Liebessonette deutscher Dichter und Dichterinnen

 



Neroccio de'Landi (1445-1500)
Porträt einer Dame (1480)





 




Friedrich Spielhagen
(1829-1911)



Allmächtige Liebe

Am Meeresstrande bin ich heut gestanden
Und sah' im Sturme nah berghohe Wogen,
Die weißen Kämme gierig vorgebogen,
Als wollten diesmal sie für immer landen.

Und wie sie donnernd an das Ufer branden,
Da ist die Kraft, da ist der Muth verflogen;
Von Allmachtsarmen heimatwärts gezogen,
Ruhn sie gesänftigt in den alten Banden.

So trieb es mich von dir in diese Ferne,
Als hielte sie im Zauberring umschlossen,
Ein traumerschautes, heiß ersehntes Glück.

Doch ohne Dich, was sind mir andre Sterne!
Ich wende mich von ihnen ab verdrossen,
Und all' mein Sehnen strömt zu dir zurück.
(S. 923)
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Des Lebens Mai

"Des Mai blüht einmal und nicht wieder",
So sprachst auch du in thränenreicher Stunde,
Doch heilt von selbst des Hirsches tiefe Wunde
Nach langer Dürre träuft der Regen nieder.

In jedem Lenz erschallen neue Lieder,
Es lauschen froh der wonnevollen Kunde
Die Felder und die Wälder in der Runde,
Die Veilchen sprießen, köstlich prangt der Flieder.

Und wenn in der Natur ein ewig Streben,
Zu überwinden Noth und Tod und Schmerzen,
Wähnst du, daß es mit dir ein andres sei?

O nimmermehr! Ein tausendfältig Leben
Regt glühend sich in deinem edlen Herzen,
Und jede Liebe ist "des Lebens Mai".
(S. 923)
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Noch diesen Kuß

Noch diesen Kuß, das letzte Liebeszeichen,
Dann sei's geschieden, kühn und ohne Wanken!
Das Weinen laß den Schwachen und den Kranken,
Wir wollen nicht, die Starken, uns erweichen.

Und was heißt Trennung, wenn hinüberreichen
Durch alle Fernen müh'los die Gedanken?
Und wenn statt süßen Weins wir Nektar tranken,
So dürfen wir uns kühn den Göttern gleichen.

Leb' wohl, Geliebte! Was die Ew'gen senden,
Wir müssen's ja mit festem Mut ertragen;
Es stirbt sich gut von ihren heil'gen Händen.

Wir aber wollen leben und nicht klagen;
Kann unsre Liebe ja doch nimmer enden
Und heißt der Menschen Schicksal doch: Entsagen!
(S. 924)
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Aus: Fünfzig Jahre Deutscher Dichtung
Mit biographisch-kritischen Einleitungen
herausgegeben von Adolf Stern
Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage
Leipzig Verlag von Ed. Wartig 1877


 

 

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