Liebessonette deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)





 




Marie Eugenie Delle Grazie
(1864-1931)



Im Traum

Im Traum oft nahen mir die alten Zeiten,
Dann schwindet all' mein Sehnen, all' mein Bangen,
Von Deinen Armen liebevoll umfangen,
Seh' ich wie ehmals durch den Wald mich schreiten.

Die stämm'gen Eichen rauschen auf und breiten
Ihr Laubdach über uns mit grünem Prangen,
Die wilden Rosen selbst mit glüh'nden Wangen
Steh'n duftend noch am Waldweg wie vor Zeiten.

Die kleine Nachtigall singt noch im Flieder,
Das wogt so liebestrunken auf und nieder,
Das schallt so wonnig durch die grünen Weiten,

Das klingt so süß, die Herzen zu berücken;
Wir bleiben steh'n und lauschen mit Entzücken
Und wissen uns das traute Lied zu deuten.
(S. 37-38)
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An den Geliebten

O wärst Du mir doch ewig fern geblieben,
O hätte Dich mein Auge nie gesehen,
Hätt' nie gelauscht ich Deinem süßen Flehen,
Und nie ein Wort von Liebe Dir geschrieben.

Denn ach, ich fühl's, was mich zu Dir getrieben,
War nur der Schönheit zaubermächt'ges Wehen;
Gleich ahnte ich: Du wirst mich nie verstehen,
Und dennoch, dennoch mußte ich Dich lieben!

Nur wenn von glüh'nder Liebe ganz durchdrungen,
Das Herz des schönen Weibes sich erschließet,
Verstehst Du mich von gleicher Macht bezwungen,

Doch wenn mein Glück in gold'ne Reime fließet,
Hörst Du mir zu so fremd, so nothgedrungen,
Daß kalt das Herz der Dichterin sich schließet.
(S. 34-35)
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Aus: Marie Eugenie Delle Grazie Gedichte 1882
Verlag C. F. Simon, Herzberg und Leipzig


 

 

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