TEMPERAMENT
Jungfer *** hat ein starkes Temperament, eine neue Redensart, so
der Zierlichkeit wegen erfunden worden, und welche eine von denjenigen
ist, die man schon verstehen muß. Unsere Vorfahren, die bey weitem nicht
so zärtlich als wir waren, bedienten sich eben dieses auszudrücken,
solcher Worte, welche ein ehrbarer Mensch heutigestages auszusprechen
sich schämen würde. Zum Exempel, wenn sie von der L. M. redeten, oder
von dem M. D. so würden sie sagen: Sie sind ausserordentlich unzüchtig,
sie sind die Unkeuschheit selbst. Wir sagen heutiges Tages die L. M.
oder M. D. haben ein starkes Temperament. Da diese Gemüthsbeschaffenheit
die Stütze der Galanterie unsrer Zeiten ist, so nimmt man sich sehr in
Acht, dieselbe mit lichten Farben abzumahlen, welche sie verhaßt machen
würden.
Nichts hört man mehr von Unzucht sagen:
Eine Frau, welche nur einen Mann, einen Liebhaber den Umgang zu
versüssen, und noch einen andern des Nutzens wegen hat, giebt keine
Gelegenheit zu einem üblen Rufe; wenn man weiter gehet, so wird man
dafür gehalten, daß man ein starkes Temperament habe. Diese gelindere
Moral ist in der Welt zu Einreissung der Vorurtheile feste gesetzet
worden und kündigt Neigung an, so man hegt, sein Verlangen ohne Mühe
gekrönet zu sehen.