Aus: Buchstabe Be
3.
Des Glückes Morgen graut; wo ist
Das Glas, der Sonne zu vergleichen?
Geleg'ner war die Zeit wohl nie:
D'rum wolle mir das Weinglas reichen!1
Das Haus ist still, der Schenke hold,
Der Sänger scherzt mit süssem Munde;
Es ist der Lust, der Jugend Zeit,
Und Becher kreisen in der Runde.
Damit die Sinne sich erfreu'n
Und nie der Freude Zierden fehlen.
Soll sich der goldene Pocal
Mit flüssigem Rubin vermählen!
Das Liebchen klatscht, der Sänger auch.
Die Trunk'nen heben ihre Füsse,
Und Weinverehrern raubt den Schlaf
Des Schenken Liebesblick, der süsse.
Ganz einsam ist's und sicher hier,
Ein Ort, wo Seelen Lust geniessen;
Es werden Jedem, der hier weilt,
Sich hundert Siegesthor' erschliessen.
Die flinke Künstlerin2 Natur,
Beherzigend des Weines Güte,
Verbirgt das Rosenwasser schön
In jedes Rosenblatt's Gemüthe.
Seit jener Mond als Käufer sich
Hafisens Perlen nahm zu eigen,3
Vernimmt Sohre zu jeder Zeit
Des Saitenspieles lauten Reigen.
1 Dieses Ghasel dichtete
Hafis bei Gelegenheit der Thronbesteigung Dschelaleddin Schah
Schedscha's, der selbst den Wein sehr liebte.
2 Im Originale: Meschschatha, wörtlich die Schmückerin oder
Haarkünstlerin, deren Geschäft es ist, die Braut zu schmücken, zu
schminken und mit Rosenwasser zu durchdüften. Sie vertritt ganz die
Stelle der römischen Ornatrix und heisst auch Dellale, d.i. die Leiterin
(zur Schönheit). Wie wir zu sagen pflegen: "die Mutter Natur", sagt hier
der Dichter: die Schmückerin oder Künstlerin Natur, indem er seinen
Vergleich von einer anderen Eigenschaft derselben entlehnt.
3 D.h: Seit der Geliebte Wohlgefallen an Hafisens Gedichten fand. Hafis
wählt nicht ohne Absicht hier das Wort Müschteri, Käufer, das auch der
Name des Planeten Jupiter ist, hier, wo er den Mond und die Sohre (den
Planeten Venus) erwähnt.
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