Mein Gemüth fühlte sich sehr
dürre und trocken, ohne Andacht. Ich bat daher Gott, er möchte mir etwas
von ihm selbst geben. Da eröffnete er mir die Augen meines Gemüthes und
ich sah die Liebe selber zu mir kommen, Viel heller und deutlicher, als
man mit leiblichen Augen etwas sehen kann. Ihres Gleichen kenne ich nicht,
kann sie daher auch nicht beschreiben.
Ich war mit Liebe so erfüllt, daß ich ganz Liebe geworden zu seyn glaubte.
Gottes Wort sprach zu mir: "Viele glauben, sie seien in der Liebe, und sie
sind im Zorn. Viele glauben: ich hasse sie, und sie sind in meiner Liebe."
Meine Seele fragte: Bin ich wohl auch ganz Liebe? oder bin ich im Zorn?
Statt der Antwort ließ er mich die Sache selbst schauen und so lebendig
empfinden, daß ich ganz befriedigt war. Auf einer Seite erblickte ich
lauter Liebe und alles Gute, von Gott, nicht von mir herfließend; auf der
andern Seite sah ich mich selbst dürr, unfruchtbar und untüchtig, etwas
Gutes hervorzubringen. Daher erkannte ich, daß nicht ich es bin, die Gott
aus sich selbst liebt, obwohl ich mich voll Liebe fühlte, sondern daß Gott
allein es ist, der mir die Liebe schenkte. -
Es wurden mir die Augen meines Gemüthes eröffnet, und ich sah die Fülle
Gottes, die die ganze Welt umfaßt, die Dinge droben, das Meer, und alles
diesseits und jenseits des Meeres, den Abgrund, kurz Alles zumal. Überall
sah ich nur die göttliche Macht auf eine so unbegreifliche Weise, daß
meine Seele voll Erstaunen ausrief: Ach! so ist denn die ganze Welt voll
von Gott. Ich sah, wie gering die ganze Welt gegen diese unermeßliche
Macht Gottes ist, die über Alles ist und Alles erfüllet. Der HErr aber
sagte zu mir: "Ich zeige dir nur einen kleinen Strahl meiner Macht." Das
war mir aber schon genug, um alles Andere besser begreifen zu können.
Dabei sah ich in Gott eine so tiefe Herablassung zu allen Menschen und zu
allen Dingen, eine so große Demuth, daß meine Seele beim Anblick dieser
unaussprechlichen Macht und tiefsten Demuth des Allerhöchsten sich selbst
wie nichts achtete und in sich nichts als Hochmuth erblickte vor diesem
Abgrunde der Demuth.
Ein andermal fand ich mich ganz inwendig in Gott, tiefer als je, voll
Freude und Seligkeit, voll unaussprechlicher Güter und nie empfundener
Freudegenüsse. Ich fühlte göttliche Wirkungen in mir, die kein Engel und
kein Heiliger zu begreifen und zu erzählen fähig ist. Gott
vergegenwärtigte sich der Seele, auf eine innige Weise, durch diese
unaussprechlichen Wirkungen. Und da begriff ich denn, wie Gott überall
gegenwärtig ist, in der ganzen Natur, in allen Wesen, im Teufel sowohl als
im Engel, in der Hölle und im Paradiese.
Es gibt aber noch eine andere, mehr besondere Gegenwart Gottes, welche die
Seele ganz in sich selbst versammelt, und ihr viel größere Gnaden und
Freuden mittheilt. Diese Vergegenwärtigung Gottes ist in sich selbst und
ohne alle andere Gaben das wahre Gut, das die Heiligen im ewigen Leben
genießen. Wenn sich Gott also vergegenwärtigt, sich ihr offenbart, so
macht er sie für viel größere Gaben und Freuden empfänglich, als sie je
gekostet hat. Die Seele wird aus allen ihren Finsternissen herausgezogen,
und ihr eine Erkenntniß Gottes mitgetheilt, deren Möglichkeit ich nicht
begreifen, deren Klarheit, Beseligung und Gewißheit kein Gedanke
erreichen, geschweige denn fassen kann.
Ich habe mich aber nicht selbst in diesen Stand versetzt; Gott hat mich
dazu erhoben. Nie wäre es mir eingefallen, diesen Stand zu suchen.
Wirklich bin ich fast immer in diesem Stande; Gott erhebt mich plötzlich,
wenn ich am wenigsten daran denke, und ohne auf meine Einwilligung zu
warten. Da ist mir, als wenn ich die ganze Welt umfasse und beherrsche,
als wenn ich nicht mehr auf Erden, sondern schon im Himmel in Gott wäre.
Ich habe diese Offenbarung mehr als tausendmal und allemal auf eine neue
und verschiedene Weise erfahren. Sie ist von dem Gut, das die Heiligen im
Himmel genießen, nicht dem Wesen nach, sondern nur in der Art des Genusses
verschieden, so zwar, daß der Kleinste im Himmel mehr genießet, als irgend
eine Seele in diesem Leben.
(Aus der Kreuztheologie der
Angela von Foligni)