich legte mein Wissen von dir
in dauernde Lieder.
Und das Geheimnis von dir
entströmte meinem Herzen.
Sie kommen und fragen
»Sag, was ist ihr Sinn?«
Ich weiß keine Antwort für sie.
Ich sage »Wer weiß, was der Sinn ist.«
Sie lachen und gehen in äußerstem Hohn.
Und du sitzest lächelnd.
___


103.

In einen Gruß an dich, mein Gott,
laß ich meine Sinne entfalten
und rühren die Welt zu deinen Füßen.

Wie die Regenwolke im Juli tief hängt,
mit der Last der unausgegossenen Schauer,
laß meinen Geist
zu deiner Schwelle sich neigen –
in einen Gruß an dich.

Laß all meine Lieder
die vielen Weisen versammeln
in einen Strom,
der zum Meere des Schweigens führt –
in einen Gruß an dich.

Wie ein Heer heimkehrender Kraniche
Tag und Nacht zu den Bergnestern fliegt,
aß mein ganzes Leben
den Weg nehmen in sein ewiges Heim –
in einen Gruß an dich.
_____

Aus: Rabindranath Tagore Hohe Lieder (Gitanjali)
Deutsche Nachdichtung von Marie Luise Gothein [1863-1931]
Kurt Wolff Verlag Leipzig 1914 (4. Auflage)



 

 


 

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