Das Liebes-Poetische Manuskript N° 12

Liebesgedichte und Bilder
 

Aus dem Gitagovinda von Jayadeva (12. Jh.) - Bilder von Franz Marc (1880-1916)

 

Die Liebe des Krishna und der Radha
 

Franz Marc - Sitzender gelber Frauenakt
Franz Marc - Sitzender gelber Frauenakt

 

Mit verlangendem Lustbangen, auf Govinda gewandt den Blick,
Hold mit hellem Geschmeid läutend, ging sie ein in das Haingemach.

Govinda der eigentliche Hirtenname des Gottes: der Kuhfinder

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Blaues Reh in Landschaft
Franz Marc - Blaues Reh in Landschaft

 

Ihn, der, von Radha's Antlitz bestrahlet, entfaltete vielfache Regung,
Wie bei des Monds Aufgange des wallenden Weltmeers Wellenbewegung,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.

Radha: die Geliebte Krishnas
Hari: der Frühlingsname des Gottes
Ananga: der Name des Liebesgottes (der Leiblose)

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Drei Fabeltiere
Franz Marc - Drei Fabeltiere

 

Dem ein gesterntes Geschmeide sich schmiegt, um den Busen in weiter Umfließung,
Gleich der mit glänzenden Schäumen sich kränzenden Yamuna-Flutenergießung,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rotes Pferd und gelbes Rind
Franz Marc - Rotes Pferd und gelbes Rind

 

Dem um den bräunlichen lieblichen Leib sich gebreitet die gelbliche Hülle,
Wie um die blaue Nymphäe des stäubenden Duftes vergoldende Fülle,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.

 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Füchse
Franz Marc - Füchse

 

Dem auf dem liebegeröteten Antlitz die flatternden Wimpern sich wiegen,
Wie Bachstelzen im herbstlichen Weiher um blühende Lotosse fliegen,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rotes Reh
Franz Marc - Rotes Reh

 

Welchem die Wangennymphäe zu küssen, die Ohrringsonnen sich drehen,
Welchem mit lächelndem Glanz aufblühen die Lippen, um Liebe zu flehen,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rote Rehe
Franz Marc - Rote Rehe

 

Dessen beblumete Locken der Wolke, der mondlich beschimmerten, gleichen,
Dem wie ein Mond aus der Nacht sich erhebt an der Stirne von Sandel das Zeichen,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Zwei Füchse
Franz Marc - Zwei Füchse

 

Mächtig vom Schauer der Wonne geschüttert, vom Pulse der Liebe durchzittert,
Rings von dem Strahlengewebe juwelenen Schmuckes die Glieder umflittert,
Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,
Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Ananga's Erscheinung.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Zwei blaue Fohlen
Franz Marc - Zwei blaue Fohlen

 

Aus dem Auge, das den Winkel überschreitend, nach des Ohrs
Grenzgebiet hinstrebend, niedersinken ließ den schwanken Stern,
Stürzte jetzt der Radha, da ihr des Geliebten Anblick ward,
Plötzlich wie ein Schweißerguß hervor ein Freudentränenstrom.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Zwei liegende Rehe
Franz Marc - Zwei liegende Rehe

 

Nach der Dienerinnen Weggang, als, von minder Scheu bedrängt,
Von Gefühlsiegs Ausdruck schwellend, lächeltaubenetzten Munds,
Radha, die Verlangenvolle, dastand und am laub'gen Bett
Ihre Augen niederschlug, sprach zur Geliebten Hari so:
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rotes Reh
Franz Marc - Rotes Reh

 

Liebende! setz' auf das Lager von Laube den Fuß, der den Lotos besieget,
Mach' es zum glänzenden Zeugen, wie leicht ihm sein blühender Gegner erlieget!
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!

Narayana: sein göttlicher Name, der auf dem Wasser Schwebende

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Träumendes Pferd
Franz Marc - Träumendes Pferd

 

Soll in die Hand ich nicht fassen den Fuß dir? so weit her bist du gegangen;
Laß auf dem Bett wie mich selber nur ruhen die mutig begleitenden Spangen!
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!

 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Das kleine blaue Pferdchen
Franz Marc - Das kleine blaue Pferdchen

 

Träufle vom Nektarbehälter des Mundes ambrosische Worte zur Feier!
Sieh, wie die Trennung entheb' ich dem Busen den brüstebedrängenden Schleier.
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Tierschicksale
Franz Marc - Tierschicksale

 

Den nach des Freundes Umfangen verlangenden, bangenden, einzig erkornen
Busen laß wallen am Busen mir, stille die Glut des Gemütegebornen!
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rotes und blaues Pferd
Franz Marc - Rotes und blaues Pferd

 

Reizende! reiche den Nektar der Lippe, belebe den Sklaven, den toten,
Den in dir lebenden, welchem die Gluten der Trennung zu atmen verboten.
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Grünes Fabeltier
Franz Marc - Grünes Fabeltier

 

Klingle mit Gürteljuwelen ins Klingen der Kehle, du Mond von Gesichte!
Meine zu lange von Kokila's Gellen ermüdeten Ohren beschwichte!
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!

