Das Liebes-Poetische Manuskript N° 1

Liebesgedichte von der Schönheit der Geliebten


 




Du bist so schön, ich wag' es nicht
Dich anzuschauen,
Du schlanke Lilie hoch und licht
Im Kranz der Frauen;
Du Kön'gin sonder Hermelin,
Von deren Stirne Gnad' und Hoheit scheinen,
Du bist so schön - o laß mich vor dir knie'n,
Und stumm auf deine Füße weinen!

Ich kann die Wonne, kann den Schmerz
Nicht mehr verschweigen,
Ich kann nur flehn: Nimm hin dieß Herz,
Es ist dein eigen.
Nimm's, deiner Huld werthlosen Raub,
Und blick' es an zwei selige Sekunden;
Da wirf es hin und tritt es in den Staub,
Es hat des Heils genug gefunden.

Doch wisse, keines kann dir je
Wie dieses schlagen,
So weit beschwingt um Land und See
Die Winde jagen;
So weit das lichte Morgenroth
Dahinfleucht durch die Welt mit raschen Gluten,
Ist keins wie dieß bereit in sel'gem Tod
Sein Dasein für dich hinzubluten.

Emanuel Geibel (1815-1884)

 


 

Bild: Pietro Perugino (1450-1523)
Madonna mit Kind (Detail)

Gedicht aus: Emanuel Geibel Gesammelte Werke in acht Bänden.
Stuttgart Verlag der J.G. Cotta'schen Buchhandlung 1883

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