Christian Morgenstern
(1871-1914)
Leise Lieder...
Leise Lieder sing ich dir bei Nacht,
Lieder, die kein sterblich Ohr vernimmt,
noch ein Stern, der etwa spähend wacht,
noch der Mond, der still im Äther schwimmt;
denen niemand als das eigne Herz,
das sie träumt, in tiefer Wehmut lauscht,
und an denen niemand als der Schmerz,
der sie zeugt, sich kummervoll berauscht.
Leise Lieder sing ich dir bei Nacht,
dir, in deren Aug mein Sinn versank,
und aus dessen tiefem, dunklen Schacht
meine Seele ewige Sehnsucht trank.
Aus: Christian
Morgenstern Werke und Briefe
Kommentierte Ausgabe, Band I (Lyrik 1887-1905) und Band II (Lyrik
1906-1914).
Hrsg. von Martin Kießig Verlag Urachhaus Johannes M. Mayer GmbH, Stuttgart
Band I 1988, Band II 1992 (Band 1 S. 214)
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