Mohammed Schemsed-din Hafis

(Übersetzung: Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau)


Aus: Buchstabe Ha

1.

Wenn Verliebte zu ermorden
Dir dein Glaube nicht verwehrt,

Will ich stets für Recht erklären
Was du selbst für Recht erklärt.

Deiner Locken Schwärze kündet
Den Erschaffer finst'rer Nacht,

Und den Schöpfer lichter Tage
Deiner Wangen weisse Pracht.

Jener Quell, der aus dem Auge
In den Schooss hinab mir fliesst,

Ist so mächtig gross, dass schwimmend
Ihn kein Schiffer je durchmisst.

Deiner Lippe Lebenswasser
Bietet Nahrung für den Geist,

Sie, die für den Erdenkörper
 Sich als Kraft1 des Wein's erweist.

Deiner Locke Hand entwischte
Niemand unversehrt und heil!

Alle traf dein Brauenbogen
Oder deines Auges Pfeil.2

Andacht, Gottesfurcht und Reue
Ford're nicht von mir als Pflicht;

Beim verliebten, tollen Zecher
Sucht man ja die Tugend nicht.

Dein Rubinenmund verwehrte
Hundert Listen Einen Kuss,

Und durch hunderttausend Bitten
Kam mein Herz nicht zum Genuss.

Doch was soll das Glas, das immer
Wir zum Wohle leeren dir?

Nicht allein den Wein im Becher,
Auch die Becher trinken wir.

Das Gebet für deine Seele
 Sei so lang' Hafisens Fleh'n.

Als der Abend und der Morgen
Innig in Verbindung steh'n.
 

1 Nicht Lesset, Geschmack, wie in der Bulaker Ausgabe, sondern Kuwwet, Kraft, wie in den meisten Handschriften steht, soll es heissen, als Wortspiel mit Kut, Nahrung; wie denn in demselben Distichon noch die Wortspiele Ruh, Geist, und Rah, Wein, vorkommen, und das Lebenswasser der Lippen der Erde des Körpers entgegengesetzt wird.

2 Die Worte: Tschenk, Hand oder Klaue, Kiemantsche, Bogen, und Tir, Pfeil, haben alle drei nebstbei eine musikalische Bedeutung, indem ersteres auch eine Harfe, das zweite eine Art Geige und das dritte ein Plectron heisst.

 

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