Kokila: indische Nachtigall

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rotes und gelbes Reh
Franz Marc - Rotes und gelbes Reh

 

Jetzo den Freund, den von deinem so nutzlosen Grolle Gequälten, zu sehen,
Blinzet dein Auge vor Scham; o laß es, und löse der Liebe die Wehen!
Im Augenblick dem Narayana, dem genaheten, nah', o Radhika!
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Fabeltiere
Franz Marc - Fabeltiere

 

 

Wo dem engeren Umfahn vom Schauern,
Und dem Minneblickspiel von des Augs
Blinzelung, dem Lippennektartrinken
Von dem scherzenden Liebkosungswort,
Selbst dem Liebeskampfe vom Entzücken
Immer eine Schranke ward gesetzt:
Unter solchen Hemmungen ergehend,
Ward ihr Lustaustausch genußreich erst.


 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Fabeltier
Franz Marc - Fabeltier

 

Von Nageldruck blaßrote Brust, von Schlummerlosigkeit getrübte Augen,
Der Lippen Purpur weggehaucht, des Hauptes Wald wirr mit zerstörten Kränzen,
Der Gürtel klaffend, schlapp das Kleid: ein solches Morgenbild war sie den Augen;
O Wunder, wie des Gatten Herz von diesen Kama-Pfeilen ward durchbohret!
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Zwei Akte unter Bäumen
Franz Marc - Zwei Akte unter Bäumen

 

Zum liebebegnügten nach Wonnegenuß,
Sie mit gelösten Gliedern,
Radha mit ehrerbietiger Scheu
Sprach also zu Govinda:
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Reh im Walde
Franz Marc - Reh im Walde

 

Yadu-Beglücker! Mit sandelerkühlender Hand an die strahlende Busenschal',
An die mit Madana's Opfergefäße sich messende, male das Muskusmal!
Sie gebot dem Yadu-Geborenen,
Dem spielenden Herzenserkorenen.

Yadu-Beglücker, Yadu-Geborener: aus dem Geschlechte Yadu,
das in der alten Geschichte Indiens besonders bei den Einwanderungen
im Dekan (d. i. im Süden) aus dem Norden eine wichtige Rolle spielt.

   

 

 

 

 

 

Frant Marc - Stier
Franz Marc - Stier

 

Laß hier, o Liebster, am Liebesgeschosse versendenden blendenden Augenpaar
Nun die vom Kusse der Lippen zerstobenen blinkenden Schminken enttauchen klar!
Sie gebot dem Yadu-Geborenen,
Dem spielenden Herzenserkorenen.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Rehe im Walde
Franz Marc - Rehe im Walde

 

Holder Gesell! An die Augengazellenbewegung-umhegenden Ohren bring'
Hier den geschickt sich wie Madana's Fangstrick dehnenden sehnenden Ohrenring;
Sie gebot dem Yadu-Geborenen,
Dem spielenden Herzenserkorenen.

Madana: Name des Liebesgottes (der Berauscher oder Erfreuer)

   

 

 

 

 

 

Frant Marc - Rehe im Walde
Franz Marc - Rehe im Walde

 

Fang ins Geflechte die flatternden, lange wie Bienen in schwärmenden Flocken mein
Lilienlicht des Gesichtes umhängenden, fange die lockeren Locken ein!
Sie gebot dem Yadu-Geborenen,
Dem spielenden Herzenserkorenen.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Landschaft mit rotem Tier
Franz Marc - Landschaft mit rotem Tier

 

Male mir, Muntrer, am Monde der Stirne
das Zeichen aus Muskus gemischt mit Fleiß,
Daß an dem Monde die Flecken nicht fehlen,
nachdem du ihn ab hast gewischt den Schweiß.
Sie gebot dem Yadu-Geborenen,
Dem spielenden Herzenserkorenen.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Schlafendes Reh
Franz Marc - Schlafendes Reh

 

Flicht nur, und sträube dich nicht, hier ins wallende Banner
Ananga's die Blumenschleif',
Hier in das wirre Geflirre des Schopfes,
der spielt wie ein spiegelnder Pfauenschweif.
Sie gebot dem Yadu-Geborenen,
Dem spielenden Herzenserkorenen.
 

   

 

 

 

 

 

Franz Marc - Liebespaar
Franz Marc - Liebespaar

 

Den Schmuck der Brüste rüste zu, laß Farb' auf Wangen prangen!
Lind um die Lende leg den Gurt, den Kranz am Haarnetz kräusle!
Schling um die Hand die Spangenschlang', am Fuße fest die Fessel! –
So angewiesen, jedes tat gewandt der Gelbgewand'ge.
 

