Aus: Buchstabe Elif
9.
Ostwind! Jenem schlanken Rehe
Sage du mit Gunst und Huld:
»Durch die Berge und die Wüsten
Irre ich durch deine Schuld.«
Zuckerhändler, dessen Leben
Lange währe! Warum, ach,
Frägt er nie dem Papageie,
Der da Zucker kauet1, nach?
Wenn du bei dem Freunde sitzest,
Einen Becher in der Hand,
So gedenke der Geliebten,
Die da irren durch das Land!2
Stolz, auf Schönheit hat vermuthlich
Es, o Rose, dir verwehrt,
Nach des Sprossers Thun zu fragen.
Den der Liebe Gram verzehrt.
Durch die Macht der schönen Sitte
Fängt man auch den weisen Mann,
Während der verschmitzte Vogel
Jedem Netz und Garn entrann.
Wesshalb wird man nie die Farbe
Der Vertraulichkeit gewahr
An der schlanken, schwarzbeaugten,
Mondgesicht'gen Liebchenschaar?
Mehr als eines einz'gen Fehlers
Zeih' ich deine Reize nicht:
Dass es nämlich einem Schönen
Stets an Lieb' und Treu' gebricht.
Dankbar für der Freunde Umgang
Und des guten Glück's Gewinn.
Wolle du der Fremden denken,
Die durch Feld und Wüste zieh'n!
Ist's zu wundern, wenn am Himmel,
Durch Hafisens Wort erregt,
Der Sohre3 Gesang zum Tanze
Den Messias selbst bewegt?4
1 Der Papagei, der da
Zucker kaut, ist Hafis, der Dichter süsser Lieder.
2 Wörtlich: die den Wind messen.
3 Sohre, Suhara oder Anahid, die himmlische Venus, die befruchtende
Göttin, die einst in den üppigen Lorberhainen um Tiflis ihre Tempel
hatte; aber frevelnde Hände entweihten die Stätten. Anahid entzog den
Höhen ihren befruchtenden Odem und zog nach Armenien, wo ihr noch Opfer
gebracht werden; sie ist der Planet der Sänger und Musiker. Die aus der
persischen Mythologie in den Islam herübergenommene Erzählung von der
Verwandlung der Anahid oder Suhara in den bei den Orientalen diesen
Namen führenden Planeten Venus, erzählt der Commentar zum Mesnewi (s.
Mesnewi oder Doppelverse des Schich Mewlana Dschelaleddin Rumi, aus dem
Persischen übertragen von Georg Rosen. S. 70, Anm. 218) folgendermassen:
"Suhara, eine schöne Frau, hatte sich mit ihrem Manne entzweit und kam
deshalb zu dem Tribunale der beiden Engel Harut und Marut (welche zur
Erde herabgekommen waren, um die Schwächen des Menschengeschlechtes
kennen zu lernen). Diese hatten kaum ihre Anmuth und Lieblichkeit
erblickt, als sie ganz davon hingerissen wurden und deshalb ihre
Angelegenheit in die Länge zu ziehen suchten. Als nun Suhara an einem
anderen Tage wiederkam, luden die Engel sie in ihr Gemach und erklärten
ihr da ihre Liebe. Suhara antwortete ihnen: Nur wenn ihr drei Thaten
ausführt, werde ich eurem Wunsche willfahren: zuerst dass ihr den
Götzen, den ich verehre, anbetet, zweitens, dass ihr meinen Gatten
tödtet und drittens, dass ihr Wein trinket. Da nun die beiden Engel Mord
und Götzendienst als grosse Verbrechen kannten, so weigerten sie sich
darauf einzugehen; zum Weintrinken aber erklärten sie sich bereit, indem
sie nicht wussten, dass dies die Quelle der Laster, die Mutter aller
Schändlichkeiten ist. Wie man erzählt, sprach dann Suhara zu ihnen: Ihr
steigt doch jeden Abend nach Beendigung eurer Regierungsgeschäfte zum
Himmel auf; so saget mir das Wort, dessen göttliche Kraft euch befähigt,
dies zu vollbringen. Die Engel theilten dem Weibe das erhabene Wort mit
und durch dasselbe stieg sie zum Himmel empor. Gott aber verwandelte
ihre Gestalt und machte sie zu einem Sterne." - Die persische Erzählung,
nach welcher Suhara unschuldig bleibt, ist sinnreicher; doch ist die
hier vorliegende Auffassung schon im Koran (2. 96) und ausserdem durch
einen von Sujuti auf Autorität Ali's angegebenen Ausspruch Muhammed's (Hadis)
bestätigt, nach welchem dieser, so oft er die Venus erblickte,
ausgerufen haben soll: "Gott verfluche die Suhara; denn sie ist es,
welche zwei Engel in Versuchung führte, den Harut und den Marut."
Diese uralte Sage findet sich im Talmud als die der beiden Engel Asa und
Asael, welche zur Strafe dafür, dass sie die Menschentöchter verführten,
in finstere Berge gebracht und dort mit Ketten in den Abgrund gesenkt
wurden, wo Bileam und Salomo von ihnen Weisheit lernen. S. Meier's
allgem. mythol. Lexikon.
4 Die Zusammenstellung der Suhara mit dem Messias ergab sich dem Dichter
gleichsam von selbst dadurch, dass die Sphäre der Suhara insgemein auch
die Sphäre des Messias heisst.
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