Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)
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Edmund Spenser (1552-1599)
(In der Übersetzung von Friedrich Bodenstedt und Johann
Gottlieb Regis)
Glücklich, ihr
Blätter
Glücklich, ihr Blätter, wenn die Lilienhand
Der Hohen, die beherrscht mein ganzes Sein,
Euch hält und schliesst euch wie Gefang'ne ein.
Die vor dem zittern, der sie überwand.
Glücklich, ihr Zeilen, wenn auf euch gewandt
Des schönen Aug's gluthvoller Sonnenschein,
Und ihr die blut'ge, thränenvolle Pein
Vor ihr enthüllt, die ich durch sie empfand.
Glückliche Reime, die sich baden dürfen
In ihren Reizen und Begeisterung schlürfen
Aus ihren Augen - sucht ihr zu gefallen,
Die meine Sehnsucht ist, mein Glück vor allen.
Blätter der Liebe, feiert nur die Eine!
Erfreut ihr sie, so kümmert sonst mich keine.
(S. 85)
Übersetzt von Friedrich Bodenstedt (1818-1892)
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Fern von der Geliebten
Wie sich die Taub' am dürren Aste schwinget,
In Trauer bangend um den fernen Freund,
Und sehnsuchtsvoll viel Wünsche nach ihm singet,
Bis sie ihn sieht, der lang zu zögern scheint:
So traur' auch ich für mich nun, ganz verweint,
Um die Entfernung von der theuren Lieben,
Und such' umirrend, meiner Ruhe Feind,
In Klagen, wie die Taube, mich zu üben.
Und was auch sonst der Welt an Reiz verblieben,
Nichts kann mich trösten, als ihr Wiedersehn,
Den holden Blick, den Gott und Menschen lieben,
In fleckenloser Schöne zu erspähn.
Trüb' ist mein Tag, fehlt mir ihr heit'res Licht,
Und todt mein Leben, dem dies Heil gebricht!
(S. 86)
Übersetzt von Johann Gottlieb Regis (1791-1854)
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Leer, Holde, ist der Argwohn
Leer, Holde, ist der Argwohn, den du spinnest,
Unfrei zu werden; da du mit Verlust
Der einen Freiheit deren zwei gewinnest,
Und bindest die einst bandenscheue Brust.
Süss sind die fesseln echter Liebeslust,
Zwanglos; ihr grauet vor nichts Bösem weiter.
Das Vöglein ist sich keiner Haft bewusst,
In seinem Käfig singt und frisst es heiter.
Da wagt kein Stolz sich hin, Zwietracht und Neider
Erschüttern nicht der Gatten festes Band,
Denn schlichte Treu' und guter Wille Beider
Labt Jedes Wunden mit geduld'ger Hand:
Da wohnt in ehr'nem Thurm furchtloser Glaube,
Und reine Lust baut ihre heil'ge Laube.
(S. 86)
Übersetzt von Johann Gottlieb Regis (1791-1854)
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Gefangen
Schuf so die Kunst sie oder die Natur,
Dass Stolz und Anmuth ganz in ihr vereint,
Und Beides doch getrennt zu walten scheint
In dieser ganz vollkomm'nen Kreatur?
Durch ihre zaubervolle Anmuth nur,
Die gänzlich frei von jedem Stolz erscheint,
Reisst sie mich hin - dann naht ihr Stolz als Feind,
Vernichtend aller sündigen Triebe Spur.
Ihr Auge übt so wunderbare Kunst:
Mit einem Blicke nimmt sie mir das Leben,
Um's mit dem andern mir zurückzugeben.
Ein Blick verheisst - ein and'rer raubt die Gunst:
So lockt und stösst mich ab ihr ganzes Wesen.
Die Kunst hab' ich in Büchern nie gelesen.
(S. 87)
Übersetzt von Friedrich Bodenstedt (1818-1892)
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Aus: England und
Amerika Fünf Bücher englischer
und amerikanischer Gedichte
von den Anfängen bis auf die Gegenwart
In deutschen Übersetzungen
Chronologisch geordnet mit litterarhistorisch-kritischen
Notizen und einer Einleitung
von Julius Hart
Minden i. W. J. C. C. Brun's Verlag 1885
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