   

 

 

 

 
 

Die Handlung des Gitagovinda:

Eine Freundin kommt zu Radha und berichtet dieser von dem Treiben Krishna's: während Radha in Liebeskummer versunken im Walde allein umherwandert, um den Gebieter ihres Herzens zu suchen, ergötzt sich der Geliebte mit den Hirtenmädchen.
Von Sehnsucht und Eifersucht gequält, klagt Radha der Freundin ihr Leid; sie erzählt ihr, welchen Schmerz es ihr bereite, zu sehen, wie sich Krishna mit anderen Mädchen vergnüge, erinnert sich der schönen Stunden, die sie selbst mit Krishna durchlebt hatte, und bittet die Freundin, den Geliebten zu ihr zu bringen.
Krishna erinnert sich an Radha, verläßt die Hirtinnen und macht sich auf, die Geliebte zu suchen.
Radhas Freundin hat Krishna aufgesucht; sie schildert ihm die Qualen, welche Radha die Trennung von ihm verursacht.
Von Krishna aufgefordert, kehrt die Freundin zu Radha zurück und beschreibt ihr den Schmerz und die Reue Krishna's, um sie dadurch zu veranlassen, zu ihm zu gehen und das Glück der Liebe zu genießen.
Radha ist zu angegriffen, um selbst zu Krishna gehen zu können; die Freundin begibt sich daher wieder zu Krishna und macht diesem hiervon Mitteilung.
Radha wartet vergeblich auf Krishna; sie hat zuerst die Freundin im Verdacht, daß sie sie mit dem Geliebten hintergehe, dann, als diese erscheint, fürchtet sie, Krishna sei ihr mit einer anderen Hirtin untreu geworden, und malt sich das Glück aus, das jene jetzt genießt.
Krishna, der am Morgen endlich zu Radha gegangen ist, wird von ihr mit heftigen Vorwürfen empfangen.
Krishna vermochte Radhas Zorn nicht zu besiegen; er geht deshalb von dannen und überläßt es der Freundin, Radha durch Zureden von ihrer Sprödigkeit abzubringen und versöhnlicher zu stimmen.
Im Laufe des Tages hat sich Radhas Groll gelegt; Krishna geht daher zu ihr, mit glühender Leidenschaftlichkeit wirbt er um sie und versichert sie seiner ewigen Liebe.
Radha und Krishna haben sich versöhnt; während Krishna sich nach seiner Liebeslaube begeben hat, um dort alles für die Nacht vorzubereiten, ermahnt die Freundin Radha, dem Gotte ihre Huld zu gewähren.
Das Liebespaar ist allein. Krishna fleht Radha an, ihn zu erhören. Schilderung des Liebesgenusses. Zum Schluß bittet Radha den Gott, ihr bei der Wiederherstellung ihres im Verlauf der Lustvereinigung in Unordnung geratenen Putzes behilflich zu sein.


Die Texte dieser Seite sind der letzte Teil
des Gitagovinda und erzählen über das Liebesglück und die Liebesvereinigung von Krishna und Radha.


Biographisches:

Jayadeva, ind. Dichter des 12. Jh. n. Chr.; Sohn des Bhojadeva aus Kindubilva (Kenduli/Bengalen); Hofdichter des bengal. Königs Laksmanasena. Vf. des 'Gitagovinda (kavya)', e. ep. Gedicht in 12 Gesängen (sarga), das die Liebe zwischen Krsna (Govinda) u. Radha, ihre Entfremdung durch Radhas Eifersucht, ihre Versöhnung u. endlicher Wiedervereinigung u. damit zugleich sinnbildl. das Verhältnis von Allseele u. Einzelseele myst. darstellt. Den Hauptteil des 'Gitagovinda' bilden - zumeist 8zeilige - Strophen in kunstvollen Rhythmen mit in der Sanskrit-Dichtung sonst seltenen End- und Binnensreimen u. e. Refrain; die eigentl. Handlung wird in wenigen Rezitativ-Versen erzählt. Während die Strophen gesungen u. getanzt wurden - Melodie (raga) u. Rhythmus (tala) sind jeweils angegegen -, wurden die Rezitativ-Verse vorgetragen. J. gehört zu den bedeutendsten Dichtern Indiens; s. 'Gitagovinda', das trotz s. kunstvollen Sanskrit doch auch viele Züge der Volksdichtung trägt, ist e. der beliebtesten ind. Dichtungen überhaupt, die nicht nur viele Nachahmer gefunden, sondern vor allem auch die ind. Miniaturmalerei ganz wesentlich befruchtet hat.

Aus: Autorenlexikon: Jayadeva, Digitale Bibliothek Band 13: Wilpert: Lexikon der Weltliteratur.
 

 



Übersetzt von Friedrich Rückert (1788-1866)

Aus: Indische Liebeslyrik
In deutscher Sprache nachgebildet von Friedrich Rückert
Eingeleitet, herausgegeben und erläutert
von Helmuth von Glasenapp
Verlag Hans Bühler jr. Baden-Baden 1948

Das Gitagovinda komplett unter:
www.deutsche-liebeslyrik.de/orient/orient_jayadeva.htm



 

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