Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)
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Stephanos Martzokis (1858-1910)
(In der Übersetzung von Karl Dieterich)
Morgendämmerung
Mit fahlem Antlitz, des Gewandes bar,
so jagt die Mondesgöttin wild daher;
von Übernächt'gung blickt ihr Auge schwer,
vom Küssen trocken ward ihr Lippenpaar.
Die ganze Nacht nahm sie der Liebe wahr,
ihr Lager lohte wie ein Flammenmeer,
die weißen Schultern, ihr Gesicht so leer,
sie weisen noch des Liebsten Spuren dar.
Bald hier-, bald dorthin blickt sie angstverwirrt,
an ihren Bruder denkt sie und erbleicht,
daß sie verschämt in Wolken sich verirrt.
Doch er, der Sonnengott, rafft sich zusammen,
zornrot er hinter'm Horizont aufsteigt,
der Schwester Schande deckt er unter Flammen.
(S. 47-48)
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Ich folge dir . . .
Ich folge dir: wohin dein Blick auch fällt,
da sollst du sehen mich am Boden winden;
und kannst du dann noch um mich Schmerz empfinden,
dann jubl' und jauchz' ich laut vor aller Welt.
Und aus dem Grabe, das du mir bestellt,
darin mein siecher Leichnam wird verschwinden,
wird dir ein Geist erstehn, den sollst du finden
von einem Drang nach Huldigung geschwellt.
Ich folge dir - und bricht dann an der Morgen,
da du in deiner Freude frevler Lust
in eines andern Armen ruhst geborgen,
als Natter wirst du dann umflorten Blickes
empor mich züngeln sehn an deiner Brust,
den Kranz umschlingend deines Hochzeitsglückes.
(S. 48)
Übersetzt von Karl
Dieterich (1869-1935)
Aus: Neugriechische Lyriker
Ausgewählt und übertragen von Karl Dieterich
mit einem Geleitwort von Gerhart Hauptmann
Zweite Auflage In Kommission bei Friederichsen
de Gruyter & Co. m. b. H. Hamburg 1931
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