Liebessonette deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)





 




Siegfried Kawerau
(1886-1936)



Sonett

Und jeden Tag geb ich in Deine Hände
Dir meine Seele dankesfroher hin
und weiß: mich zu verlieren, ist Gewinn,
weil ich mich nur in Deinem Licht vollende.

Daß ich so ganz mich täglich zu Dir wende,
ist, weil ich sonst nur eine Summe bin
von Taten und Gedanken ohne Sinn
und überall ein Anfang, nirgends Ende.

Ein Gott steht hinter diesen schlechten Dingen,
die sich in tollem Wechsel wirbelnd reihn,
und hält in einer Hand die vielen Sinne,

und Deine Fülle gießt auch den geringen
Gefäßen meines Lebens Inhalt ein,
und selig werd ich meiner Einheit inne.
(S. 3)
_____



Sonett

(Widmung zu Elisabeth Browning Sonetten,
übertragen von R. M. Rilke)

Ich weiß nur eines - diese bangen Lieder,
die langsam aus dem dunkel-kühlen Bronnen
der reinsten Seele goldklar und versonnen
aufsteigen perlend an das Licht der Sonnen,

sie zittern auch in Deiner Tiefe wieder.
Wo nehm ich mir das Recht, sie Dir zu geben,
die scheusten Stunden, die ein Liebesleben
mit Schmerzen je gebar, ich, der ich neben

die keuscheste der Fraun zu treten wage?
Doch heute wird mir, was ich oft beklage,
zu reinem Glück; ich darf es, denn ich trage

die Seele einer Frau, der Sein und Lieben
das gleiche ist; und nun, von Scham getrieben,
reich ich Dir dieses Buch, wie selbst geschrieben.
(S. 4)
_____


Aus: Lieder aus dem Dunkel
von Siegfried Kawerau
Verlegt bei Max Schildberger
Berlin 1910


 

 

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