Die erste und größte und
wahre Liebe ist die Liebe zu Gott; die andere ist ihr Abbild und heißt
Liebe des Nächsten. Wenn die Liebe des Nächsten nicht Abbild der Liebe
Gottes ist, so ist sie nicht vollkommen; denn nichts ist durch Theilnahme
an dem Abbilde vollkommen, außer sofern es Abbild der absoluten
Vollkommenheit ist; daher erfüllt die Nächstenliebe, sofern sie ähnlich
ist der Liebe Gottes, den göttlichen Befehl, denn in ihr ist das, was
erscheint, Ähnlichkeit, aber der darunter verborgene Geist ist die Liebe,
den jene Liebe im Abbilde darstellt. Den Nächsten lieben heißt Gott in
seinem Abbilde lieben. Liebe ich einen Menschen, der wie ich Gott zum
Vater hat, so liebe ich in ihm den Vater. In der That sind daher die
wahren Werke der Barmherzigkeit heilige Werke, weil sie aus reiner
Nächstenliebe hervorgehen, bei welchen Gott der Beweggrund ist. Wer daher
den Nächsten nicht um Gottes, sondern um eines zeitlichen Vortheils willen
liebt, der erfüllt das Gebot nicht, der ist nicht in der Liebe Gottes,
sondern seiner selbst, weil er nur sich im Nächsten liebt. Durch Liebe
gelangen wir zur Erkenntniß Gottes. Wir wissen aber, daß Gott die Liebe
ist, und die Liebe des Nächsten ihr Abbild. Durch die Liebe des Nächsten
gelangen wir wie durch Abbild und Gleichniß zur Erkenntniß Gottes.