Das Liebes-Poetische Manuskript N° 1

Liebesgedichte von der Schönheit der Geliebten


 



Frage.

Mir hat noch deine Stimme nicht geklungen,
Ich sah nur erst dein holdes Angesicht;
Doch hat der Strom der Schönheit mich bezwungen,
Der hell von dir in meine Seele bricht.

In's Tiefste ist er mächtig mir gedrungen,
Was dort bis nun gelebt, nun lebt es nicht,
Süß sterbend ward es von der Fluth verschlungen.
Das ist der Liebe himmlisches Gericht!

O daß mein kühnes Hoffen, banges Zagen,
Ein milder Spruch aus deinem Munde grüßte!
Die Wellen, die so laut mein Herz durchschlagen,

Wohin doch werden sie die Seele tragen?
An der Erhörung Paradiesesküste?
In der Verstoßung trauervolle Wüste?

Nikolaus Lenau (1802-1850)

 

 

Bild: Raffaelo Sanzio (1483-1520)
Madonna Belvedere (Madonna del Prato)
(1506) (Detail)

Gedicht aus:
Nikolaus Lenau Werke und Briefe.
Historisch-kritische Gesamtausgabe.
Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft
Band 1: Gedichte bis 1834
Band 2: Neuere Gedichte und lyrische Nachlese
Wien 1995; Hrsg. von Antal Madl, Deuticke Klett-Cotta

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