Das Liebes-Poetische Manuskript N° 1

Liebesgedichte von der Schönheit der Geliebten


 



An Eugenien.

Schön ist ein schöner leib,
den aller lippen preisen,
Der von nicht schlechtem stamm
und edlem blut herrührt;
Doch schöner, wenn den leib
ein' edle seele ziehrt,
Die einig sich nur lässt
die tugend unterweisen;
Vielmehr, wenn weisheit noch,
nach der wir offtmals reisen,
Sie in der wiegen lehrt;
mehr, wenn sie zucht anführt
Und heilig seyn ergetzt,
die nur nach demuth spür't;
Mehr, wenn ihr keuscher geist
nicht zagt für flamm und eisen.
Diß schätz ich rühmens wehrt,
diß ist, was diese welt,
Die aller schönheit sitz,
für höchste schönheit hält,
Und das man billich mag
der schönheit wunder nennen.
Wer dieses schauen wil,
wird finden, was er sucht
Und kaum zu finden ist,
wenn er, o blum der zucht!
O schönste! wenn er euch wird
was genauer kennen.

Andreas Gryphius (1616-1664)

 


 

Bild: Giovanni Bellini (1426-1516)
Madonna mit Kind (Griechische Madonna)
(1460-64) (Detail)

Gedicht aus: Andreas Gryphius, Werke in drei Bänden mit Ergänzungsband;
Dritter Band: Lyrische Gedichte, mit einem Neudruck des Lassaer Sonettenbuchs von 1637
und den Berichtigungen und Nachträgen zur Palmschen Ausgabe der Lyrischen Gedichte;
Georg Olms Verlagsbuchhandlung Hildesheim 1961; Hrsg. von Hermann Palm

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