Aus: Buchstabe Elif
4.
Komm, o Ssofi1, denn der Spiegel
Des Pocales ist nun rein;
Sieh doch, welche Lust entströmet
Dem rubinenfarb'nen Wein.
Den Anka2 kann Niemand fangen:
Ziehe drum die Netze ein, -
Denn an diesem Orte füllet
Sich das Netz mit Wind allein.
Strebe nur nach baaren3 Freuden,
Denn des Glück's beraubt verliess
Adam einst das Haus des Heiles,
Das erhab'ne Paradies4.
Leere bei dem Fest des Lebens
Einen Becher oder zwei
Und begehre nicht zu gierig,
Dass die Lust beständig sei.
Herz, die Jugend schwand, und keine
Lebensrose pflücktest du:
Wende nun dich, greiser Scheitel,
Gutem Ruf und Namen zu.
Frage um geheime Dinge
Nur der trunk'nen Zecher Schaar:
Dem erhab'nen Frömmler mangelt
Diese Kunde ganz und gar.
Auf die Schwelle deines Thores
Hab' ich Diener manches Recht:
Herr, erkenne es und habe
Doch Erbarmen mit dem Knecht!
Nur des Weinpocales Jünger
Ist Hafis; geh', Morgenwind,
Und dem Scheïche des Pocales5
Bring' des Dieners Gruss geschwind!
1 Ssofi, ein dem
beschaulichen Leben Geweihter, ein Adept, ein Besitzer höherer Einsicht
in die göttlichen Dinge. Der Ursprung der Ssofi's muss auf den Beginn
der Herrschaft des Islam's in Persien zurückgeführt werden, wo sie in
viele Secten oder Schulen getheilt sind, die aber in der Hauptsache
übereinstimmen. Diese Hauptsache besteht in dem Streben, sich über die
äusseren Formen der Religion zu erheben, sich mystisch in die Tiefen der
Gottheit zu versenken, sich von den Fesseln des irdischen Daseins zu
befreien und zur Einheit mit Gott zu gelangen. Abu Hischam, der Ascete,
der im 2. Jahrhundert der Hidscha lebte, soll den Namen eines Ssofi
zuerst geführt haben.
2 Anka, auch Simurgh genannt, der fabelhafte Vogelkönig und weiser
Rathgeber König Salomo's haust abgeschieden von der Welt auf dem Berge
Kaf; es heisst von ihm, dass bloss sein Name, nicht aber er selbst
existire: daher ist es unmöglich ihn selbst zu fangen. Hafis versteht
unter diesem Wundervogel den Gegenstand seiner Liebe.
3 D.h. Nach Freuden der Gegenwart.
4 Adam, weil er die ihm bereit stehenden, gegenwärtigen Genüsse des
Paradieses nicht beachtete und nach der Frucht der Erkenntnis der
Zukunft strebte, musste dies mit der Vertreibung aus dem Paradiese
büssen.
5 Dscham, das Glas, der Pocal, ist zugleich der Name eines Ortes, aus
welchem der hier gemeinte gelehrte Scheich Ahmed Namiki, ein Freund
Hafisens, gebürtig war; so dass hier: der Scheich des Pocales, d.i. der
alte Vorstand der Zecher, auch: "der Scheich aus dem Orte Dscham"
bedeuten kann. Das Nefahatul-ins, d.i. Hauche der Menschheit, des
berühmten, gleichfalls aus Dscham gebürtigen persischen Dichters Dschami
enthält die Biographie Scheich Ahmed Namiki's. vergl. Not. et Extraits
Bd. XII. p. 415. col. I. I. 20. 21 Mss. pers. de la Bibl. Imp. de Paris
83 et 112.
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