Das Liebes-Poetische Manuskript N° 1

Liebesgedichte von der Schönheit der Geliebten


 




Ich mußte denken unverwandt,
wie ich einst zwischen schwarzen Pinien
den tiefen Frühling sinnen fand,
als ich vor deiner Schönheit stand,
und durch der Scheitel dunkle Linien
dein Antlitz träumte wie ein Land.

Es schlich von deiner Lippen Saum
ein Lächeln auf verlornem Pfade -
ganz leis. Die andern merktens kaum.
So weht ein Blatt vom Blütenbaum:
nur Einer schaut die Frühlingsgnade,
und der sie schaut, ist wie im Traum.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)


 

 

 

Bild: Giovanni Bellini (1426-1516)
Madonna mit Kind (1485-90) (Detail)

Gedicht aus: Rainer Maria Rilke Sämtliche Werke. Insel Verlag Frankfurt a. Main 1963

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