TUGEND
Ist bey dem meisten Theile der Frauen nichts anders als die Furcht vor
der üblen Nachrede; die Begierde seine Gunstbezeugungen sehr schätzbar
zu machen, und die Leidenschaft eines Verliebten durch die Schwürigkeit
anzureizen; eine Liebe, so von gutem Nachrufe ist, das Verlangen die
Hochachtung desjenigen zu erlangen, dem man widerstehet, die Hoffnung
sich einen Mann aus demselben zu erziehen. Füget man zu allen diesen die
wenig angenehmen Arten eines Verliebten hinzu, seine Unbescheidenheit
und wie er alles zur Unzeit anbringt, so wird man die richtige Bedeutung
dieses kostbaren Wortes gefunden haben. Man siehet wohl, daß wir nur von
dem Gespenste reden, welchem man den Namen der Tugend giebt.
Sie herrscht nicht mehr in den Gemüthern,
Man hält itzt mehr von andern Gütern,
Und die Geschicklichkeit ersetzet was uns fehlt:
So, daß man sich nicht mehr um gute Sitten quält.