Liebessonette deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)





 




Georg Scherer
(1828-1909)



Sonette vom Tegernsee

1.
Sie sprach: "Draußen ist der Lenz gekommen,
Die Lerche jubelt seinem Gruß entgegen,
Die Knospe schwimmt, die Blüte will sich regen,
Und Duft und Klang kommt durch die Luft geschwommen."

Ich hatte seinen Ruf noch nicht vernommen,
Mir frommte nicht sein reicher Blütensegen;
In mich gekehrt ging ich auf stillen Wegen,
Das Aug' umdüstert und das Herz beklommen.

Doch als mir deiner Stimme Ton erklungen,
Fühlt' ich den Lenz im Herzen mir erstehn,
Als hätten tausend Lerchen sich erschwungen.

Nun muß ich wieder durch den Frühling gehn,
Ein Träumer fast, auf Pfaden reich verschlungen,
Um einzig dich, Holdselige, zu sehn.
(S. 117)


2.
Die Sonne sank, die Abendglocken klangen;
Wir kehrten heim auf tauigen Wiesenwegen
Tief aus des Waldes schweigenden Gehegen,
Wo uns ein Tag in reiner Lust vergangen.

Und aus dem Klee, darüber Lerchen sangen,
Sah lockend mir ein Blatt des Glücks entgegen;
Ich brach's, um es in deine Hand zu legen,
Du nahmst es halb mit Freude, halb mit Bangen.

O hüt es mir! So manch vergebnes Streben
Soll noch ein günstig Schicksal mir vergüten,
Und späte Freude hoff' ich noch im Leben.

Verkündet einen Lenz mit reichen Blüten
Mir dieses Blatt, dann muß ich dir es geben,
Und treu und sorglich wirst du es behüten.
(S. 118)


3.
O könnt' ich all mein Fühlen und mein Denken,
Mein ganzes Leben, reich an Freud' und Leiden,
An Höhn und Tiefen, hell' und dunklen Seiten,
In deines Herzens stillen Grund versenken!

Wie sicher würdest du mein Schifflein lenken,
Welch heitern Himmel mild darüber breiten!
Zu deinem Sang wie klängen meine Saiten!
Dein wäre, was mir holde Musen schenken.

Statt dessen ziehst du, still wie du gekommen,
In deiner Heimatberge heil'gen Frieden
Und ahnest kaum, was du mit dir genommen.

Ich aber wandre, da du nun geschieden,
Fort in die Fremde, stumm und schmerzbeklommen,
Und weiß nicht, wo mir Ruhe wird hienieden.
(S. 119)


4.
Ich hatte keinen Garten, drein zu setzen
Dich, wundersame, zauberduft'ge Rose;
Mich durft', als ich dich fand im Waldesschoße,
Nicht dein Besitz, dein Anblick nur ergetzen.

Ich sah den Morgentau dein Auge netzen
Und goldne Lichter zittern auf dem Moose -
Wie warst du schön! Ich hörte das Gekose
Der Nachtigall mit süßem Lied dich letzen.

Verlassen mußt' ich dich. Doch noch zur Stunde
Pocht laut mein Herz: "Wie ist dein Los gefallen?"
Und neuer Schmerz durchzuckt die alte Wunde.

Schmückst du mit reichem Duft nun stolze Hallen?
Wie, oder ist dein Reiz im Waldesgrunde
Verschollen, gleich dem Lied der Nachtigallen?
(S. 120)


5.
Zwei Sterne, die in ihrem ew'gen Gleise
Am Himmel gehn, begrüßen sich von fern;
Sie nähern sich, sie ziehn sich an - wie gern
Vollbrächten sie zusammen ihre Reise!

O kurzes Glück! Schon trennt unmerklich leise
Das Schicksal sie. "Fahr wohl, du schöner Stern!"
Blinkt jeder, denn er fühlt im tiefsten Kern,
Daß er um eine andre Sonne kreise.

So zogst auch du mich einstmals mächtig an,
Ein lichter Stern in meiner Nacht hienieden;
Du schiedest, und der holde Traum zerrann.

Doch was auf dieser Welt an Glück und Frieden
Durch Frauenhuld dem Manne werden kann -
Es ward mir voll und reich durch dich beschieden.
(S. 121)


6.
Siehst du den Wandrer auf des Berges Rücken?
Tief ruht im Thal die Heimat ihm zu Füßen
Im Abendrot, und seine Augen grüßen
Zum Abschied sie mit thränenfeuchten Blicken.

Ihr Bild soll ihn, steigt er bergab, erquicken,
Soll ihm die bittre Wanderschaft versüßen,
Und mag ihn auch das fernste Thal umschließen,
Er hängt daran mit wonnigem Entzücken.

So möcht' ich, eh' in meinem Pilgerleben
Es Abend wird, nur einmal noch dich sehn
Und mich an deinem Frieden noch erheben.

Mag dann des Lebens Sonne niedergehn -
Dein Bild wird um mein letztes Lager schweben,
Wenn niemand ist, mir segnend beizustehn.
(S. 122)
_____


Aus: Gedichte von Georg Scherer
Mit Illustrationen von Paul Thumann
Vierte, vermehrte Auflage
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1894
 

 

 

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